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Ein stiller Tag verging, an dem das Blau des Himmels gegen die Nebel kämpfte, die überall aus der Luft herauswuchsen und sich wie graue Kappen über alle Zinnen der Berge stülpten.
Gegen Abend begann es zu regnen.
Förster Kluibenschädl war im Fürstenhaus zu Tisch geladen. Als er sich nach heiter verplaudertem Mahl von seinem Jagdherrn verabschiedete, erbat er sich Urlaub für den nächsten Tag. Neue Jagdsteige wären zu bauen, und da müßte die Zustimmung der weidberechtigten Gemeinde eingeholt werden.
»Sie gehen nach Leutasch?« fragte der Fürst. »Wollen Sie mich mitnehmen?«
»Wollen? Ich bitt, Duhrlaucht, es wär mir ja die größte Ehr! Aber 's Wetter, mein' ich, wird Mannderln machen. Und viel is in der Leutasch draußen net zum Sehen.«
Ettingen lächelte.
»Es wär net der Müh wert, daß Duhrlaucht naß werden.«
»Ich hoffe, das Wetter bessert sich wieder bis morgen, und dann gehen wir.«
Der Wunsch des Fürsten erfüllte sich. Die halbe Nacht währte das Strömen und Gießen, aber der Morgen brachte wieder klares Wetter, sonnig und dennoch kühl.
Auf zehn Uhr morgens war der Abmarsch nach Leutasch festgesetzt – für Pepperl ein triftiger Grund, schon um neun Uhr von der Frühpirsche heimzukehren. Wenn der Fürst das Jagdhaus verließ, hatte der Kammerdiener einen freien Tag, und da mußte ein Riegel vor die Tür der Sennhütte geschoben werden. Freilich war Pepperl mit »der da drunten« für alle Ewigkeit »fertig«. Aber er hatte nun einmal die »Verantwortigung« auf sich genommen, und solch eine Gewissenspflicht wirft ein ehrlicher Christenmensch nicht von sich ab, bevor er nicht sicher ist, daß ein anderer sie auf seine Schultern nimmt. Für diesen anderen war bereits gesorgt. »Leicht kommt er schon heut, der Brenntlinger? Da bin ich's endlich amal los, die verwünschte Sorg! Bei so was hat man Tag und Nacht kei' Ruh!«
Als Pepperl in die Hüttenstube trat, machte Kluibenschädl sich wegfertig. »Gelten S', Herr Förstner, heut därf ich mich ausschnaufen und daheim bleiben?«
»Ja, Bub! Hast a paar harte Täg hinteranander ghabt. Laß dir d' Ruh heut schmecken!«
»Ruh?« brummte Pepperl vor sich hin, während der Förster zum Fürstenhaus hinaufstieg. »Wenn ich mein Schmarren drunten hab, hock ich mit'm Gheimnis vom Wohdekastel vors Hüttentürl her. Den ganzen Tag! Da kommt mir nix aus.«
Eine Viertelstunde später wanderte Ettingen mit dem Förster über das Almfeld hinunter. Als sie an der Sennhütte vorübergingen, kam Burgi mit einem Schaff Wasser vom Brunnen und grüßte stumm, bevor sie in den Stall trat. »Ist das sie Sennerin?« fragte Ettingen. »Ein hübsches Mädel!«
»Ja, gar net übel! Aber was in dös Madel einigfahren is, dös weiß der Kuckuck. Sonst hat's den ganzen Tag allweil gsungen wie a Starl im Frühjahr. Jetzt macht's a Gsicht wie neun Tag Regenwetter. Sie muß krank sein.«
»Oder verliebt. Das gäb eine schmucke Jägersfrau.«
»Die?« Kluibenschädl machte große Augen. »Die hat ja nix!«
Ettingen lachte. »Was haben? Gehört das zum Glück? Auch hier im Dorf? Ich dachte, daß die Leute in den Bergen das Leben natürlicher nehmen als wie verbildeten Kulturkinder in der Stadt.«
»Die Bauern? O du mein! Wann a Bauer heiret, wird um jeden Kuhschwanz ghandelt. Und d' Leut haben recht. Von der Lieb hat noch keiner zehrt. Steigen d' Sorgen zum Fenster eini, so fahrt d' Liebesfreud auf'm Besenstiel zur Haustür aussi! Und nachher wird grauft und gscholten.«
Ettingen sah den Förster von der Seite an. »Sie waren wohl nie verliebt?«
»Ich?« Kluibenschädl schlug ein Kreuz. »Gott soll mich bewahren!« Dem Ton dieser Worte war es anzumerken, daß der Förster über eine böse Erinnerung seines Lebens wegsprang. »Na, na! Mein Dienst, meine Berge und mein Wald! Mehr verlang ich nimmer im Leben.«
Ettingen nickte.
»Schauen S' ihn nur an, unsern Wald! Kann's denn was Schöners gegen? Oft, wenn mich 's Leben völlig verdrossen hat, da hab ich mir gsagt: ›Marsch, Brüderl, naus in dein Wald, da verleidst es schon wieder!‹« Er lachte. »Und wahr is gwesen. Wieder lustig bin ich worden. Noch jedsmal!«
Sie waren aus dem Schatten des Waldes in die Sonne getreten und hatten die Straße erreicht, die am Ufer des rauschenden Wildbaches hinlief. Die beiden Wegstunden bis zum Dorfe vergingen dem Fürsten so rasch, daß er, als das weite Wiesental der Leutasch sich vor ihnen öffnete, verwundert fragte: »Wir sind schon da?«
Sie konnten das schöne Tal bis zu den Bergen, die es in der Ferne begrenzten, frei überblicken. Gleich blinkenden Silberwürfeln lagen die weiß getünchten Häuser zwischen dem Grün der Obstgärten, zwischen dem gelben Geröll des Bachlaufes und den Goldgevierten der reifenden Haferfelder. Auf den Wiesen waren die Leute mit dem Heu beschäftigt, und die kleinen Figürchen in Hemdärmeln, die Wagen, die beladen wurden, die Zugtiere, alles glimmerte im Sonnenglanz. Eine Kette sanft gerundeter Waldberge schloß das Wiesental, und hinter ihren zierlichen Wipfelkämmen hoben sich die Felsenpaläste des Karwendelgebirges empor, die einsame Seefeldspitze und am Horizont die langgestreckten Inntaler Berge, deren fernste Zinnen nur noch wie bläulicher Hauch in die schimmernde Luft gezeichnet waren.
Bei den ersten Häusern sagte der Förster: »Duhrlaucht! Vor wir ins Dorf einmarschieren, müssen S' mir was versprechen!«
»Was?«
»Daß ich wegen die Steigbauten allein mit'm Bürgermeister reden darf. Zu dem laß ich Ihnen net in d' Stuben eini.«
»Halten Sie es nicht für gut, daß ich als Jagdherr selbst mit den Leuten spreche?«
»Gott bewahr! Wenn sie Bauern an Jagdherrn sehen, wissen s' gleich gar nimmer, was s' verlangen müssen. Schaut wo a Zehner aussi, so reißt der Bauer d' Augen gleich auf für an Tausender. Deswegen is er net schlechter und net besser wie andere Leut. Aber einbilden tut er sich: er is der Gscheite, und der Stadtherr is allweil der Dumme. Und hat er ihn übers Ohr ghaut, so lacht er ihn hintnach aus. Jetzt gar noch a Jagdpächter! Der is eh schon der Kiniglhaas! Von dem wird abigrissen, was runter geht an Woll. Na, na! Bleiben S' davon, Duhrlaucht! Sie mit Ihrer Güt möchten schön grupft ins Jagdhaus zruckkommen! Aber a Stündl wird's allweil dauern, bis ich d' Erlaubnis für unsere Steigbauten ohne Blutgeld aussidruckt hab. Wie wollen S' Ihnen denn derweil unterhalten, Duhrlaucht?«
»Ich mache einen Spaziergang durch das Dorf. Oder – neulich am Sebensee hab ich eine junge Dame kennengelernt, ein Fräulein Petri –«
»Ah so! Die Fräuln Lo?« Der Förster blieb stehen, und es leuchtete warm in seinen Augen. »Net, Duhrlaucht, die muß Ihnen doch gefallen haben? Dös is a Frauenzimmerl, dös sogar ich gelten laß, und dös will viel sagen! Aber mit der Fräulein Lo, da wirds schlecht ausschaun heut. Die is an so eim Tag allweil im Wald oder z'höchst in die Berg droben. Die treffen S' heut net daheim, Duhrlaucht!«
»Die junge Dame hat mir manches von ihrem Vater erzählt, und das merkwürdige Schicksal dieses Mannes interessiert mich lebhaft. Es wäre mir eine Freude, die Bilder zu sehen, die von ihm noch vorhanden sind.«
»Nix leichter wie dös! D' Frau Petri hat die größte Freud, wann einer kommt und die Sachen anschaut.«
»Sind die Bilder verkäuflich?«
»Na, Duhrlaucht, da wird sich nix machen lassen. Es hätt schon oft a Sommerfrischler so a Taferl gern mitgnommen. Aber was vom Herrn Petri noch da is, dös halten die zwei Frauenleutln fest wie mit eiserne Händ.«
»Also ist die Familie in guten Verhältnissen und hat ohne Sorge zu leben?«
»Aber gwiß. Erstens amal sind s' zfrieden mit allem und verstehen sich drauf, wie man 's Leben schön sparsam einrichten muß. Und nacher haben s' auch a bißl was. Der Herr Petri is a fleißigs Mannsbild gwesen. Der hat sich in die fufzehn Jahr bei uns da schön was verdient. So gut wie der hat's net leicht einer verstanden, wie man die Marterln macht, die Votivitaferln und die Heiligen an die Häuser. Von der ganzen Gegend hat er die Kundschaft kriegt und is gut zahlt worden, acht Gulden für a Marterl, zwölfe für an ganzen Heiligen. Freilich, diemal hat er seine narrischen Zeiten ghabt und hat wochenlang bloß für ihm selber gmalen. Da hat er Sachen gmacht, auf die der Herr Pfarr net gut zum reden war. Und ich muß selber sagen – ich bin keiner von die Mucker, die meinen, es müßt alles zuknöpfelt sein bis zum Nasenspitzl – aber da hat er vor drei, vier Jahr so an Endstrumm Tafel gmalen: die Versuchung Christi – und da hat er a Frauenzimmer vor unsern Heiland hingstellt – Kreuzsakra, die hätt a Gwandl brauchen können! Und so was hängt er mitten in d' Wohnstuben eini, daß 's jeder Mensch gleich sehen hat müssen. Was sagen S' jetzt zu so was, Duhrlaucht?«
Ettingen schwieg.
»Aber da is der Pfarr eingruckt über ihn! Da hat's in dem stillen Häuserl a hitzigs Stündl geben! Z'erst is der Herr Petri grob worden. Und 's Grobsein, dös hat er doch sonst net in der Manier ghabt, is allweil a guter, freundschäftlicher Patron gwesen. Aber selbigsmal hätt er den Pfarr bald zur Tür aussigworfen. Der hat aber net auslassen und hat ihm androht, daß er ihn aussidruckt zum Dorf, wann dös Bild net wegkommt. Da müssen dem Herrn Petri doch die Grausbirn aufgstiegen sein. Gahlings hat er 's Gsicht in d' Händ einidruckt und hat zum weinen angfangen.«
In Gedanken nickte Ettingen vor sich hin, als verstände er diese Tränen und die zerbrochene Seele, aus der sie geflossen waren. »Und das Bild?«
»Dös is verschwunden. Was er angstellt hat damit, dös weiß ich net. Gsehen hab ich's nimmer derzeit. Und a Glück war's für'n Herrn Petri, daß er selbigsmal in der Feuerkapellen den schönen heiligen Laurenzi am Bratspieß gmalen hat, dem aus'm Göscherl raus a Bandl geht, wo draufgeschrieben is, was der Heilige im Martyri gsagt hat zu die Schindersknecht: ›Schüret das Feuer noch heißer, es brennt mich nicht, denn mir ist kühl!‹ Ja, der schöne Laurenzi, der hat den Pfarr wieder ausgsöhnt. Aber wissen S', Duhrlaucht – der Pfarr hat mir's selber gesagt – dös unschenierte Frauenzimmer hätt ihn noch gar net amal so arg verdrossen. Was den Pfarr am schiechsten g'ärgert hat, dös war der Teifel. Der is viel schöner gmalen gwesen als wie der Heiland. Und dös geht ja doch net, daß eim der höllische Versucher besser gfallt als wie der Herrgott. Na, na! Der Herr Petri wär gscheiter bei seine Heiligen blieben. Auf die hat er sich verstanden. Schauen S', Duhrlaucht, da kommt grad so a Haus, dös er gmalen hat!«
Ein großer Bauernhof trat mit der fensterreichen Giebelfront an die Straße vor. Bis unter das Dach war die Wand mit Darstellungen aus dem Leben der heiligen Maria geschmückt.
Ettingen mußte etwas anderes erwartet haben, als es hier zu sehen gab; der erste Blick auf die bunte Bilderei enttäuschte ihn so sehr, daß er schweigend den Kopf schüttelte. Diese Heiligen mit ihren blauen und grünen Mänteln, mit ihren roten Gesichtern und schwefelgelben Strahlenkronen, mit ihren eckigen Bewegungen und grellen Farben unterschieden sich wenig von den handwerksmäßigen Malereien, die in den Gebirgsdörfern zahlreich auf den Wänden der Häuser zu finden sind. Hatte der Künstler seine Sache nicht besser verstanden? War er von jenen Unglücklichen einer, die zum Schaffen allen Willen haben, und denen nur eines fehlt: die Kraft? Hatte er sich, ein schwärmerischer Stümper, in die Rolle des verkannten Genies hineingeredet, für dessen Geisteshöhe und Seelentiefe der »Unverstand des Pöbels« zu kurze Augen hat – eine Rolle, in der ihn alle verlachten, zwei Menschen ausgenommen: die Frau, die in ihm den Gatten liebte, und das Kind, das in ihm den Vater vergötterte?
Während Ettingen in Gedanken diese Fragen stellte, fiel seinem Blick ein nebensächliches Detail auf, das ihn fesselte: ein kleines, stilisiert geflecktes, drolliges Hündchen, das die flüchtende Maria am Mantel zurückhalten will – ein Hündchen von einer Rasse, die der Natur nicht eingefallen war, nur der spielenden Laune einer krausen Künstlerphantasie. Und wie dieses unmögliche Tierchen lebte! Wie es die Füße zornig in den Sand stemmte! Wie es an dem Mantel zerrte, als ob es sagen wollte: »Du heilige Frau, wenn auch die Menschen dich verkannten, ich, das Tier, ich fühle, wer du bist, und möchte dich bitten, dich zwingen: bleib!«
Und dort das kosende Taubenpaar! Oder waren es weiße Raben? Wie natürlich ihre Schwingen sich bewegten! Mit wie zärtlichem Leben sie sich aneinanderschmiegten! Und jener Star? Oder war's ein Spatz, der in die Tinte gefallen? Wie er wütend eine Blumenknospe der Girlande zerzauste, die sich in sonderbaren Schlangenwindungen um alle figuralen Szenen ringelte! Das waren Blätter von seltsamer Form, Blumen von merkwürdiger Farbe und wunderlicher Gestalt – Blumen, die sich ansahen wie werdende Vögel und Schmetterlinge –, und dennoch waren es Blumen, die auf gesunder Erde gewachsen und nicht nur zu blühen, auch zu duften schienen.
Wer dieses naiv gedankenvolle, so unwirkliche und doch so lebendig berührende Beiwerk schaffen konnte, mußte auch die künstlerische Kraft besessen haben, um die Gestalten dieser Heiligen leben und sprechen zu machen. Und wenn er sich selbst verleugnet und diesen schreienden Unwert gepinselt hatte, weshalb tat er es? Weil er sich nach dem Geschmack der Besteller richten mußte, um zu verdienen? Oder weil er in Selbstironie sich sagte: »Jene anderen, die mich verstießen, mußten nehmen, was ich zu geben hatte – euch aber, ihr Einfältigen des Geistes, will ich geben, was ihr verlangt von mir!« Ob nun das eine oder das andere der Fall war – die Arbeit, die der weltflüchtige Künstler auf der Wand dieses Bauernhauses geleistet hatte, mußte ein Martyrium gewesen sein.
Je länger Ettingen die grellen Schildereien und ihr schönes Beiwerk betrachtete, desto deutlicher erwachte in seiner Erinnerung jedes Wort, das er draußen am Sebensee gehört hatte. Und aus dem Anblick dieser Farben floß eine Stimmung auf ihn über, die er empfand wie einen Schmerz. Er wandte sich ab und folgte schweigend der Straße.
Der Förster musterte das nachdenkliche Gesicht seines Herrn. »Mir scheint, Duhrlaucht, die Heiligen haben Ihnen net gefallen?«
Da lächelte Ettingen wieder. »Sie gefallen doch dem Pfarrer und gewiß auch dem Bauer, der sie bezahlte. Da sind sie wohl so, wie sie sein müssen. Aber sagen Sie, lieber Förster – der Teifel auf jenem Bilde war so schön, daß er den Pfarrer ärgerte?«
»Ja! A bißl a verruckts Frauenzimmer hätte sich in so an Satanas über Hals und Kopf verlieben können!«
»Sie sind doch ein guter Christ?«
»Ich?« der Förster war über diese Frage ganz verblüfft. »No ja, es tut's! Der Mensch is a schwachs Röhrl. Aber gar so leicht laß ich mich net biegen von der Sünd, und mit Wissen tu ich nix Unrechts.«
»Wenn nun der Teufel erschiene, um Sie zu versuchen?«
»Mar und Joseph! Duhrlaucht! Malen S' ihn net an d' Wand!«
»Und er käme, wie ihn der Pfarrer von der Kanzel herab den Bauern schildert: mit schwarzer Kaminfegerfratze und langer Zunge, mit Ziegenhörnern, Kuhschweif und Pferdefüßen? Würden Sie sich von dem verführen lassen?«
»Na, Duhrlaucht! Da möcht ich gschwind sagen: ›Pfui Teufel, fahr ab, du!‹«
»Nun also? Muß denn die Versuchung nicht schön sein, wenn sie uns gewinnen will? Zu unterlassen, was wir selbst für abscheulich halten, das ist doch kein Verdienst. Wenn wir uns einer Sünde in die Arme werfen, welche Entschuldigung hätten wir denn, wenn nicht die eine: daß die Sünde schön war?« Ettingens Stimme bebte, als hätten seine Worte noch einen anderen Sinn als nur jenen, den der Förster hören konnte.
Der runzelte die Stirn, ein Zeichen, daß ihm ein Gedanke zu schaffen machte. Dann rückte er verlegen den Hut. »Duhrlaucht! Jetzt haben S' mich auf ebbes bracht. Aber so is der Mensch! Zu meine Jagdgehilfen kann ich allweil sagen: z'erst denken und nachher reden! Und ich selber hab jetzt grad so blind in Tag einigredt. Jetzt schaut sich die Sach mit dem Herrn Petri seiner Versuchungstafel anders an. Dös is ja grad, als ob er sagen hätt wollen: ›Schauts amal her, so wunderschön is die Verführung zu unserm Heiland kommen, und dengerst hat er sich zruckghalten – da nehmts enk a Beispiel dran!‹ Ja, meiner Seel, da is eigentlich der Herr Petri viel christlicher gwesen als wie der Pfarr!«
Ettingen schien auf die Worte des Försters nicht mehr gehört zu haben; plötzlich verhielt er den Schritt und sagte erregt: » Das hier? Das muß das Haus sein! Nicht wahr?«
Sie hatten einen grünen Staketenzaun erreicht; gleichlaufend mit einer gestutzten Holunderhecke umschloß er einen kleinen Besitz, der sich zwischen den anderen Häusern und Gehöften ausnahm wie ein schön gefaßter Schmuckstein neben den grauen Kieseln der Straße. Das Haus, das im Garten stand, war früher wohl ein bescheidener Bauernhof gewesen. Das verriet noch die an den Wohntrakt angebaute Tenne. Aber es hatte größere Fenster und ein grünliches Schieferdach bekommen, dessen Kanten und Firste geschmückt waren mit wunderlichen Tierzieraten. Das Unterdach und die vorspringenden Balken, das Tennentor, die Kreuzstöcke und Fensterläden waren blaugrün bemalt und mit weißen und blaßroten Linienornamenten ausgezeichnet. Vor allen Fenstern, durch deren spiegelnde Scheiben die schneeweißen Vorhänge herausleuchteten, waren zierlich gegitterte Blumenbretter mit blühenden Stöcken angebracht, und daneben verschwanden die weißen Mauern unter dem Grün der sorgsam gezogenen Obstspaliere, deren Zweige von der Erde bis zum Schatten des Daches mit reifenden Früchten behangen waren.
Heiter und farbig, schmuck und freundlich erhob sich das kleine Haus wie auf einem breiten Sockel blühender Blumen. Geranienbüsche zogen sich am Fuß der Mauern hin, und der Vorgarten war in vier große Beete geteilt, mit Rosen und Nelken in allen Farben. Zwei lange Blumenbeete liefen zu beiden Seiten des Hauses gegen den weiten Hintergarten, zwischen dessen Obstbäumen und Gemüsebeeten eine große schattige Laube und ein luftiges Sommerhäuschen stand, das ganz aus wunderlich gewachsenen Ästen geschränkt und geflochten war. Silberweiße Kieswege schieden die Beete voneinander und umzogen in der Mitte des Vorgartens ein mit Tropfsteinen ausgelegtes Wasserbassin, in dem zwei murmelnde Brünnlein über eine moosige Felsgruppe niederrannen. Aus diesen Felsen erhob sich ein hoher, bunt bemalter Balken und trug das Taubenhaus, das mit seinen Türmchen und Erkern sich ansah wie das Modell einer gotischen Burg. Überall in den Kronen der Bäume und auf schlanken Stangen waren Starenhäuschen und Meisenkästen angebracht, und mit dem Gezwitscher der hundert Vögel, die hier nisteten, mischte sich das Geflatter und Gurren der weißen Tauben.
Wie einen Gedanken schließend, der ihn auf dem Wege begleitet hatte, schüttelte Ettingen den Kopf und murmelte: »Nein! So wohnt kein Verzweifelter! So wohnen nur zufriedene Menschen, die ihr Glück gefunden und über die stille Schönheit ihres Lebens hinaus keinen Wunsch mehr haben.«
Der Förster wollte in den Garten treten, blieb stehen und sagte: »Ich bitt schön, Duhrlaucht, wenn d' Frau Petri daheim is – tun S' das Frauerl net viel um ihren Seligen fragen! Da wird ihr 's Reden a bißl hart.« Er ging auf das Haus zu und sprach eine Magd an, die mit eisernem Rechen die Wege ebnete. Dann kam er wieder. »Es is kein Mensch net daheim, außer der Hausmagd.« Er öffnete vor seinem Herrn das grüne Gitter. »'s Fräuln is in der Fruh vom Sebensee heimkommen, aber sie is schon wieder fort, in d' Fischzucht ummi. Und d' Frau is heut auf Innsbrucki abi, ihr Studenterl heimholen in d' Vakanz.«
»Fräulein Petri hat einen Bruder?«
»Ja! A vierzehnjährigs Bürscherl. Gustl heißt er. Der is den dritten Winter auf'm Gymnasi drunt. A liebs Mannderl! Und gsund. 's richtige Gebirgsblut, ja! Is a Leutascher! Gleich nach'm ersten Jahr is er kommen, wie 's heraußen waren. Und ganz seim Vatern schlagt er nach. Wie das Büberl den Wald schon gern hat! Allweil draußen mit der Schwester! Und kaum sieht er ein von uns Jager, da hängt er eim schon am Kittel: ›Ich bitt schön, Herr Förster, darf ich mit?‹ Und anschauen tut er ein' mit seine Guckerln – da kannst net na sagen!« Sie hatten das Haus erreicht, und der Förster sprach die Magd an: »So, Nanni, jetzt tust mir den Herrn schön rumführen im ganzen Haus und zeigst ihm jedes Taferl!«
»Wohl!« sagte das Mädel und lehnte den Rechen an das Spalier. Es war eine derbe Bauerndirn mit unschönem, grobknochigem Gesicht, aber mit hellblauen Augen, die gutmütig und zufrieden blickten; sie war einfach und doch mit auffallender Sauberkeit gekleidet und trug die Haare so fest geflochten, als wären die Zöpfe aus Eichenholz geschnitten.
Der Förster verabschiedete sich mit dem Versprechen, seinen Herrn in einer Stunde wieder abzuholen.
Neben der Schwelle streifte die Magd ihre Schuhe ab, klopfte den Sand von den blauen Strümpfen, schlüpfte in ein Paar Strohpantoffeln, und die Haustür öffnend, sagte sie: »So, Herr, kommen S'!«
Als ihr Ettingen in den Hausflur folgen wollte, gewahrte er über der Tür, schon halb von den Zweigen des Spaliers überwachsen, eine lateinische Inschrift – drei Worte: Hic rideo ego! – »Hier lache ich!«
Welche eine Stunde reiner und tröstender Freude mußte es für jenen Weltflüchtigen gewesen sein, als er auf der Schwelle dieser schönen Heimstatt sich sagen konnte: »Das Lachen der anderen, das mich marterte, ist fern, und ich hör es nicht mehr. Hier lacht nur einer. Ein Glücklicher, der die Ruhe fand! Und der bin ich.«
Ettingen nahm den Hut ab und trat ins Haus.
Schon im Flur hing bis an die Decke hinauf eine Leinwand neben der anderen, jede von einer schmalen, braun gebeizten Holzleiste umzogen: Skizzen, unvollendete Studien und leicht untermalte Entwürfe, die oft kaum das Motiv des Bildes erkennen ließen, das hier hätte entstehen sollen. Blumenstudien wechselten mit Luftstimmungen, Felspartien mit Waldszenen, naturtreue Tierskizzen mit mythologischen Träumereien. Manche Leinwand zeigte deutlich, wie geduldig und liebevoll sich der Künstler in das kleinste Detail eines Modells vertieft hatte. Oft war die gleiche Blume ein dutzendmal nebeneinander gemalt, in verschiedenem Licht, frisch erblüht mit Knospen, mit entblättertem Kelch, im Beginn des Welkens, mit gebrochenem Stengel. Man sah, wie aufmerksam der Künstler die Natur beobachtet hatte, um sie seinen Phantasiegebilden dienstbar zu machen. So war auf einer Leinwand ein schwarz und rot gefleckter Bergsalamander abgebildet, wie er mühsam aus dem Gras auf eine Steinscholle kletterte – und daneben, größer, doch ganz mit der gleichen Körperbewegung, suchte ein fetter Triton, der triefend dem Meer entstieg, ein Riff zu erklimmen. Eine andere Skizze zeigte eine graue Hauskatze, die mit gekreuzten Pfoten liegt und funkelnden Blickes eine grüne Mücke verfolgt, die ihr um die Nase summst; daneben der Entwurf einer Sphinx, die aus der Waldschlucht einen Wanderer kommen sieht, den es nach Rätseln gelüstet. Dieser tragische Vorwurf war in einer Ecke der Leinwand lustig parodiert: die Sphinx, und vor ihr, klein wie die Mücke, ein grüner Polizist mit der Pickelhaube, der auf eine Tanne kletterte, um dem lächelnden Ungeheuer einen Polizeibefehl vor die Nase zu halten.
Langsam ging Ettingen von einer Leinwand zur anderen, und inzwischen stand die Magd geduldig und still in einer Ecke und zog immer wieder den Saum der Schürze durch die Finger. Als Ettingen das letzte Bild betrachtet hatte, öffnete sie vor ihm die Tür eines Zimmers.
»Der Frau Petri ihr Stüberl.«
Ein bescheidener Raum mit schlichtem Gerät. Durch eine offene Tür sah man in das Nachbarstübchen, das den jungen Feriengast, das »Studenterl«, zu erwarten schien, denn auf weiß gedecktem Tisch prangten ein herrlicher Rosenstrauß und ein mandelgespickter Kuchen, von einem Kränzlein frischer Bergblumen umschlungen.
Auch hier, in beiden Räumen, waren alle Wände mit Bildern bedeckt: tanzende Nymphen, spielende Najaden; ein Faun, der die Zotten seiner Bocksfüße kämmt und dazu ein Liedchen pfeift; ein Tritonweibchen, das in eine Fischreuse geraten ist und den Ausweg nicht mehr findet; auf weißer Marmorsäule ein Hermeskopf, dem eine Natter auf die Schulter kriecht; der von Ekel geschüttelte Gott ist festgewachsen auf dem Stein und kann nicht fliehen, er hat keine Arme, um die giftige Häßlichkeit von sich abzuwehren.
Fast eine ganze Wand war von einem großen Gemälde bedeckt: von einem Triptychon, dessen drei Bildflächen die Hauptszenen einer phantastischen Geschichte zeigten, während die Zwischenszenen mit blassen Farben auf die breiten Leisten der Holzumrahmung gemalt waren. Eine städtische Gesellschaft junger Mädchen und modisch gekleideter Jünglinge hat sich auf einer Bergpartie im Walde verirrt; sie nehmen das Unglück von der heiteren Seite und trösten sich mit einem tollen Ringelreihen um die Bäume; eine übermütige Schöne mit koketten Augen ist ihrem Galan, der sie haschen wollte, davongeflattert – wollte sie ihm wirklich entfliehen? oder wollte sie ihn nur in das einsame Dunkel des Waldes locken? Plötzlich sieht sie sich allein, verirrt sich noch weiter und gerät vor eine tief in den Berg gesenkte Höhle, deren blaugrüne Dämmerung wie ein Geheimnis ihre Neugier weckt; scheu und dennoch lächelnd tritt sie ein und findet im Zwielicht der Höhle einen schlafenden Zentaur, halb bedeckt vom Geröll der Felsen, halb überwachsen von Moos und Geschling; noch redet aus ihren Zügen der erste Schreck, den sie empfunden, aber schon regt sich in ihr die Spottlust der klugen Städterin und der prickelnde Reiz, dieses nie Gesehene, dieses unglaublich und unmöglich Scheinende auf seine Wirklichkeit hin zu prüfen; sie zupft den Schlummernden am Bart; der Schläfer regt sich nicht; sie besteigt seinen Rücken und schlägt mit dem Fächer auf den Scheitel; da erwacht der Zentaur und bäumt sich; in tollen Sprüngen trägt er die entsetzte Reiterin durch den Wald und über steile Felsen, bis sie den Halt verliert und stürzt; Groll in den gefurchten Brauen und doch einen Blick des Erbarmens unter den Wimperschleiern seiner Augen betrachtet er die Zerschmetterte, während ihre schreckensbleichen Gefährten schon heraufklimmen durch den Bergwald; langsam, mit dem buschigen Schweif die Flanken peitschend, steigt der Zentaur zum Grat des Berges empor und schaut von einem schroffen Felsen ins Tal hinunter, in dessen Tiefe man die blutige Leiche hinausträgt durch den stillen Wald.
Lange stand Ettingen vor diesem Bild, erfüllt von fragenden Gedanken. Erzählen zu wollen, und gleich eine ganze Tragödie, ob das nicht außerhalb der Grenzen lag, die der darstellenden Kunst gezogen sind? Aber er fühlte doch den Eindruck dieses Werkes, das klar und deutlich zu ihm redete. Und ist denn in aller Kunst die reine, tiefe Wirkung nicht ein Beweis? Hat sie denn einen anderen für ihren Wert? – Und wie dieses Bild wohl entstanden sein mochte? War es nur die Ausgeburt einer träumenden Künstlerphantasie? Oder eine Tat des Zornes gegen jenen irrenden »Unverstand«, der nur das Greifbare glauben will und mit Spott und Gelächter beleidigt, was seinem banalen Urteil sich nicht erschließen will auf den ersten Blick?
»Ja, Herr«, sagte die Magd, und das kam fast wie eine Antwort auf Ettingens stumme Frage, »dö Gschicht da, dö is fein passiert! Dös hat mir der Herr Petri selm verzählt. Und solchene Roßmanner gibt's fein, ja – in Griechenland drunt! Aber gelten S', da sind S' noch net hinkommen?«
»Doch.«
Die blauen Augen der Magd erweiterten sich. »Und haben S' solchene Roßmanner gsehen?«
»Nein. Aber dein Herr hat sie gesehen. Und ihm glaub ich auch, daß sie leben.«
»Gelten S', ja? Der hat net lügen können!«
»Der? Und lügen? Nein! Hätte er lügen können, er wäre in der Stadt geblieben und hätte gute Geschäfte gemacht.«
»So? Meinen S'?« Die Magd studierte. Aber sie gab die Mühe, das Rätsel dieses Wortes zu lösen, gleich wieder auf. »Jetzt geben S' acht, jetzt kommt erst 's Allerschönste, ja!« Sie ging in den Flur und öffnete die Tür des Wohnzimmers. »Da herin, da haben wir die heiligen Sachen, wissen S', weil der Herr Pfarr diemal zuspricht in der Stuben.«
Ettingen trat in einen hellen, freundlichen Wohnraum, dessen behagliches Gerät dem Gaste zu sagen schien: »Hier fühle dich wohl!« In der Herrgottsecke hing statt des Kreuzes ein Bild: auf weißem Grunde der Kopf des Erlösers, ohne Dornenkrone und Heiligenschein, ein schmales, bleiches, kummervolles Gesicht, die Wangen halb bedeckt von den schlicht fallenden Haarsträhnen, mit großen und tiefen Augen, die schmerzvoll in weite Ferne zu blicken schienen. – Ob dieser Kopf nicht eine Studie zur »Versuchung« war?
Sonst hingen im Zimmer nur drei Bilder. Zwei kleinere, die nicht vollendet schienen: eine »Flucht nach Ägypten«, von stiller und rührender Stimmung – Maria sitzt erschöpft an einen Baum gelehnt, und während Joseph mit Anstrengung das harte Brot zerbricht, zieht das mit Schaum bedeckte Maultier grasend in den Wald; und eine »Heilige Nacht« –Maria mit dem Kindlein im Stall bei Kuh und Esel, denen ein alter Hirte das Futter vorschüttet, während die Tiere nicht an Fraß denken, sondern die Köpfe vom Barren abkehren und ihre stummen Glotzaugen auf das von Schimmer umflossene Kindlein richten.
Ein drittes, größeres Gemälde füllte die ganze Wand zwischen dem Ofen und der Tür einer Nebenstube. Beim Anblick dieses Bildes glitt ein leiser Ausruf der Bewunderung über Ettingens Lippen. So tief ergriff ihn der Gedanke, der aus dieser Leinwand redete und mit naiver Allegorie zu ihm sagte: »Wahrhafte Liebe fühlt Erbarmen auch für die häßliche Mißform des Lebens, mildes Denken und reine Güte versöhnen sich auch mit aller Roheit der ungezügelten Natur.«
Das Bild stellte eine von wüstem Dorngestrüpp umzogene Wiese dar, in der Blüte des Frühlings. Mitten in leuchtenden Blumen sitzt ein Knabe, das nackte, zarte Körperchen wie Silber schimmernd; aus einer Wolkenlücke des Himmels fällt ein breiter Strahl der Sonne auf ihn nieder; zwei verflochtene Dornzweige des nächsten Busches ragen in diesen Glanz und schweben wie ein schimmerndes Kränzlein über dem Scheitel des Knaben; kein anderes Zeichen sonst – nur diese krönenden Dornen sagen: das ist Jesus, welcher leiden wird um seiner Liebe willen. Und diese Liebe redet schon aus dem Blick und Lächeln dieses Kindes, das seltsame Gesellschaft fand. Aus den Dornbüschen, aus Erdlöchern und Sumpftümpeln ist eine Schar von Faunkindern hervorgekrochen, kleine, häßliche Bürschlein mit plumpen, unentwickelten Bocksfüßen und schmutzig wie Ferkel, die sich im Schlamm gewälzt. In Schreck oder Neugier starren die einen auf das holde Wunder des göttlichen Knaben, andere greifen nach Steinen und heben sie zum Wurf – nur einer sitzt von den erregten Brüdern entfernt, sucht eine Dornranke von sich abzulösen, die ihm ihre Stacheln in die Hüfte bohrte, und der Schmerz, der aus seinem verzerrten Gesichte redet, macht ihn gleichgültig gegen alles andere. Diesem Leidenden gilt der gute Blick des Knaben, während er allen anderen, die ihn fürchten oder bedrohen, herzlich die Arme öffnet: »Kommet zu mir, ich will euch lieben!«
Keines von den anderen Bildern, die Ettingen gesehen, hatte so klar wie dieses in ihm die Frage geweckt: »Wie war es möglich, diesen Künstler zu verkennen, über ihn zu lachen?«
Mußte der Wert, der hier aus jeder Leinwand redete, nicht jeden überzeugen? Oder hatte sich der Genius dieses Künstlers erst nach seiner Weltflucht so reich entwickelt, aus der Bitterkeit seines Schicksals heraus, in der stillen Ruhe, die er in diesem Winkel der Berge gefunden, im Schweigen des Waldes? Hatte er in früheren Jahren denen, die ihn verlachten, nichts anderes zu bieten vermocht als die Form ohne den Kern, ohne die Gedankenfülle, die alle Wunderlichkeiten seiner Technik übersehen ließ? Denn bei aller Wirkung, die Ettingen fühlte, mußte er zugestehen, daß diese Bilder für den ersten Blick etwas Befremdendes hatten, etwas kindlich Unbeholfenes, das mit dem dargestellten großen Gedanken sich oft in einem Widerspruch befand, über den man wohl den Kopf schütteln konnte. Es war an allen Bildern etwas Flaches und Unkörperliches, es fehlte die Tiefe in der Luft, jedes Detail war gleichwertig neben das andere gesetzt, als hätte es der Künstler nicht übers Herz gebracht, das Nebensächliche zum Vorteil des Wichtigeren zu verkleinern und abzutönen. Auch lag ein bläulichgrüner Hauch wie zarter Schleier über allen Farben, auch über dem hellsten Licht – wie über einem Spiegelbild in grünem Wasser –, und das gab den Bildern etwas Naives, Vergilbtes und Altertümliches. Wollte das der Künstler so? Oder konnte er nicht anders? Hatte er Augen, die anders organisiert waren, als es sonst die Augen der Menschen sind? Oder sah er richtig – er verstand und kannte doch die Natur wie keiner – und ging mit dem Geschauten, bevor es durch seine Seele den Weg auf die Leinwand fand, diese seltsame Wandlung vor sich, beider alles Häßliche sich verschönte und alles Wirkliche die Form des Niegewesenen und des Erträumten gewann?
Aber wie man über diese äußerliche Seltsamkeit auch denken mochte – der gute, reine, tief empfindende Mensch, den man aus der wunderlichen Sprache dieser Linien und Farben reden hörte, war denn nicht der die Hauptsache? Die klare Schönheit seiner Gedanken, die Wärme seines Herzens, dieses Träumen und Lächeln, dieses Stille und Schlichte, dieses rührend Kindliche? Mußte das nicht jeden überzeugen, gewinnen und bezwingen? Oder gehörte die rechte, stille Stunde dazu, um solche Sprache zu hören, sie zu verstehen? –
Hätte Ettingen vor diesen Bildern das gleiche gedacht und empfunden, wenn er im Lärm und Trubel einer Ausstellung an ihnen vorübergegangen wäre, im Kopf den klappernden Alltag, beeinflußt vom Lachen und Achselzucken der Unverständigen? Wie mag da manch einem Künstler bitteres Unrecht geschehen, das bitterste gerade jenen, die das Beste zu sagen haben, und deren Stimme immer anders klingt als die Stimme der großen Schreier auf dem Markt, die allen Ohren schnell geläufig ist!
Solch ein Unrecht hatte das Urteil der Welt an Emmerich Petri begangen. Sie hatte über den merkwürdigen Hut gelacht, den er trug, und dabei versäumt, ihm durch die Augen ins Herz zu sehen. –
War der Magd die schweigende Zeit, die Ettingen vor diesem letzten Bilde stand, zu lang geworden? Oder hatte sie es ihm vom Gesicht abgelesen, was er von den »Taferln« ihres Herrn dachte? »Gelten S'«, sagte sie plötzlich, »unser Herr hat's können! Ja! Und kommen S' – da därf ich sonst kein' net einiführen –, aber Ihnen muß ich schon zeigen, wie er ausgschaut hat.« Sie öffnete die Tür der Nebenstube. »Da hängt er, schauen S', wie er sich selm verkonterfeit hat. Dös is der Fräuln Lolo ihr Stüberl. Vor zwei Jahr auf Weihnächten hat sie's kriegt von ihm, die Taferl da.«
Ettingen zögerte einzutreten, und lächelnd blickte er von der Schwelle in den Raum. Es war von allen Zimmern, die er gesehen hatte, das bescheidenste. Ein schmales Stübchen, mit einem einzigen Fenster nur. Weiße Wände, das eiserne Bett mit weißem Tuch überhangen, ein kleiner Tisch mit einfachem Holzstuhl vor dem Fenster, durch das die Blumen hereinleuchteten, der Tür gegenüber ein Pianino und ein Holzgestell mit Notenheften, neben der Tür ein bis zur Decke reichendes Bücherregal und an der Rückwand des Stübchens eine große schwere Kommode, über der, als einziger Schmuck des Raumes, das Selbstporträt des Künstlers hing, umgeben von einem Kranze frischer Edelrosen. Und dieses Bild war für Ettingen ein neues Rätsel. Er hatte ein schmales, fein geschnittenes Gesicht zu sehen erwartet, einen Kopf, der auf einen Musiker raten ließ, mit bleichen Wangen, tiefliegenden Augen und langem Haar. Und da sah er einen derben, grobknochigen Kopf mit dichtem, kurz geschnittenem Braunhaar und starkem Bart, mit hoher, kräftig gewölbter Stirn und gesundem, sonnverbranntem Gesicht, dem das schöne Antlitz der Tochter in keinem Zuge glich. Nur die Augen, wenn sie auch von anderer Farbe waren, hatten den gleichen träumerischen und warmen Blick, und um die streng geschnittenen Lippen spielte das gleiche sinnende und milde Lächeln.
Das Bild war nur wenige Jahre alt; aber nach Zeichnung und Farbe hätte man auf ein Werk aus der Zeit des jüngeren Holbein raten können. In einer Ecke des graugrünen Hintergrundes sah man ein verschnörkeltes weißes Schildchen, das eine rote Inschrift in lateinischer Sprach trug: »Emmericus Petri in seinem fünfzigsten Lebensjahre. Eines Menschen Gesicht ist seine Seele nicht. Willst du das Wesen seines Geistes erkennen, so betrachte seine Taten und seine Kinder.« Wie stolz mußte der Mann auf seine Tochter gewesen sein, um auf diese Leinwand schreiben zu dürfen: »Betrachtest du, was ich schuf, so wirst du mich nur halb erkennen – ganz wirst du nur an meinem Kinde sehen, wer ich war!«
Während Ettingen noch vor dem Bilde stand, kam der Förster zurück, und zwar in übelster Laune. Er hatte die Erlaubnis für die Steigbauten mit schwerem »Blutgeld« vom Bürgermeister erkaufen müssen, der allen Überredungskünsten des Försters nur immer die eine Weisheit entgegengehalten hatte: »Der Herr Fürst kann zahlen! Der hat's!« Bei dem Ärger, den Kluibenschädl von diesem »Scharfrichtergang« mitbrachte, hatte er weder Sinn für die »Taferln« des »Maler-Emmerle«, noch für die Stimmung seines Herrn, und schwatzte wortreich seinen Zorn heraus. Ettingen schwieg zu allem und warf, bevor er das Stübchen verließ, noch einen letzten Blick über die Wände und alles Gerät.
Draußen im Flur, als der Förster schon in den Garten getreten war, fragte Ettingen das Mädchen: »Haben Sie mir alles gezeigt? Ich habe ein Bild nicht gesehn, von dem mir erzählt wurde: ›Die Versuchung Christi‹?«
»Na, Herr, da weiß ich nix!« sagte die Magd. Aber sie wurde rot.
Also existierte das Bild noch!
Ettingen trat ins Freie, blickte wieder zu der Inschrift hinauf, die über der Haustür stand, und nickte vor sich hin, als wollte er sagen: »Ich sah, was du schufst, und kenne dein Kind. Nun weiß ich, wer du warst, und weiß: du hattest ein Recht zur Freude!«
Da bot ihm die Magd eine schöne dunkle Rose und sagte verlegen: »Da, Herr! Unser Fräuln, wenn s' daheim is und einer kommt, schenkt s' allweil a Blüml her!«
Lächelnd nahm er die Rose. »Ich danke Ihnen.«
Er wollte der Magd eine Banknote reichen. Aber sie schüttelte den Kopf, nahm den Rechen von der Wand und begann auf dem Kiesweg die Trittspuren zu ebnen, die der Förster mit seinen schweren Schuhen zurückgelassen hatte.
Ettingen, dem das Blut ins Gesicht gestiegen war, zerknüllte den Schein in der Hand. Und als sich draußen auf der Straße ein alter, weißbärtiger Bauer, der im Schatten der Holunderhecke saß, etwas schwerfällig erhob und den mürbem Deckel zog, warf ihm der Fürst die Banknote zu. Der Alte riß die rot geränderten Augen auf. Dann versuchte er mit seiner heiseren, zittrigen Stimme einen Jauchzer. Das machte den Förster aufmerksam. »Ui jögerl, Duhrlaucht! Haben S' dem Brenntlinger was geben? No, ich dank schön! Der kauft sich wieder an saubern Dampus dafür.« Nach wenigen Schritten kamen sie zu einer Stelle, an der sich von der Straße ein Fußweg gegen die Felder abzweigte. »Gehen wir lieber über d' Wiesen naus!« meinte der Förster. »'s Dorf haben S' ja gsehen. Und drüben im Weiherwald, bei der Fischzucht, kriegen wir den schönsten Schatten.« Sie wanderten über die vom frischen Heugeruch umdufteten Wiesen hin. Immer wieder blickte Ettingen nach den im Sonnenglanz verschwimmenden Baumkronen zurück, über deren leuchtendes Gezweig sich blinkend das grüne Schieferdach erhob. Dann plötzlich unterbrach er das Schweigen: »Sagen Sie mir, wie starb dieser Mann?«
»Der Herr Petri? Ja, Duhrlaucht, dös is a rechts Unglück gwesen! Der Mann is dagstanden wie a Baum im besten Saft. Und den hat d' Nächstenlieb am Gwissen. Im letzten Herbst war's – da is in der Leutasch und im Geißtal a Wolkenbruch niedergangen, daß ich meiner Lebtag so war net mitgmacht hab. Wie S' da die Wiesen sehen, is alles an einziger Bach gewesen, mit Gröll und Baumstämm, die's dahertrieben hat. Und droben, wo sich 's Tal a bißl zuspitzt, da war's am ärgsten! Zwei Häuser hat's mitgnommen, gleich am ersten Abend. Und am andern Tag, wie 's Wasser von die Geißtaler Berg herkommen is, da hat ein' 's Grausen packt. Wie die Verruckten sind d' Leut umanander grennt und haben völlig ihr bißl Verstand verloren. Bloß an einziger hat 's Köpfl in der Höh bhalten.«
»Herr Petri!«
»Ja! Gschafft hat er wie a Holzknecht, und Ratschläg hat er gfunden, wie man's dem traumhappeten Mannderl gar net zutraut hätt! Sell droben, wo 's Geißtal anfangt und von links und rechts zwei Waldhügel einisteigen gegen 's Wasserbett – da, hat er gsagt, da müssen wir an Riegel legen und 's Wasser brechen, damit's den Gewalt verliert. Mit die ersten Leut, die beinander waren, hat er d' Arbeit gleich angfangt, und derweil is d' Fräuln Lo im Galopp auf ihrem Muli von eim Haus zum andern gritten und hat aus'm ganzen Tal alle Mannsleut zammgrufen, daß in der ersten Nacht noch über zweihundert Menschen bei der Arbeit waren! Am linken Ufer vom Wildbach is der Herr Petri gstanden mit seine hundert Leut. Und mit eim Sprachrohr, dös er aus einer Baumrinden gmacht hat, hat er 's Kommando ummi gschrien über 's Wasser, wo die andern hundert gschafft haben. D' Weibsbilder haben 's Pech und 's Staudenwerk zammtragen müssen und 's Feuer unterhalten, daß man zur Arbeit gsehen hat in der Nacht. Und d' Manner und die Buben haben die Bäum gschlagen zum Wehr. In der Fruh um zehne, am zweiten Tag, da haben die ersten Bäum im Wasser schon ghalten, und wie's auf'n Abend gangen is, hat man schon hoffen können: 's Wehr verhebt den ärgsten Schub. Aber d' Leut sind fertig gwesen mit ihrer Kraft, und schier mit Gwalt hat der Herr Petri die letzten noch bei der Arbeit halten müssen. Wo's am schiechsten ausgschaut hat, da is er allweil vorndran gwesen. ›Mut, Leut, nur Mut‹, hat er allweil gschrien und hat schon kaum nimmer reden können, ›nur diese letzte Nacht noch, dann ist geholfen!‹ Und recht hat er bhalten! Am dritten Tag in der Fruh hat sich 's Wasser gegen 's Geißtal auffi zum Stauen angfangen, und is mit aller Ruh über die Wehrbäum abglaufen, und die ganzen Häuser sind aus der Gfahr gwesen!«
Sie hatten den Wald erreicht und traten in den Schatten.
»Gwiß is's wahr: wär der Herr Petri net gwesen, so hätt unser Leutascher Dörfl heut um a Dutzend Häuser weniger. Aber teuer hat er's zahlen müssen, sein christliches Werk. Ausghalten hat er am gleichen Fleck zwei Nächt und anderthalb Tag, tropfnaß bis auf d' Haut. Nach der zweiten Nacht in der Fruh, wie er noch d' Schildwachen aufgstellt hat am Wehr, hat er sich gahlings verfärbt, und seine Knie haben auslassen. Es wird gleich wieder besser, hat er gmeint und hat sich an Trunk Wein von der Fräuln geben lassen die so verschrocken war, daß ihr 's Gsicht ganz weiß worden is. A halbs Stündl hat er noch ausghalten. Nacher hat ihn 's Fräuln heimgführt auf'm Muli. Und da hat's kein Helfen nimmer geben. Lungenentzündung, hat der Doktor gsagt. Die ganze Nacht sind d' Leut ums Haus rum gstanden und haben gmeint, es müßt und müßt ihm wieder besser gehn. Auf Mittag um elfe hat er sein letzten Schnaufer gmacht. Und der Doktor hat mir gsagt: so hätt er noch nie kein Menschen net sterben sehen! Im ärgsten Fieber hat er die Bsinnung net verloren, hat bloß allweil dös arme Frauerl tröstet, hat plauscht mit'm Büberl, als ob gar nix wär, und 's Fräuln hat er allweil bei der Hand ghalten und hat's anglacht ein ums andermal. Z'letzt hat er noch von seim Gartl draußen am Sebensee gredt. Und dös sind seine letzten Wörtln gwesen: ›Meine Blumen!‹ Nacher hat er aufgschnauft und d' Augen zugmacht wie einer, der weiß: jetzt fahr ich grad auf in Himmel, jetzt geht's mir gut!«
Ettingen sagte leise vor sich hin: »Wer so zu leben wüßte, um sterben zu können wie dieser Mann!«
»Ja, Duhrlaucht, recht haben S'! So sollt sich der Mensch sein Leben einrichten, daß er d' Augen zumachen könnt in jeder Stund und lachen dabei! Aber der Mensch is so viel dumm. Und leben heißt narrisch sein. Was den richtigen Wert hat, schlagt man um kein Kreuzer net an, und für jeden nixigen Pfifferling legt man seim Leben a Zentnergwicht auf'n Buckel. Bagaschi überanand! Und ich ghör selber dazu!«
Der Pfad hatte im Wald auf eine Höhe geführt. Man sah in ein schmales Tal hinunter, aus dem drei große Weiher mit sonnglänzendem Spiegel durch die Bäume heraufleuchteten. Ein sanftes Murmeln klang von den Teichen her wie das Geplätscher vieler Quellen.
Der Förster blieb stehen und spähte durch den Wald hinunter. »Da, Duhrlaucht! Da schauen S' abi: bei die Ursprüng drunten malt d' Fräuln Petri an ihrem Taferl!«
Ettingens Augen leuchteten auf, und ohne ein Wort zu sagen, stieg er rasch durch den Wald hinunter gegen die Weiher.