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Elftes Kapitel

Neue Interessen

Der Krieg zog sich weiter hin. Man hatte Nicholas sagen hören, daß, wenn er überhaupt etwas kostete, er dreihundert Millionen kosten würde, bevor man zu Ende damit käme! Die Einkommensteuer wäre ernstlich bedroht. Aber dafür würden sie doch Südafrika auf immer für ihr Geld haben. Und obwohl das Gefühl für Besitz am frühen Morgen arg erschüttert schien, erholte es sich zur Frühstückszeit bei dem Gedanken daran, daß man in diesen Tagen nichts umsonst erhielt. Im ganzen gingen die Leute daher ebenso ihren Geschäften nach, als wenn kein Krieg wäre, es keine Konzentrationslager gäbe, keinen aalglatten de Wet, kein Vorurteil auf dem Kontinent, noch irgend etwas Unangenehmes. Die Haltung der Nation war vollkommen in der Karte Timothys versinnbildlicht, für die das Interesse erloschen war – denn Timothy ließ die Flaggen stecken, und sie konnten sich selbst nicht von der Stelle bewegen, weder rückwärts noch vorwärts, wie sie es hätten tun müssen.

Auch auf der Forsyte-Börse herrschte derselbe Mangel an Bewegung wie auch eine allgemeine Ungewißheit hinsichtlich der nächsten Ereignisse. Die Heiratsanzeige ›Jolyon Forsyte mit Irene, der einzigen Tochter des verstorbenen Professors Heron‹ in der ›Times‹ hatte einen Zweifel darüber erweckt, ob diese Angaben richtig waren. Und doch empfand man es im ganzen als Erleichterung, daß sie nicht als ›Irene, die ›ehemalige‹ oder ›geschiedene‹ Frau von Soames Forsyte‹ bezeichnet war. Schließlich lag doch etwas von Größe in der Art, wie die Familie Forsyte die ›Affäre‹ von Anfang an aufgenommen hatte. James hatte recht gehabt zu sagen: ›Es war nun einmal so!‹ Nutzlos viel Wesens davon zu machen! Man hatte nichts davon zuzugeben, daß es ein ›häßlicher Streit‹ gewesen war!

Was aber würde geschehen, wo jetzt Soames und Jolyon wieder verheiratet waren? Das war eine sehr heikle Frage. Von George wußte man, daß er und Eustace mit sechs zu vier auf einen kleinen Jolyon vor einem kleinen Soames gewettet hatten. George war so drollig! Es ging auch das Gerücht, daß er und Dartie eine Wette eingegangen waren, ob James das Alter von neunzig Jahren erreichen würde, allein niemand wußte, wer von beiden auf James' Seite war.

Anfang Mai kam Winifred mit der Nachricht, daß Val durch eine versprengte Kugel am Bein verwundet sei und entlassen werden sollte. Seine Frau pflegte ihn. Es würde ein schwaches Hinken zurückbleiben – nicht der Rede wert. Er wollte gern, daß sein Großvater ihm dort draußen eine Farm kaufen sollte, wo er Pferde züchten konnte. Hollys Vater gab ihr acht Hundert im Jahr, so kamen sie ganz gut aus, da sein Großvater ihm fünf geben wollte, wie er gesagt hatte. Aber über die Farm wisse er nichts – könne er nichts sagen: er wolle nicht, daß Val sein Geld wegwerfe.

»Aber er muß doch etwas tun, weißt du,« hatte Winifred gesagt.

Tante Hester meinte, daß sein lieber Großvater vielleicht klug handelte, denn wenn er keine Farm kaufte, könnte es nicht schlecht damit ausgehen.

»Aber Val liebt Pferde,« sagte Winifred. »Es wäre eine so gute Beschäftigung für ihn.«

Tante Juley meinte, daß Pferde etwas sehr Ungewisses wären, hatte Montague das nicht auch gefunden?

»Val ist ganz anders,« sagte Winifred; »er gleicht mir.«

Tante Juley glaubte sicher, daß Val sehr tüchtig war. »Ich erinnere mich noch,« fügte sie hinzu, »wie er seinen falschen Groschen einem Bettler gab. Sein lieber Großvater war so erfreut darüber. Er meinte, es zeige solch eine Geistesgegenwart. Ich erinnere mich, daß er sagte, er müßte zur Marine gehen.«

Tante Hester stimmte ihr bei: Glaubte Winifred nicht auch, daß es viel besser für die jungen Leute sei, sicher zu gehen und in ihrem Alter nicht solche Gefahr zu laufen?

»Wenn sie in London wären, vielleicht,« sagte Winifred, »in London ist es ein Vergnügen, nichts zu tun. Dort aber würde er sich natürlich zu Tode langweilen.«

Tante Hester meinte, daß es sehr hübsch für ihn wäre zu arbeiten, wenn er sicher sein könnte, nichts dabei zu verlieren. Etwas anderes wäre es, wenn sie kein Geld hätten. Timothy freilich hatte so gut damit getan, sich zurückzuziehen. Tante Juley wollte gern wissen, was Montague dazu gesagt hatte.

Winifred sagte es ihr nicht, denn Montague hatte nur bemerkt: ›Warte bis der alte Mann stirbt.‹

In diesem Augenblick wurde Francie angemeldet. Ihre Augen waren voll Lächeln.

»Nun,« rief sie, »was sagt ihr dazu?«

»Wozu, meine Liebe?«

»Zu dem in der ›Times‹ heute morgen.«

»Wir haben es noch nicht gesehen, wir lesen sie immer nach Tisch; bis dahin hat Timothy sie.«

Francie rollte die Augen.

»Ist es etwas, das du uns sagen darfst?« fragte Tante Juley. »Was ist es?«

»Irene hat in Robin Hill einen Sohn bekommen.«

Tante Juley holte tief Atem. »Aber,« sagte sie. »sie heirateten doch erst im März!«

»Ja, Tantchen, ist es nicht interessant?«

»Das freut mich,« sagte Winifred. »Es tat mir leid um Jolyon, als er seinen Sohn verlor. Es hätte Val sein können.«

Tante Juley schien wie in einen Traum versunken.

»Ich bin neugierig,« murmelte sie, »was der liebe Soames da sagen wird. Er hat sich selbst so einen Sohn gewünscht. Ein Vöglein hat mir das immer gesagt.«

»Ja,« sagte Winifred, »er wird auch – wenn alles gut geht.«

Freude träufelte aus Tante Juleys Augen.

»Wie entzückend!« sagte sie. »Wann?«

»Im November.«

»Solch ein Glücksmonat! Aber sie hätte gewünscht, daß es früher käme. Es ist eine lange Zeit des Wartens für James in seinem Alter.«

Warten! Sie fürchten es für James, aber sie selbst waren daran gewöhnt. Zu warten war in der Tat ihre größte Zerstreuung. Darauf, die ›Times‹ zu lesen; auf das Kommen eines ihrer Neffen oder Nichten, die sie aufheitern sollten; auf Nachrichten von Nicholas' Gesundheit; auf die Entscheidung darüber, ob Christopher zur Bühne gehen würde; auf Benachrichtigung in betreff der Minen von Mrs. Mac Anders' Neffen; auf den Arzt, der wegen Hesters frühen Erwachens am Morgen kommen sollte; auf Bücher aus der Leihbibliothek, die immer vergriffen waren; darauf, daß Timothy sich erkälten würde; auf einen schönen warmen Tag, nicht zu heiß, an dem sie einen Spaziergang im Kensington Gardens machen konnten. Im Wohnzimmer, wo sie zu beiden Seiten des Kamins saßen, auf den Schlag der Uhr zwischen ihnen zu warten, während ihre dünnen, geäderten, knochigen Hände fleißig Stricknadeln und Häkelhaken handhabten. In ihren schwarzen Seiden- oder Atlaskleidern auf die Vorstellung bei Hof zu warten, um zu wissen, ob Hester ihr dunkelgrünes und Juley ihr dunkleres braunes anziehen dürften. Zu warten, während sie die kleinen Freuden und Leiden, Ereignisse und Hoffnungen ihrer kleinen Familienwelt immer wieder und wieder in ihren alten Herzen aufleben ließen, wie Kühe auf heimischen Wiesen geduldig ihr Futter wiederkäuten. Und auf dies neue Ereignis zu warten, war wohl der Mühe wert. Soames, der ihnen gern Bilder zu schenken pflegte und sie fast jede Woche besucht hatte, was sie sehr vermißten, der nach dem Schiffbruch seiner ersten Ehe ihres Mitgefühls so sehr bedurft hatte, war immer ihr Liebling gewesen. Dieses neue Ereignis – die Geburt eines Erben für Soames – war so wichtig für ihn und seinen lieben Vater, daß James vielleicht nicht ohne einige Gewißheit über die Dinge zu sterben brauchte. James konnte Ungewißheit so gar nicht vertragen; und bei seinem Verhältnis zu Montague konnte es ihn natürlich nicht sehr befriedigen, außer den jungen Darties keine Enkelkinder zu hinterlassen. Schließlich zählte der eigene Name doch! Und als James' neunzigster Geburtstag nahte, waren sie begierig, was für Vorsichtsmaßregeln er ergreifen würde. Er war der erste der Forsyte, der dies Alter erreichte, und würde sozusagen einen neuen Standard für die Lebensdauer festsetzen. Das war so wichtig in ihrem Alter von siebenundachtzig und fünfundachtzig, obwohl sie gar nicht an sich selbst denken wollten, wo sie Timothy hatten, der noch nicht zweiundachtzig war. Es gab natürlich eine bessere Welt. ›In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen,‹ war einer von Tante Juleys Lieblingssprüchen – er war ihr immer ein Trost mit seinem Hinweis auf Hausbesitz, der dem lieben Roger zu seinem Vermögen verholfen hatte. Die Bibel war wirklich eine große Hilfe, und an sehr schönen Sonntagen gingen sie morgens zur Kirche; und zuweilen stahl Tante Juley sich in Timothys Arbeitszimmer, wenn sie sicher wußte, daß er fort war, und steckte wie zufällig das Neue Testament geöffnet zwischen die Bücher auf seinem kleinen Tisch – er war natürlich ein eifriger Leser, da er früher Verleger gewesen war. Doch sie hatte bemerkt, daß Timothy nachher bei Tisch immer ärgerlich war. Und Smither hatte ihr mehr als einmal gesagt, daß sie Bücher vom Fußboden aufgelesen hätte, wenn sie das Zimmer aufräumte. Trotz allem aber hatten sie das Gefühl, als könne es im Himmel nicht ganz so gemütlich sein wie die Zimmer, in denen sie und Timothy so lange gewartet hatten. Tante Hester namentlich konnte den Gedanken an die Anstrengung nicht ertragen. Jede Veränderung, oder vielmehr der Gedanke an eine Veränderung – denn es kam nie eine – regte sie immer sehr auf. Tante Juley, die viel lebhafter war, dachte manchmal, daß es ganz spannend sein müsse; sie hatte den Aufenthalt in Brighton in dem Jahr, als Susan starb, so sehr genossen. Von Brighton aber wußte man, daß es schön war, und es war so schwer zu sagen, wie es im Himmel sein würde; daher war sie mehr als zufrieden, noch warten zu können.

Am Morgen von James' Geburtstag, am 5. August, fühlten sie sich außerordentlich angeregt, und kleine Zettel gingen durch Smithers Hand hin und her zwischen ihnen, während sie ihr Frühstück im Bett einnahmen. Smither mußte hingehen, ihre Grüße und kleine Geschenke zu überbringen und zu hören, wie es Mr. James ging und ob er bei all der Aufregung eine gute Nacht verbracht hatte. Und auf dem Rückweg sollte Smither in der Green Street vorsprechen – es war ein kleiner Umweg für sie, aber sie konnte nachher den Omnibus die Bond Street hinauf nehmen, es würde eine nette kleine Abwechslung für sie sein – und Mrs. Dartie bitten, sie bestimmt zu besuchen, bevor sie die Stadt verließ.

Smither, ein Dienstmädchen, das vor dreißig Jahren von Tante Ann zu einer Vollkommenheit erzogen war, wie man sie jetzt nicht mehr erreichen konnte, erledigte alles dies. Mr. James hatte, wie Mrs. James sagte, eine vorzügliche Nacht gehabt, er ließe vielmals grüßen; Mrs. James hatte gesagt, er wäre sehr komisch und habe sich beklagt, daß er nicht wisse, was all diese Umstände bedeuten. Und Mrs. Dartie ließe grüßen und würde zum Tee kommen.

Die Tanten Juley und Hester waren ›entzückt‹, auch ein wenig gekränkt, daß ihre Geschenke nicht einer besonderen Erwähnung gewürdigt worden waren – sie vergaßen jedes Jahr, daß James keine Geschenke mochte, ›sie würfen ihr Geld für ihn hinaus‹, wie er es immer nannte; doch es war ein Beweis dafür, daß James in guter Laune war, und das war sehr wichtig für ihn. Und sie begannen auf Winifred zu warten. Sie kam um vier Uhr und brachte Imogen und Maud mit, die eben von der Schule kam und ›auch ein so hübsches Mädel wurde‹, so daß es außerordentlich schwierig war, nach Annette zu fragen. Tante Juley jedoch hatte den Mut, sich zu erkundigen, ob Winifred etwas gehört habe und ob Soames sehr besorgt sei.

»Das ist Onkel Soames immer, Tantchen,« unterbrach Imogen; »er kann nicht glücklich sein, wenn er es jetzt auch hat.«

Die Worte klangen vertraut in Tante Juleys Ohren. Ach ja! jene komische Zeichnung von George, die ihnen nicht gezeigt worden war! Aber was meinte Imogen eigentlich damit? Daß ihr Onkel immer mehr wollte, als er haben konnte? Es war gar nicht hübsch, so zu denken.

Imogens Stimme erhob sich hell und klar:

»Denkt euch! Annette ist nur zwei Jahre älter als ich; es muß furchtbar sein für sie, mit Onkel Soames verheiratet zu sein.«

Tante Juley hob voll Entsetzen ihre Hände.

»Meine Liebe,« sagte sie, »du weißt nicht, was du sprichst. Dein Onkel Soames paßt für jeden. Er ist ein sehr kluger Mann, sieht gut aus und ist wohlhabend, außerdem höchst rücksichtsvoll und sorgsam, und durchaus nicht alt im ganzen genommen.«

Imogen sah mit ihrem strahlenden Blick von einer der ›lieben Alten‹ zur andern und lächelte nur.

»Ich hoffe,« sagte Tante Juley ganz ernst, »daß du einen ebenso guten Mann bekommst.«

»Ich werde keinen guten Mann heiraten, Tantchen!« murmelte Imogen, »die sind langweilig.«

»Wenn du so redest,« erwiderte Tante Juley, noch sehr entrüstet, »wirst du gar nicht heiraten. Wir wollen lieber nicht weiter darüber sprechen.« Und sich zu Winifred wendend, fragte sie: »Was macht Montague?«

An diesem Abend, als sie auf das Essen warteten, sagte sie:

»Ich habe Smither gesagt, eine halbe Flasche von dem süßen Champagner heraufzubringen, Hester. Ich denke, wir müssen auf James' Gesundheit trinken, und – und auf die Gesundheit von Soames' Frau; nur wollen wir es ganz geheim halten. Ich werde nichts weiter sagen, nur: › Du verstehst es schon, Hester!‹ und dann trinken wir. Es könnte Timothy aufregen.«

»Eher könnte es uns aufregen,« sagte Tante Hester. »Aber wir müssen es schon, denke ich, bei einer solchen Gelegenheit.«

»Ja,« sagte Tante Juley begeistert, »es ist eine Gelegenheit! Denk nur, wenn er einen lieben kleinen Sohn hätte, die Familie fortzusetzen! Ich halte es jetzt, wo Irene einen Sohn hat, für so sehr wichtig. Winifred erzählte, daß George Jolyon den ›Drei-Decker‹ nennt, seiner drei Familien wegen, weißt du! George ist wirklich drollig! Und denke dir! Irene lebt schließlich doch in dem Hause, das Soames für sie beide hatte bauen lassen. Es ist hart für den lieben Soames; und er ist immer so pflichttreu gewesen.«

Noch ein wenig erregt und erhitzt von ihrem Glas Wein und dem Geheimnis ihres zweiten Toastes, lag sie diese Nacht mit dem geöffneten Gebetbuch vor sich im Bett, die Augen auf die Decke gerichtet, die gelb von ihrer Kerze beleuchtet war. Die jungen Dinger! Sie hatten es alle so gut! Und sie wäre so glücklich, wenn sie Soames glücklich wüßte! Aber jetzt mußte er es doch sein, trotz Imogens Bemerkung. Er würde alles haben, war er braucht: Vermögen, eine Frau, und Kinder! Und er würde bis in ein hohes Alter leben, wie sein Vater, und alles von Irene und der schrecklichen Sache vergessen. Wenn sie selbst nur hier sein könnte, seinen Kindern ihr erstes Schaukelpferd zu kaufen! Smither mußte es im Kaufhaus für sie aussuchen, ein hübsches, scheckiges. Ach! wie Roger sie zu schaukeln pflegte, bis sie hinunterfiel! Du lieber Himmel! Das war lange her! Es war einmal! ›In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen –‹ ein leises nagendes Geräusch traf ihr Ohr – ›doch keine Maus!‹ dachte sie mechanisch. Das Geräusch verstärkte sich. Da! es war eine Maus! Es war nicht recht, von Smither, zu sagen, daß hier keine waren! Sie würde sich durch das Getäfel durchfressen, ehe sie sichs versahen, und dann würden sie die Handwerker brauchen. Es waren so schädliche Tiere! Und sie lag da, folgte im Geiste dem leisen nagenden Geräusch, und wartete auf den Schlaf, der sie davon befreien sollte.


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