Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Soames in Paris

Soames war wenig gereist. Zu neunzehn Jahren hatte er mit seinem Vater, seiner Mutter und Winifred die ›Lieblingstour‹ – Brüssel, den Rhein und die Schweiz – gemacht und war über Paris nach Hause zurückgekehrt. Zu siebenundzwanzig, gerade als er anfing, sich für Bilder zu interessieren, hatte er fünf heiße Wochen in Italien zugebracht, sich mit der Renaissance beschäftigt – es war nicht soviel daran, wie man ihn zu erwarten gelehrt hatte – und war auf dem Rückweg vierzehn Tage in Paris geblieben, wo er sich mit sich selbst beschäftigte, wie es sich für einen Forsyte gehörte, der von Leuten umgeben ist, die so selbstbewußt und ›fremd‹ waren wie die Franzosen. Da die Kenntnis ihrer Sprache von seiner Schule stammte, konnte er sie nicht verstehen, wenn sie sprachen. Schweigen schien ihm das beste für alle Teile, man machte sich doch nicht selbst zum Narren. Ihm mißfielen die Kleidung der Männer, die geschlossenen Droschken, die Theater, die wie Bienenkörbe aussahen, und die Galerien, die nach Wachs rochen. Er war zu vorsichtig und zu schüchtern, die Seite von Paris zu erforschen, deren Anziehungskraft, wie die Forsytes annahmen, sich ganz im geheimen zeigte, und die Ausbeute für einen Sammler – es war nichts zu haben! Sie waren eine gierige Bande – hätte Nicholas sich wohl ausgedrückt. Er war unbefriedigt zurückgekehrt und behauptete, daß Paris überschätzt werde.

Als er daher im Jahre 1900 nach Paris ging, war es erst sein dritter Versuch mit dem Mittelpunkt der Zivilisation. Diesmal jedoch ging der Berg zu Mahomet, denn er fühlte sich jetzt zivilisierter als Paris und war es vielleicht auch. Überdies hatte er einen bestimmten Zweck. Jetzt handelte es sich nicht mehr um ein Knien vor dem Schrein des Geschmacks und der Immoralität, sondern um die Wahrnehmung seiner eigenen rechtmäßigen Angelegenheiten. Er reiste in der Tat, weil die Dinge jetzt über allen Spaß gingen. Die Beobachtung wurde fortgesetzt, und nichts – nichts kam dabei heraus! Jolyon war nicht mehr nach Paris zurückgekehrt, und sonst war niemand ›verdächtig‹! War Soames mit neuen und sehr vertraulichen Fällen beschäftigt, so kam es ihm mehr denn je zum Bewußtsein, wie wesentlich ein guter Ruf für einen Anwalt ist. Aber nachts und in seinen Mußestunden erbitterte ihn der Gedanke, daß die Zeit verflog, daß Geld floß und seine Zukunft so ›geknebelt‹ war wie immer. Seit dem Mafeking-Abend hatte er bemerkt, daß ein ›junger Narr von Doktor‹ sich um Annette zu schaffen machte. Zweimal schon hatte er ihn angetroffen – ein lustiger junger Bursche, nicht mehr als dreißig Jahre alt. Nichts ärgerte Soames so sehr wie Fröhlichkeit – eine unschickliche, extravagante Eigenschaft, die in keiner Beziehung zu Tatsachen stand. Dies Gemisch von Wünschen und Hoffnungen begann ihm zur Qual zu werden, und kürzlich war ihm der Gedanke gekommen, ob Irene vielleicht wußte, daß sie beobachtet wurde.

Alles das hatte ihn schließlich dazu bestimmt, hinzufahren und sich Gewißheit zu verschaffen, nochmals den Versuch zu machen, ihren Widerstand zu brechen, und sie von ihrer Weigerung abzubringen, ihr eigenes und sein Leben noch einmal verhältnismäßig freundlich zu gestalten. Mißlang es ihm abermals – nun, so wollte er wenigstens sehen, wie sie lebte!

Er ging in ein Hotel in der Rue Caumartin, das den Forsytes warm empfohlen war und wo wirklich niemand französisch sprach. Er hatte keinen Plan gemacht. Er wollte sie nicht erschrecken, mußte aber dafür sorgen, daß sie keine Gelegenheit fand, sich ihm durch Flucht zu entziehen. Und am nächsten Morgen machte er sich bei schönem Wetter auf.

Es lag etwas Fröhliches über Paris, ein strahlender Glanz, der Soames beinah verstimmte. Er ging ernst, die Nase hoch, und blickte neugierig um sich. Jetzt hätte er gern französische Art verstanden. War Annette nicht Französin? Dieser Besuch konnte ihm sehr nützlich sein, wenn er nur verstand, ihn auszunutzen. In dieser hoffnungsvollen Stimmung war er an der Place de la Concorde angelangt, wo er beinah dreimal umgerannt wurde. Fast zu plötzlich stand er vor Irenens Hotel, denn er war noch zu keinem Entschluß für sein Vorgehen gekommen. Er ging hinüber ans Ufer, wo er das Gebäude, weiß und freundlich, mit grünen Jalousien, durch eine Wand von Platanenblättern sehen konnte. Und in der Überzeugung, daß es viel besser wäre, sie zufällig irgendwo im Freien zu treffen, als einen Besuch zu riskieren, setzte er sich auf eine Bank, von der aus er den Eingang beobachten konnte. Es war noch nicht ganz elf Uhr, und daher unwahrscheinlich, daß sie schon ausgegangen war. Ein paar Tauben stolzierten auf den sonnigen Stellen zwischen den Schatten der Platanen und putzten ihr Gefieder. Ein Arbeiter in blauer Bluse kam vorüber und warf ihnen Krumen aus dem Papier zu, das sein Mittagessen enthielt. Eine ›bonne‹ mit Bänderkopfputz beaufsichtigte zwei kleine Mädchen mit Zöpfen und Spitzenhöschen. Eine Droschke schlich vorbei, deren Kutscher einen blauen Rock und einen schwarzen Glanzhut trug. Soames meinte an allen etwas Geziertes zu sehen, etwas Malerisches, das nicht hingehörte. Ein theatralisches Volk, diese Franzosen! Mit einem Gefühl, als geschähe ihm unrecht, weil das Schicksal sein Leben in fremde Wasser trieb, zündete Soames sich eine seiner seltenen Zigaretten an. Er hätte sich nicht gewundert, wenn Irene dies Leben im Ausland wirklich gefiel, sie war eigentlich nie richtig englisch gewesen – selbst ihr Aussehen nicht! Und er begann zu überlegen, welches Fenster hinter den grünen Jalousien wohl das ihre wäre. Mit welchen Worten konnte er den Zweck seines Herkommens erklären und die stolze Hartnäckigkeit ihres Widerstandes brechen? Er warf das Ende seiner Zigarette den Tauben zu und dachte: ›Ich kann nicht ewig hier sitzen und die Daumen drehen. Es ist besser, es aufzugeben und sie am Nachmittag aufzusuchen.‹ Doch er blieb sitzen, hörte es zwölf schlagen und dann halb eins. ›Ich will bis eins warten,‹ dachte er. Doch gerade da sprang er bestürzt auf, setzte sich aber erschrocken wieder. Eine Dame in einem crêmefarbenen Kleide war herausgekommen und ging unter einem rehbraunen Sonnenschirm fort. Irene! Er wartete, bis sie so weit weg war, daß sie ihn nicht mehr erkennen konnte, und ging ihr dann nach. Sie schlenderte dahin, als habe sie kein bestimmtes Ziel, ging aber, soviel er sich der Gegend erinnerte, auf das Bois de Boulogne zu. Eine halbe Stunde blieb er in gleicher Entfernung von ihr auf der andern Seite der Straße, bis sie in das Bois eintrat. Ob sie sich doch mit jemand verabredet hatte? Mit irgend einem verwünschten Franzosen – einem jener Laffen wie dieser ›Bel-Ami‹ etwa, die weiter nichts zu tun hatten, als den Weibern nachzulaufen; er hatte nämlich das Buch mit großer Schwierigkeit und einem wenn auch widerwilligen Genuß gelesen. Er folgte ihr mürrisch durch eine schattige Allee, wobei er sie zuweilen, aus dem Gesicht verlor, wenn der Weg eine Biegung machte. Und er mußte daran denken, wie er eines Abends vor langer Zeit im Hydepark in rasender Eifersucht von Stuhl zu Stuhl, von Baum zu Baum geschlichen war, um auf lächerlichste Weise auf sie und Bosinney Jagd zu machen. Der Weg bog scharf ab, und als er ihr nacheilte, fand er sie vor einem kleinen Springbrunnen sitzen, einer kleinen grünbronzenen Niobe, bis an die zarten Hüften in ihr Haar gehüllt, die auf die Tränenlache starrte, die sie geweint. Er kam so plötzlich an ihr vorbei, daß er vorüber war, bevor er sich umdrehen konnte und den Hut abnehmen. Sie war nicht aufgesprungen. Sie hatte sich immer sehr zu beherrschen gewußt – er hatte das immer am meisten an ihr bewundert, obgleich es sein größter Kummer war, weil er nie imstande gewesen war zu sagen, was sie dachte. Hätte sie gemerkt, daß er ihr folgte? Ihre Selbstbeherrschung reizte ihn, aber er verschmähte es, seine Gegenwart zu erklären, wies auf die kleine Niobe und sagte:

»Das ist sehr gut gemacht.«

Er konnte sehen, daß sie kämpfte ihre Fassung zu bewahren.

»Ich wollte dich nicht erschrecken; ist dies einer deiner Lieblingsplätze?«

»Ja.«

»Ein wenig einsam.« Während er sprach, kam eine Dame vorbei, blieb stehen, um den Springbrunnen zu betrachten und ging weiter.

Irenens Augen folgten ihr.

»Nein,« sagte sie und stocherte mit ihrem Schirm in der Erde, »niemals einsam. Man hat immer seinen Schatten.«

Soames verstand. Er schaute sie fest an und rief:

»Du bist schuld daran. Du kannst dich jeden Augenblick davon befreien. Irene, komm zurück zu mir und sei frei.«

Irene lachte.

»Lache nicht!« rief Soames und stampfte mit dem Fuß auf. »Es ist unmenschlich. Hör' mich an! Gibt es irgend eine Bedingung, unter der du zu mir zurückkehren würdest? Ich verspreche dir ein eigenes Haus – und nur einen Besuch dann und wann!«

Irene erhob sich. Etwas Wildes war plötzlich in ihrem Gesicht und ihrer Gestalt.

»Keine! Keine! Keine! Du kannst mich bis zum Grabe verfolgen. Ich komme nicht wieder.«

Verletzt und erbittert prallte Soames zurück.

»Mache keine Szene!« sagte er scharf. Und beide standen reglos da und starrten auf die kleine Niobe, deren grünliches Fleisch in der Sonne brannte.

»Das ist also dein letztes Wort,« murmelte Soames und ballte die Hände, »du verurteilst uns beide.«

Irene senkte den Kopf. »Ich kann nicht zurückkommen. Leb' wohl!«

Ein Gefühl ungeheurer Ungerechtigkeit flammte in Soames auf.

»Warte!« sagte er, »und höre mich einen Augenblick an. Du gabst mir ein heiliges Versprechen – du kamst ohne einen Penny zu mir. Du hattest alles, was ich dir geben konnte. Du brachst dein Versprechen ohne Grund, du machtest mich zum Gespött, du verweigertest mir ein Kind, du machtest mich zum Gefangenen, du – du wirkst noch so auf mich, daß ich dich begehre – ich begehre dich. Was hast du dazu zu sagen?«

Irene wandte sich um, ihr Gesicht war totenblaß, ihre Augen brannten dunkel.

»Gott machte mich, wie ich bin,« sagte sie; »schlecht, wenn du willst – aber nicht so schlecht, daß ich mich wieder einem Manne geben würde, den ich hasse.«

Die Sonne leuchtete auf ihrem Haar, als sie ging, und schien ihr anliegendes crêmefarbenes Kleid zu liebkosen.

Soames vermochte weder zu sprechen noch sich zu bewegen. Das Wort ›hassen‹ – so übertrieben, so primitiv – brachte den Forsyte in ihm in Aufruhr. Mit einer lauten Verwünschung entfernte er sich von dem Platz, wo sie verschwunden war, und rannte beinah der Dame in die Arme, die zurückgekommen war, der Närrin, die sie verfolgte!

Er triefte bald von Schweiß in dem Dickicht des Bois.

›Jetzt brauche ich keine Rücksicht mehr auf sie zu nehmen,‹ dachte er, ›sie hat ja auch nicht das Geringste für mich übrig. Ich werde ihr gleich heute zeigen, daß sie noch meine Frau ist.‹

Doch auf dem Wege zurück in sein Hotel war er gezwungen, sich einzugestehen, daß er gar nicht wußte, was er damit meinte. Man kann doch öffentlich keine Szenen machen, und wenn er das nicht konnte, was blieb ihm sonst denn übrig? Er verwünschte beinah sein eigenes Zartgefühl. Sie verdiente vielleicht gar keine Rücksicht; aber er – er verdiente sie doch. Und als er mit dem Baedeker in der Hand, ohne gegessen zu haben, in der Halle seines Hotels saß, wo fortwährend Reisende vorübergingen, überkam ihn tiefe Niedergeschlagenheit. In Fesseln! Sein ganzes Leben, jeder natürliche Trieb, jedes ehrliche Verlangen geknebelt und gekettet, und alles nur, weil das Schicksal ihn vor siebzehn Jahren getrieben, sein Herz an diese Frau zu hängen – so vollständig, daß er noch jetzt nach keiner andern Verlangen trug! Verflucht der Tag, wo er ihr begegnet war, und seine Augen, weil sie anderes in ihr gesehen hatten als die grausame Venus, die sie war! Und doch, als er sie jetzt vor sich sah, das Sonnenlicht auf dem Crêpe de Chine ihres enganliegenden Kleides, stöhnte er auf, so daß einer der Leute, die vorüberkamen, sich teilnehmend nach ihm umschaute.

Später, vor einem Café nahe der Oper, bei einem Glase kalten Tees mit Zitrone und einem Strohhalm darin, faßte er den hinterlistigen Entschluß, zum Dinner in ihr Hotel zu gehen. Wenn sie da war, wollte er mit ihr sprechen, wenn nicht, einen Zettel für sie dort lassen. Er kleidete sich sorgfältig an und schrieb wie folgt:

›Dein Idyll mit Jolyon Forsyte ist mir bekannt. Wenn du es fortsetzest, laß dir gesagt sein, daß ich nichts unversucht lassen werde, ihm das Leben unerträglich zu machen.

S. F.‹

Er versiegelte das Schreiben, adressierte es aber nicht, weil er nicht ihren Mädchennamen darauf schreiben wollte, den sie so schamlos wieder angenommen hatte, oder das Wort Forsyte auf den Umschlag setzen, damit sie es nicht ungelesen zerriß. Dann machte er sich auf und wanderte durch die glühenden Straßen, die ganz den abendlichen Vergnügungssüchtigen überlassen waren. Er trat in ihr Hotel und wählte einen Platz in der fernsten Ecke des Speisesaals, von wo aus er alle Eintretenden und Hinausgehenden sehen konnte. Sie war nicht da. Er aß wenig, rasch und wachsam. Sie kam nicht. Er zauderte in der Halle über seinem Kaffee und trank zwei Liköre. Doch sie kam immer noch nicht. Er ging an das Schlüsselbrett und prüfte die Namen. Nummer zwölf im ersten Stock! Er beschloß den Zettel selbst hinaufzunehmen. Er ging die mit einem roten Teppich belegten Treppen hinauf, an einem kleinen Salon vorüber; acht – zehn – zwölf! Sollte er klopfen, den Zettel hineinstecken, oder –? Er sah sich verstohlen um und drückte die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich, aber in einen kleinen Raum, der zu einer andern Tür führte; er klopfte – keine Antwort. Die Tür war verschlossen. Unten nicht der kleinste Spalt, es war nicht möglich einen Zettel darunter zu schieben. Er steckte ihn wieder in die Tasche und blieb einen Augenblick lauschend stehen. Er fühlte sich ziemlich sicher, daß sie nicht da war. Und plötzlich ging er zurück, an dem kleinen Salon vorbei und die Treppen hinunter. Am Büro blieb er stehen und sagte:

»Wollen Sie Mrs. Heron freundlichst diesen Zettel abgeben.«

»Madame Heron ist heute abgereist, Monsieur – plötzlich, gegen drei Uhr. Wegen eines Krankheitsfalls in ihrer Familie.«

Soames preßte die Lippen zusammen. »O!« sagte er, »wissen Sie ihre Adresse?«

»Non, Monsieur. England, glaube ich.«

Soames steckte den Zettel in die Tasche zurück und ging hinaus. Er rief eine offene Pferdedroschke an, die vorüberkam.

»Fahren Sie mich irgendwohin!«

Der Mann, der ihn offenbar nicht verstand, lächelte und schwang seine Peitsche. Und Soames fuhr in dem kleinen gelbrädrigen Wagen durch ganz Paris. Der Kutscher hielt zuweilen an und fragte: »C'est par ici, Monsieur?« »Nein, fahren Sie weiter,« bis es der Mann verzweifelnd aufgab und das gelbrädrige Gefährt – ein kleiner Fliegender Holländer in Droschkengestalt – zwischen den hohen, geschlossenen Häusern mit ihren flachen Fronten und Platanenavenuen weiterrollte.

›Wie mein Leben,‹ dachte Soames, ›ohne Ziel, immer weiter und weiter!‹


 << zurück weiter >>