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Als Soames in das Louis Quinze-Wohnzimmer seiner Schwester mit dem kleinen Balkon trat, der im Sommer immer mit hängenden Geranien und jetzt mit Feuerlilientöpfen geschmückt war, fiel es ihm auf, wie unverändert alles hier geblieben war. Es sah genau ebenso aus wie vor zwanzig Jahren, als er seinen ersten Besuch bei den neuvermählten Darties gemacht. Er hatte selbst die Möbel ausgesucht, und zwar so vollständig, daß kein künftiger Kauf imstande gewesen war, die Atmosphäre des Zimmers zu ändern. Ja, er hatte bei seiner Schwester guten Grund gelegt, und sie hatte dessen bedurft. Es sprach in der Tat sehr für Winifred, daß sie nach all dieser Zeit mit Dartie noch so gut gestellt blieb. Von vornherein hatte Soames Darties Natur unter dem scheinbaren savoir faire und seinem guten Aussehen gewittert, von dem Winifred, ihre Mutter und selbst James so weit geblendet waren, daß er dem Burschen erlaubt hatte seine Tochter zu heiraten, ohne irgend eine Summe auf ihren Namen zu schreiben – ein fatales Versäumnis.
Winifred, die er jetzt erst bemerkte, saß mit einem Brief in der Hand an ihrem Bouleschreibtisch. Sie war groß wie er, hatte starke Backenknochen und kleidete sich gut. Als sie sich erhob und ihm entgegenkam, beunruhigte Soames der Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie zerknitterte den Brief in ihrer Hand, schien sich aber anders zu besinnen und reichte ihn ihm. Er war ebenso ihr Sachwalter wie ihr Bruder.
Soames las, auf Iseeum-Klub-Papier, folgende Worte:
›Du wirst keine Gelegenheit mehr haben, mich wieder zu beleidigen. Ich verlasse morgen England. Es ist alles aus. Ich habe es satt, mich von Dir beschimpfen zu lassen. Du bist selbst schuld daran. Kein Mann, der Selbstachtung hat, kann das ertragen. Ich werde Dich nie wieder um etwas bitten. Lebewohl. Ich nahm die Photographie der beiden Mädel mit. Grüße sie von mir. Es ist mir einerlei, was Deine Familie sagt. Es ist alles ihr Werk. Ich bin im Begriff, ein neues Leben anzufangen.
M. D.‹
Dieser Zettel, offenbar nach einem guten Dinner geschrieben, hatte einen Fleck, der noch nicht ganz trocken war. Er blickte zu Winifred hin – der Fleck stammte augenscheinlich von ihr, und er unterdrückte die Worte: ›Gut, ihn los zu sein!‹ Dann fiel ihm ein, daß sie durch diesen Brief in eine Lage kam, wie die, aus der er selbst sich so sehnlichst zu befreien wünschte, – in die Lage eines Forsyte, der nicht geschieden war.
Winifred hatte sich abgewandt und roch lange an einem kleinen Fläschchen mit goldenem Stöpsel. Ein dumpfes Mitleid zugleich mit der vagen Empfindung einer Kränkung überkam Soames. Er war zu ihr gekommen, um von seiner eigenen Lage zu sprechen und Teilnahme zu finden, und nun war sie in der gleichen Lage, über die sie natürlich reden und bei ihm Teilnahme finden wollte. So war es immer! Niemand schien jemals daran zu denken, daß er eigene Sorgen und Interessen hatte. Er faltete den Brief mit dem Fleck darauf zusammen und sagte:
»Was ist denn eigentlich vorgefallen?«
Winifred erzählte ruhig die Geschichte von den Perlen.
»Glaubst du, daß er wirklich fort ist, Soames? Du siehst, in welchem Zustand er dies geschrieben hat.«
Soames, der, wenn er etwas wünschte, abergläubisch genug war, zu behaupten, daß er nicht daran glaube, antwortete:
»Wahrscheinlich nicht. Ich möchte es im Klub erfahren.«
»Wenn George dort wäre,« sagte Winifred, »würde er es wissen.«
»George?« sagte Soames, »ich sah ihn beim Begräbnis seines Vaters.«
»Dann ist er sicher dort.«
Soames, dessen gesunder Verstand dem Scharfsinn seiner Schwester zustimmte, sagte verdrießlich: »Gut, ich werde hingehen. Hast du in Park Lane etwas davon gesagt?«
»Ich habe es Emily gesagt,« erwiderte Winifred, »Vater hätte es einen zu starken Schlag versetzt.«
In der Tat wurde James jetzt alles Unangenehme geflissentlich verschwiegen. Soames warf nochmals einen Blick auf die Möbel ringsum, als wolle er die genaue Lage der Schwester abwägen, und ging dann hinaus, auf Piccadilly zu. Der Abend brach an – ein Hauch von Kälte im Oktobernebel. Er ging rasch, mit seiner verschlossenen angespannten Miene. Er mußte sich beeilen, denn er wollte zum Abendessen in Soho sein. Als er vom Portier im Iseeum hörte, daß Mr. Dartie heute nicht dort gewesen sei, beschloß er nur zu fragen, ob Mr. George Forsyte im Klub wäre. Er war dort. Soames hatte für seinen Vetter, der sich oft auf seine Kosten lustig machte, nicht viel übrig, folgte dem ›boy‹ jedoch einigermaßen beruhigt bei dem Gedanken, daß George ja eben seinen Vater verloren hatte. Er mußte jetzt außer dem, was die Verfügung Rogers zur Vermeidung der Erbschaftssteuer ihm einbrachte, etwa dreißigtausend Pfund besitzen. Er fand George an einem Bogenfenster sitzend, wo er über einen Teller halb verzehrten Backwerks hinwegstarrte. Seine hohe, massige schwarzgekleidete Gestalt wirkte, obwohl sie das übertrieben Geschniegelte des Sportsmanns bewahrt hatte, fast drohend. Mit einem leisen Grinsen in seinem fleischigen Gesicht sagte er:
»Hallo, Soames! Etwas Gebäck?«
»Nein, danke,« murmelte Soames und bürstete ein Stäubchen von seinem Hut. Und in dem Wunsch etwas Passendes und Teilnehmendes zu sagen, fügte er hinzu:
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Danke,« sagte George, »so-so. Hab' dich eine Ewigkeit nicht gesehen. Du bist nie beim Rennen. Was macht die City?«
Soames, der eine Stichelei witterte, ging nicht weiter darauf ein und erwiderte:
»Ich wollte dich nach Dartie fragen. Ich höre, er ist –«
»Auf und davon, macht eine Exkursion nach Buenos Aires mit der schönen Lola. Gut für Winifred und die kleinen Darties. Ein lästiger Geselle.«
Soames nickte. Diese von Natur feindseligen Vettern führte Dartie jetzt zusammen.
»Onkel James wird jetzt ruhig schlafen können,« fuhr George fort; »ich vermute, er hat auch dir einen Haufen Geld abgeknöpft.«
Soames lächelte.
»Na, du hast ihn zum Teufel gejagt,« sagte George freundlich. »Er ist ein wahrer Windbeutel. Es wird nötig sein ein wenig auf den jungen Val aufzupassen. Mir tat Winifred immer leid. Sie ist eine mutige Frau.«
Wieder nickte Soames. »Ich muß zurück zu ihr,« sagte er, »sie wollte eben Gewißheit haben. Wir werden Schritte unternehmen müssen. Ich nehme an, daß kein Irrtum vorliegt?«
»Es ist ganz all right,« sagte George. »Er war gestern abend total bezecht, reiste heute morgen aber doch richtig ab. Sein Schiff ist die ›Tuscacora‹; und indem er eine Karte hervorholte, las er spöttisch:
»›Mr. Montague Dartie, postlagernd, Buenos Aires.‹ Ich würde mich mit den Schritten beeilen, wenn ich du wäre. Er war nicht loszuwerden, gestern abend.«
»Ja,« sagte Soames, »aber es ist nicht immer leicht.« Dann, als er einem Blick anmerkte, daß George dies als Anspielung auf seine eigene Sache betrachtete, stand er auf und streckte seine Hand aus. George erhob sich ebenfalls.
»Empfiehl mich Winifred. Du müßtest die Scheidung sofort einleiten, wenn es nach mir ginge.«
Soames warf von der Tür aus einen verstohlenen Blick auf ihn zurück. George hatte sich wieder hingesetzt und starrte vor sich hin, er sah groß und einsam aus in den schwarzen Kleidern. Soames hatte ihn nie so niedergeschlagen gesehen. ›Vermutlich empfindet er es doch ein wenig,‹ dachte er. ›Sie müssen, alles zusammengenommen, jeder etwa fünfzigtausend haben. Sie sollten das Grundstück zusammen behalten. Wenn ein Krieg kommt, wird der Wert der Häuser sinken. Onkel Roger hatte aber doch ein gutes Urteil.‹ Und in der dunkeln Straße stieg das Gesicht Annettens vor ihm auf, ihr braunes Haar, ihre blauen Augen mit den dunkeln Wimpern, ihre taufrischen Lippen und Wangen, die trotz London blühend waren, und ihre vollendete französische Figur. ›Schritte unternehmen!‹ dachte er. Bei seiner Rückkehr in Winifreds Haus begegnete er Val, und sie gingen zusammen hinein. Ihm war eine Idee gekommen. Sein Vetter Jolyon war der Berater Irenens, der erste Schritt würde sein, ihn in Robin Hill aufzusuchen. Nach Robin Hill! Welch ein sonderbares – sehr sonderbares Gefühl erweckten diese Worte in ihm! Robin Hill – das Haus, das Bosinney für ihn und Irene gebaut hatte – das Haus, in dem sie nie gelebt hatten – das verhängnisvolle Haus! Und nun lebte Jolyon dort! Hm! Und plötzlich dachte er: ›Sie sagen, daß ein Sohn von ihm in Oxford sei. Weshalb nicht Val mitnehmen und ihn dort vorstellen! Es ist ein Vorwand! Ist weniger auffallend – viel weniger durchsichtig.‹ Daher sagte er, als sie die Treppe hinauf gingen, zu Val:
»Du hast einen Vetter in Oxford, aber du hast ihn nie gesehen. Ich möchte dich morgen gern mitnehmen und euch bekannt machen. Es wird dir nützlich sein.« Da Vals Begeisterung für diese Idee nur mäßig war, fuhr Soames fort:
»Ich hole dich nach dem Frühstück ab. Es ist auf dem Lande – nicht weit, es wird dir Spaß machen.«
An der Schwelle des Wohnzimmers fiel es ihm schwer sich zu sagen, daß die Schritte, die er in Betracht zog, augenblicklich Winifred betrafen, nicht ihn selbst.
Winifred saß immer noch an ihrem Bouleschreibtisch.
»Es ist wirklich wahr,« sagte er, »er ist nach Buenos Aires gegangen, heute morgen abgereist – wir müßten ihn überwachen lassen, wenn er landet. Ich werde sofort telegraphieren. Sonst haben wir eine Menge Ausgaben. Je schneller diese Dinge abgetan sind, desto besser. Ich bedauere immer, daß ich nicht –« er hielt inne und blickte verstohlen auf die schweigende Winifred. »Übrigens,« fuhr er fort, »kannst du Brutalität nachweisen?«
Winifred sagte mit dumpfer Stimme:
»Ich weiß nicht. Was ist Brutalität?«
»Nun, hat er dich geschlagen oder dergleichen?«
Winifred schüttelte sich, und ihr Mund preßte sich zusammen.
»Er hat mir den Arm verrenkt. Oder würde das Zielen mit einer Pistole genügen? Oder daß er zu betrunken war, sich auszukleiden, oder – nein – die Kinder kann ich nicht mit hineinbringen.«
»Nein,« sagte Soames, »nein. Laß einmal sehen! Natürlich, eine gesetzliche Trennung – die können wir erreichen. Aber Trennung! Hm!«
»Was bedeutet das?« fragte Winifred trostlos.
»Daß er dich nicht angreifen kann, oder du ihn; ihr seid beide verheiratet und doch unverheiratet.« Er stöhnte. War das nicht seine eigene verwünschte Lage, rechtskräftig gemacht! Nein! Dahinein wollte er sie nicht bringen!
»Es muß Ehescheidung sein,« sagte er entschieden, »wenn Brutalität nicht nachzuweisen ist, bleibt uns böswilliges Verlassen. Es gibt jetzt einen Ausweg, die zwei Jahre zu verkürzen. Wir beantragen bei Gericht die Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft. Wenn er dann nicht gehorcht, können wir die Scheidungsklage in sechs Monaten einreichen. Natürlich möchtest du ihn nicht zurück haben. Aber das wissen sie ja nicht. Dennoch ist die Gefahr vorhanden, daß er kommt. Ich möchte es lieber mit ›Brutalität‹ versuchen.«
Winifred schüttelte den Kopf. »Das ist so widerlich.«
»Nun,« murmelte Soames, »vielleicht ist die Gefahr nicht so groß, solange er in holden Banden ist und Geld hat. Sage niemand etwas und bezahle nichts von seinen Schulden.«
Winifred seufzte. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte, lastete der Verlust doch schwer auf ihr. Und der Gedanke, seine Schulden nicht mehr zu bezahlen, brachte es ihr mehr als sonst etwas zum Bewußtsein. Ihr war, als sei ihr Leben ärmer geworden. Ohne ihren Mann, ohne die Perlen, ohne das vertraute Gefühl sich bei all dem häuslichen Wirrwarr tapfer gehalten zu haben, mußte sie jetzt der Welt gegenübertreten. Sie fühlte sich tatsächlich beraubt.
Und in dem frostigen Kuß, den Soames auf ihre Stirn drückte, war mehr Wärme als sonst.
»Ich muß morgen nach Robin Hill hinaus,« sagte er, »um den jungen Jolyon in Geschäften zu sprechen. Er hat einen Sohn in Oxford. Ich möchte Val gern mitnehmen und ihn dort einführen. Komm am Samstag nach ›Haus Zuflucht‹ und bringe die Kinder mit. Ach! Übrigens nein, das geht ja nicht, ich erwarte einige andere Gäste.« Mit diesen Worten verließ er sie und machte sich auf den Weg nach Soho.