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Siebentes Kapitel

Eine Sommernacht

Soames hinterließ tödliche Stille in dem kleinen Arbeitszimmer.

»Haben Sie Dank für die schöne Lüge,« sagte Jolyon plötzlich. »Kommen Sie heraus – die Luft hier ist nicht mehr wie sie war!«

Vor einer langen, hohen gen Süden gelegenen Mauer, wo Pfirsichbäume gezogen wurden, gingen die beiden schweigend auf und nieder. Der alte Jolyon hatte zwischen der grasigen Terrasse und den feuchten Wiesen voller Ranunkeln und großen vollen Maßliebchen in Abständen von einander einige Zypressen gepflanzt; zwölf Jahre lang hatten sie gegrünt, bis ihre dunkle spiralenförmige Gestalt völlig an Italien erinnerte. Vögel flatterten leise durch das nasse Gebüsch, die Schwalben, mit einem stahlblauen Schimmer auf den schnellen kleinen Körpern, schossen vorüber, das Gras war frühlingshaft unter den Füßen und erfrischte mit seinem Grün; und Schmetterlinge jagten einander. Nach dieser peinlichen Szene war die Ruhe der Natur von wunderbarer Wirkung. Unterhalb der durchsonnten Mauer lief der schmale Streifen eines Gartenbeetes mit Reseden und Stiefmütterchen, und von den Bienen kam ein leises Gesumm, in dem alle andern Töne mitklangen – das Muhen einer Kuh, der man das Kälbchen fortgenommen, und der Ruf eines Kuckucks von einer Ulme unten an der Wiese. Wer hätte gedacht, daß hinter ihnen, zehn Meilen weiter, London begann – das London der Forsytes mit seinem Reichtum, seinem Elend, seinem Schmutz und seinem Lärm; mit seinen verstreuten Steininseln der Schönheit, seiner grauen See von garstigen Ziegeln und Stuck? Das London, das Irenens frühe Tragödie gesehen und Jolyons harte Zeiten; dieses Spinnennetz, diese fürstliche Werkstatt habsüchtigen Strebens!

Und während sie dort gingen, grübelte Jolyon über die Worte: ›Ich hoffe, du wirst ihn behandeln, wie du mich behandelt hast.‹ Das würde von ihm abhängen. Konnte er sich trauen? Erlaubte die Natur einem Forsyte sich nicht sklavisch Untertan zu machen, was er anbetete? Konnte Schönheit ihm anvertraut werden? Oder würde sie nicht nur als Besuch kommen, wenn sie gerade wollte, die Seine für flüchtige Augenblicke, und zurückkehren, wenn es ihr gefiele? ›Wir sind eine Räuberbande!‹ dachte Jolyon, ›engherzig und gierig, die Blüte des Lebens ist nicht sicher vor uns. Mag sie zu mir kommen, wann sie will, wie sie will, oder gar nicht, wenn sie nicht will. Ich möchte nur ihr Beistand sein, ihr Obdach, nie – niemals ihr Käfig!‹

Sie war die Schönheit in seinem Traum. Würde er jetzt durch den Vorhang kommen und sie erreichen? War die reiche Masse von Hab und Gut, der einengende Bau eigennütziger Bestrebungen verkörpert in dieser kleinen schwarzen Gestalt von ihm und Soames – würde der Vorhang zerreißen, so daß er hindurch konnte zu seiner Vision und dort etwas finden, das nicht nur für die Sinne war? ›Wenn ich,‹ dachte er, ›wenn ich nur wüßte, wie ich es anfangen soll, nicht zuzugreifen und zu zerstören!‹

Bei Tisch aber waren Pläne zu machen. Heute abend sollte sie ins Hotel zurück, morgen jedoch wollte er sie nach London mitnehmen. Er mußte seinen Anwalt – Jack Herring – instruieren. Sie wollten keinen Finger rühren, den Prozeß zu verhindern. Exemplarischer Schadenersatz, gerichtliche Maßnahmen, Kosten, was sie wollten, wenn es nur schnell vorüber ginge, sodaß sie den Hals endlich aus der Schlinge bekäme! Morgen wollte er Herring aufsuchen – sie würden zusammen hingehen. Und dann – ins Ausland, ohne einen Zweifel zu hinterlassen, oder den Zeugen Schwierigkeiten zu machen, die Lüge, die sie gesagt, sollte zur Wahrheit werden. Er sah sich nach ihr um, und seine anbetenden Augen meinten dort mehr als eine Frau sitzen zu sehen. Den Geist der Schönheit, tief und geheimnisvoll, den die alten Meister, Tizian, Giorgione, Botticelli, einzufangen gewußt und auf die Gesichter ihrer Frauen zu übertragen verstanden hatten – diese unirdische Schönheit sah er von ihrer Stirn, ihrem Haar, ihren Lippen und ihren Augen widerstrahlen.

›Und das soll mir gehören!‹ dachte er. ›Es macht mir Angst!‹

Nach Tisch gingen sie hinauf auf die Terrasse, um dort ihren Kaffee zu nehmen. Sie saßen lange da, der Abend war so wundervoll, und beobachteten das langsame Anbrechen der Sommernacht. Es war noch warm und die Luft duftete nach Lindenblüten – sehr früh in diesem Sommer. Zwei Fledermäuse huschten mit dem leisen geheimnisvollen Geräusch vorüber, das sie machen. Er hatte die Stühle vor das Fenster des Lesezimmers gestellt, und die Motten flogen hinein, das gedämpfte Licht drinnen zu besuchen. Es war still, kein Wind, und kein Raunen in der alten Eiche fünfzig Schritte von ihnen! Der Mond ging, beinah voll, hinter dem Wäldchen auf, und die beiden Lichter kämpften, bis das Mondlicht siegte und Farbe und Wesen des ganzen Gartens veränderte, sich die Fliesen hinauf stahl, an ihre Füße reichte, emporklomm und ihre Gesichter verwandelte.

Schließlich sagte Jolyon: »Sie werden müde sein, wir sollten lieber aufbrechen. Das Mädchen wird Ihnen Hollys Zimmer zeigen,« und er klingelte vom Lesezimmer aus. Das Mädchen, das hereinkam, reichte ihm ein Telegramm. Sein Blick folgte Irene und er dachte: ›Das muß vor einer oder zwei Stunden gekommen sein, und sie hat es uns nicht herausgebracht! Da sieht man! Nun, bald werden sie einen triftigen Grund haben, uns zu verdammen.‹ Dann öffnete er das Telegramm und las:

Jolyon Forsyte, Robin Hill. – Ihr Sohn entschlief schmerzlos am 20. Juni. In tiefster Teilnahme‹ – ein ihm unbekannter Name.

Er ließ es fallen, wandte sich um und stand reglos da. Der Mond schien zu ihm herein, eine Motte flog ihm ins Gesicht. Der erste Tag, wo er nicht beinah unaufhörlich an Jolly gedacht hatte. Er ging blindlings ans Fenster, stieß an den alten Armstuhl – den Armstuhl seines Vaters – und sank auf die Lehne nieder. Dort saß er zusammengekauert und starrte in die Nacht. Erloschen wie die Flamme einer Kerze, weit von zu Hause, von Liebe, ganz allein, im Dunkeln! Sein Junge. Von klein auf immer so gut – so freundlich zu ihm! Zwanzig Jahre alt, und niedergemäht wie Gras – kein Funken Leben mehr in ihm!

›Ich habe ihn nicht recht gekannt,‹ dachte er, ›und er hat mich nicht gekannt, aber wir haben einander lieb gehabt. Nur auf die Liebe kommt es an.‹

Dort draußen sterben müssen – einsam – voll Sehnsucht nach ihnen – voll Sehnsucht nach Haus! Das schien seinem Forsyteherzen schmerzlicher, beklagenswerter als der Tod selbst. Kein Schutz, kein Obdach, keine Liebe bis zuletzt! Und das tief wurzelnde Gefühl der Zusammengehörigkeit in ihm, sein Familiensinn und das Hängen an dem eigenen Fleisch und Blut, das in dem alten Jolyon so stark gewesen – das bei allen Forsytes so stark war – schien schwer verletzt, abgeschnitten und zerrissen durch das einsame Hinscheiden seines Jungen. Viel besser, er wäre in der Schlacht gefallen, ohne Zeit zu haben, sich nach ihnen zu sehnen, vielleicht in seinem Delirium nach ihnen zu rufen!

Der Mond stand jetzt hinter der Eiche und verlieh ihr ein unnatürliches Leben, so daß sie ihn zu beobachten schien – die Eiche, auf die sein Junge so gerne geklettert war, von der er einst heruntergefallen war und sich verletzt hatte, ohne zu weinen!

Die Tür knarrte. Er sah Irene hereinkommen, das Telegramm aufheben und es lesen. Er hörte das leise Rascheln ihres Kleides. Sie sank dicht neben ihm auf die Knie, und er zwang sich ihr zuzulächeln. Sie streckte die Arme nach ihm aus, und zog seinen Kopf an sich, bis er an ihrer Schulter ruhte. Ihr Duft und ihre Wärme hüllten ihn ein, und ihre Gegenwart eroberte langsam sein ganzes Wesen.


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