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Neuntes Kapitel

Val erfährt die Wahrheit

Das Einhalten von Verabredungen war bis jetzt im Leben Val Darties noch kein vorstechender Zug, sodaß, da er sonst zwei versäumte und eine innehielt, ihn, wenn überhaupt etwas, dies letztere um so mehr überraschte, als er nach seinem Ritt mit Holly von Robin Hill langsam nach der Stadt zurücktrabte. Er hatte sie hübscher gefunden als gestern auf ihrem Silberschimmel, dem ›Zelter‹ mit dem langen Schweif; und in der nebligen Oktoberdämmerung der Vorstädte Londons schien es ihm, als wären seine Stiefel das einzig Helle gewesen ihres zweistündigen Beisammenseins. Er zog seine neue goldene Uhr hervor – ein Geschenk von James – sah aber nicht nach der Zeit, sondern betrachtete Teile seines Gesichts in der glänzenden Innenseite des geöffneten Gehäuses. Er hatte augenblicklich ein Pickel über seiner Augenbraue, und das wurmte ihn, weil es ihr mißfallen haben mußte. Crum hatte niemals Pickel. Zugleich mit Crum sah er die Szene im ›Pandemonium‹ wieder vor sich. Heute hatte er nicht den leisesten Wunsch gehabt, Holly über seinen Vater Enthüllungen zu machen. Seinem Vater fehlte es an Poesie, die sich zum ersten Mal in seinen neunzehn Jahren in ihm regte. Das ›Liberty‹ mit Cynthia Dark, dieser beinah mythischen Verkörperung holden Liebreizes, das ›Pandemonium‹ mit der Frau unbestimmten Alters – beides schien Val, der eben erst von seiner neuen, scheuen, dunkelhaarigen jungen Kusine gekommen war, völlig ›abgetan‹. Sie ritt auch ›riesig‹ gut, so daß es um so schmeichelhafter für ihn war, die Führung bei den langen Galopps im Richmondpark übernehmen zu dürfen, obwohl sie ihn so viel besser kannte als er. Als er sich alles das wieder vorstellte, verdroß ihn die Armseligkeit seiner Sprache; er fühlte, daß er ›allerhand riesig forsche Dinge‹ sagen könnte, wenn er nur wieder Gelegenheit dazu hätte, und der Gedanke, daß er am nächsten Morgen ohne die leiseste Aussicht, sie vorher wiederzusehen, nach Littlehampton zurück, und am zwölften nach Oxford mußte – zu dem ›ekligen Examen‹ noch dazu –, verdüsterte sein Gemüt rascher als die Dunkelheit, die sich über den Abend senkte. Aber er wollte ihr schreiben, und sie hatte versprochen, zu antworten. Vielleicht sogar würde sie auch nach Oxford kommen, ihren Bruder zu besuchen. Dieser Gedanke war wie der erste Stern, der aufging, als er zu Padwicks Mietsställen in der Nähe des Sloane Square ritt.

Er stieg ab und reckte sich wohlig, denn er war gut einige fünfundzwanzig Meilen geritten. Der Dartie in ihm trieb ihn, fünf Minuten mit dem jungen Padwick wegen des Favoriten zum Cambridgerennen zu verhandeln, dann ging er mit den Worten: »Schreiben Sie den Gaul auf meine Rechnung«, mit etwas gespreizten Knien davon, indem er mit seinem knotigen Stock an seine Stiefel klopfte. ›Ich habe nicht die geringste Lust auszugehen‹, dachte er. ›Bin neugierig, ob Mutter an meinem letzten Abend Sekt spendieren wird!‹ Mit ›Sekt‹ und seinen Erinnerungen konnte er einen häuslichen Abend schon vertragen.

Als er untadelig nach seinem Bad herunterkam, fand er seine Mutter in einem ausgeschnittenen Abendkleid und, zu seinem Ärger, Onkel Soames vor. Sie unterbrachen ihr Gespräch, als er eintrat, dann sagte sein Onkel:

»Wir wollen es ihm lieber sagen.«

Bei diesen Worten, die sicherlich irgendwie mit seinem Vater im Zusammenhang standen, war Holly sein erster Gedanke. War es irgend etwas Unangenehmes?

Seine Mutter begann: »Dein Vater,« sagte sie in ihrer vornehm bestimmten Art, während ihre Finger verlegen an einem Stück seegrünen Brokat zupften, »dein Vater, mein lieber Junge, hat – ist nicht in Newmarket, er ist auf dem Weg nach Süd-Amerika. Er – er hat uns verlassen.«

Val blickte von ihr zu Soames. Sie verlassen! War er traurig? Liebte er seinen Vater? Ihm schien, daß er es nicht wußte. Dann plötzlich – als spüre er einen Duft von Gardenien und Zigarren vor sich – krampfte sein Herz sich zusammen, und er war traurig. Ein Vater gehörte zu einem, konnte nicht auf diese Art fortgehen – das ging nicht an. Er war auch nicht immer der ›Fallot‹ aus dem ›Pandemonium‹ gewesen. Ihm kamen köstliche Erinnerungen an Schneider und Pferde, Tips in der Schule und freigebige Güte, wenn er Glück gehabt hatte.

»Aber weshalb?« sagte er. Dann aber tat es ihm leid, gefragt zu haben. Der Ausdruck im Gesicht seiner Mutter war ganz verstört, und er rief:

»Schon gut, Mutter, sage es nicht! Nur, was bedeutet das?«

»Eine Scheidung, Val, fürchte ich.«

Val brummte leise und warf einen schnellen Blick auf seinen Onkel – diesen Onkel, auf den, als Gewähr gegen die Folgen einen Vater zu haben, sogar gegen das Dartieblut in seinen Adern, zu blicken man ihn gelehrt hatte. Es zuckte in dem schmalwangigen Gesicht, und das beunruhigte ihn.

»Es wird doch nicht öffentlich sein, nicht wahr?«

Lebhaft erinnerte er sich, wie er selbst mit eigenen Augen die geschmacklosen Details manchen Scheidungsprozesses in der Zeitung verschlungen hatte.

»Kann es nicht irgendwie im stillen abgemacht werden? Es ist so – so widerwärtig für – für Mutter und – und uns alle.«

»Es wird alles so unauffällig wie möglich gemacht werden, darauf kannst du dich verlassen.«

»Ja, aber weshalb ist es denn überhaupt notwendig? Mutter wird nicht wieder heiraten wollen.«

Er selbst, die Mädchen, ihr Name besudelt vor seinen Schulgefährten und vor Crum, vor den Studenten in Oxford, vor – Holly! Unerträglich! Was war dabei gewonnen?

»Nicht wahr, Mutter?« sagte er scharf.

Nachdem sie durch ihn, den sie am meisten liebte auf Erden, über die eigenen Gefühle zur Klarheit gekommen war, erhob sich Winifred von dem Empiresessel, auf dem sie gesessen. Sie sah, daß ihr Sohn gegen sie sein würde, wenn ihm nicht alles gesagt wurde; und doch, wie sollte sie es ihm sagen? Und immer noch an dem grünen Brokat zupfend, starrte sie Soames an. Val starrte ihn ebenfalls an. Sicherlich konnte er, die Verkörperung des Anstands und des Sinns für Besitz, nicht wünschen, solche Schande über seine Schwester zu bringen!

Soames strich mit einem kleinen ziselierten Papiermesser langsam über die glatte Oberfläche eines Tisches mit eingelegter Arbeit und begann, ohne seinen Neffen anzusehen:

»Du weißt nicht, was deine Mutter in diesen zwanzig Jahren zu ertragen hatte. Dies ist nur der letzte Tropfen, der den Becher zum Überlaufen brachte, Val.« Und mit einem Blick auf Winifred, fügte er hinzu:

»Soll ich's ihm sagen?«

Winifred schwieg. Sagte man es ihm nicht, würde er gegen sie sein! Allein wie schrecklich, solche Dinge von dem eigenen Vater zu erfahren! Sie preßte die Lippen zusammen und nickte.

Soames sprach mit schneller, gleichmäßiger Stimme:

»Er ist stets eine Last für deine Mutter gewesen. Sie hat immer wieder seine Schulden bezahlt; er ist oft betrunken gewesen, hat sie oft hintergangen und bedroht; und jetzt ist er mit einer Tänzerin nach Buenos Aires gegangen.« Und als mißtraue er der Wirkung dieser Worte auf den Knaben, fuhr er rasch fort:

»Er nahm die Perlen deiner Mutter, um sie ihr zu geben.«

Vals Hand zuckte! Bei diesem Anzeichen von innerer Qual rief Winifred:

»Genug, Soames – hör' auf!«

In dem Knaben kämpften der Forsyte und der Dartie miteinander. Für Schulden, Trinken, Tänzerinnen hatte er eine gewisse Sympathie, aber die Perlen – nein! Das war zuviel! Und plötzlich fühlte er, daß seine Mutter ihm die Hand drückte.

»Du siehst,« hörte er Soames sagen, »wir können nicht wieder alles von vorn beginnen lassen. Es gibt eine Grenze; wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«

Val machte seine Hand frei.

»Aber – du wirst doch nicht etwa – das mit den Perlen bekannt machen! Das ertrüge ich nicht – ich könnte es einfach nicht!«

Winifred rief:

»Nein, nein, Val – o nein! Es ist nur, um dir zu zeigen, wie unmöglich dein Vater ist!« Und sein Onkel nickte. Einigermaßen beruhigt nahm Val eine Zigarette heraus. Sein Vater hatte ihm dies dünne gewölbte Etui gekauft. Es war unerträglich – und gerade wo er nach Oxford sollte.

»Kann man Mutter nicht auf andere Weise schützen?« sagte er. »Ich könnte auf sie acht geben. Dann könnte es immer noch später geschehen, falls es durchaus notwendig sein sollte.«

Ein Lächeln spielte einen Augenblick um Soames' Lippen und ward bitter.

»Du weißt nicht, was du sprichst; nichts ist so fatal wie ein Aufschub in solchen Dingen.«

»Weshalb?«

»Ich sage dir, Junge, nichts ist so verhängnisvoll. Ich weiß das aus Erfahrung.«

Seine Stimme klang ungeduldig. Val sah ihn mit großen Augen an, da er seinen Onkel niemals irgend ein Gefühl hatte ausdrücken sehen. Oh! Doch – jetzt erinnerte er sich – da war eine Tante Irene gewesen, und es war etwas geschehen, das ihm verheimlicht wurde; er hatte von seinem Vater einmal einen nicht wiederzugebenden Ausdruck über sie gehört.

»Ich möchte nicht schlecht über deinen Vater sprechen,« fuhr Soames mürrisch fort, »aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, daß deine Mutter ihn wieder auf dem Halse hätte, ehe ein Jahr um ist. Du kannst dir vorstellen, was das für sie und für euch alle bedeuten würde, nachdem dies vorgefallen ist. Das einzige ist, den Knoten völlig zu durchschneiden.«

Wider Willen machte es Eindruck auf Val, und als er das Gesicht seiner Mutter sah, kam er, vielleicht zum ersten Mal, zu der Einsicht, daß seine eigenen Gefühle nicht immer das Wesentliche waren.

»Gut! Mutter,« sagte er, »wir werden dir schon die Stange halten. Nur wüßte ich gern, wann es sein wird. Es ist mein erstes Semester weißt du. Ich möchte nicht gerade dort sein, wenn es so weit ist.«

»Ach, mein lieber Junge,« murmelte Winifred, »es ist sehr lästig für dich.« Aus alter Gewohnheit brauchte sie diese Redensart für das, was dem Ausdruck ihres Gesichtes nach ihr tiefster Kummer war. »Wann wird es sein, Soames?«

»Kann ich nicht sagen – vor Monaten nicht. Wir müssen erst die Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft beantragen.«

›Was, zum Teufel, mochte das sein,‹ dachte Val. ›Was für alberne rohe Gesellen diese Rechtsanwälte sind! Vor Monaten nicht! Eines aber ist sicher, ich bleibe zu Tisch nicht hier!‹ Und er sagte:

»Tut mir furchtbar leid, Mutter. Ich muß jetzt aber zum Essen fort.«

Obgleich es sein letzter Abend war, nickte seine Mutter beinah dankbar; sie beide fanden, daß sie im Ausdruck ihrer Gefühle weit genug gegangen waren.

Verstimmt und niedergeschlagen suchte Val die neblige Freiheit der Green Street auf. Und erst als er Piccadilly erreichte, entdeckte er, daß er nur achtzehn Pence bei sich hatte. Man konnte dafür kein Abendessen haben, und er war sehr hungrig. Sehnsüchtig blickte er zu den Fenstern des Iseeum Klubs empor, wo er oft aufs beste mit seinem Vater gespeist hatte! Diese Perlen! Man konnte darüber nicht hinwegkommen! Allein je mehr er grübelte und je weiter er ging, desto hungriger ward er natürlich. Wenn er nicht wieder zurück nach Haus wollte, blieben ihm nur zwei Auswege, entweder zu seinem Großvater in Park Lane oder zu Onkel Timothy in der Bayswater Road zu gehen. Welches war das kleinere Übel? Bei seinem Großvater würde er vermutlich ein besseres Abendbrot bekommen, bei den Tanten gab es ein recht gutes Essen, wenn man erwartet wurde, sonst aber nicht. Er entschied sich für Park Lane, denn der Gedanke, nach Oxford zu gehen, ohne daß sein Großvater Gelegenheit haben sollte, ihm etwas zuzustecken, war für sie beide nicht angenehm. Seine Mutter würde natürlich erfahren, daß er dort gewesen war, und es wohl merkwürdig finden, aber dagegen war eben nichts zu machen. Er klingelte.

»Halloh, Warmson, gibt's was zu essen für mich, was meinen Sie?«

»Sie gehen eben hinein, Master Val. Mr. Forsyte wird sich sehr freuen, Sie zu sehen. Er sagte gerade beim Frühstück, daß er Sie jetzt nie zu sehen bekomme.«

»Nun, da bin ich. Schlachten Sie das fette Kalb, Warmson, und dann müssen wir Sekt haben.«

Warmson lächelte leise – seiner Meinung nach war Val ein junger Teufelskerl. »Ich werde Mrs. Forsyte fragen, Master Val.«

»Ach was,« murrte Val und legte seinen Mantel ab, »ich bin kein Schulbub mehr, wissen Sie.«

Warmson, der nicht ohne Sinn für Humor war, öffnete die Tür neben dem Kleiderständer, Hirschgeweih aus Mahagoni, mit den Worten:

»Mr. Valerus, gnädige Frau.«

›Der Teufel hole ihn!‹ dachte Val, als er eintrat.

Eine herzliche Umarmung und ein »Nun, Val!« von Emily, und ein ziemlich zittriges »Na, da bist du ja endlich!« von James gaben ihm seine Würde wieder.

»Weshalb meldetest du dich nicht an? Wir haben nur Hammelrücken. Champagner, Warmson,« sagte Emily. Dann gingen sie hinein.

James setzte sich an ein Ende des großen, bis aufs äußerste verkürzten Speisetisches, unter den so viele vornehme Beine sich gestreckt hatten, Emily an das andere und zwischen sie Val, der die Einsamkeit seiner Großeltern, nachdem jetzt ihre vier Kinder ausgeflogen waren, deutlich empfand. ›Hoffentlich werde ich lange, bevor ich so alt bin wie Großvater, ins Gras beißen,‹ dachte er. ›Armer, alter Knabe, er ist dünn wie 'ne Hopfenstange!‹ Er dämpfte seine Stimme, so lange sein Großvater und Warmson über den Zucker in der Suppe verhandelten, und sagte zu Emily:

»Es geht toll zu bei uns zu Haus, Großmama. Ich vermute, du weißt –«

»Ja, lieber Junge.«

»Onkel Soames war da, als ich fortging. Sage mal, kann man nicht irgend etwas tun, um die Scheidung zu verhindern? Weshalb ist er so arg versessen darauf?«

»Pst, mein Lieber!« flüsterte Emily, »wir haben deinem Großvater nichts davon gesagt.«

James' Stimme ertönte vom andern Ende.

»Was ist das? Wovon sprecht ihr da?«

»Über Vals Studium,« erwiderte Emily. »Der junge Pariser war auch dort, James, du erinnerst dich doch – er sprengte später beinah die Bank von Monte Carlo.«

James murmelte, daß er nichts davon wisse – Val müsse dort oben selbst auf sich acht geben, sonst würde er auf schlechte Wege geraten. Und er sah seinen Enkelsohn mit düsterm Blick an, in dem argwöhnisch Liebe schimmerte.

»Wovor ich mich fürchte,« sagte Val, auf seinen Teller blickend, »ist, in Geldverlegenheit zu kommen, weißt du.«

Er wußte instinktiv, daß der schwache Punkt des alten Mannes die Furcht war, seine Enkelkinder ungesichert zu sehen.

»Nun,« sagte James, wobei die Suppe in seinem Löffel überlief, »du wirst einen guten Zuschuß haben, aber du mußt damit auskommen.«

»Natürlich,« murmelte Val, »wenn er genügend ist. Wieviel wird es sein, Großvater?«

»Dreihundertfünfzig; 's ist eigentlich zuviel. Ich besaß fast nichts in deinem Alter.«

Val seufzte. Er hatte auf vier gehofft und drei gefürchtet. »Ich weiß nicht, was dein junger Vetter hat,« sagte James, »er ist auch dort. Sein Vater ist ein reicher Mann.«

»Du nicht auch?« fragte Val kühl.

»Ich?« erwiderte James aufgeregt. »Ich habe so viele Ausgaben. Dein Vater –« er verstummte.

»Vetter Jolyon hat ein riesig nettes Besitztum – ich war mit Onkel Soames dort – famose Ställe.«

»Ah!« murmelte James. »Dies Haus – ich wußte, wie es kommen würde!« Und er versank in düsteres Nachdenken über seinen Fischgräten. Die Tragödie seines Sohnes, und der tiefe Zwiespalt, in den sie die Familie Forsyte gebracht, hatten noch die Macht, ihn in einen Wirbel von Zweifel und Besorgnis zu ziehen. Val, der darauf brannte, von Robin Hill zu sprechen, weil Robin Hill Holly bedeutete, wandte sich zu Emily und sagte:

»Ist es das Haus, das für Onkel Soames gebaut wurde?« Und als sie zustimmend nickte, fuhr er fort: »Erzähle mir doch davon, Großmama. Was ist aus Tante Irene geworden? Lebt sie noch? Er schien heute abend schrecklich aufgeregt über irgend etwas.«

Emily legte den Finger auf ihre Lippen, aber James hatte das Wort Irene aufgefangen.

»Was ist das?« sagte er mit einem Stück Hammelbraten dicht vor den Lippen. »Wer hat sie gesehen? Ich wußte, daß wir davon noch zu hören bekommen würden.«

»Ach, James,« sagte Emily, »iß doch ruhig weiter. Niemand hat jemand gesehen.«

James legte die Gabel hin.

»So bist du,« sagte er. »Ich könnte sterben, ehe du mir was sagst. Will Soames sich scheiden lassen?«

»Unsinn,« erwiderte Emily mit unvergleichlichem Aplomb; »Soames ist viel zu vernünftig.«

James griff in seinen langen weißen Backenbart am Halse, der nur Haut und Knochen war.

»Sie – sie war immer –« sagte er, und mit dieser rätselhaften Bemerkung schloß die Unterhaltung, denn Warmson war zurückgekommen. Später jedoch, als dem Hammelrücken eine köstliche süße Speise und Dessert gefolgt war und Val einen Scheck von zwanzig Pfund und einen Kuß von seinem Großvater erhalten hatte, – einen Kuß wie kein anderer in der Welt, mit einer gewissen furchtsamen Plötzlichkeit verabfolgt, als gebe er einer Schwäche nach, kam er in der Halle wieder auf die Sache zurück.

»Erzähle mir von Onkel Soames, Großmama. Weshalb ist er so erpicht auf eine Scheidung bei Mutter?«

»Dein Onkel Soames,« sagte Emily mit übertriebener Bestimmtheit, »ist Rechtsanwalt, mein lieber Junge. Er versteht es sicher am besten.«

»Wirklich?« murmelte Val. »Aber was ist aus Tante Irene geworden? Ich erinnere mich, daß sie riesig gut aussah.«

»Sie – ja – sie benahm sich sehr schlecht,« sagte Emily. »Wir sprechen darüber nicht.«

»Aber ich möchte nicht, daß in Oxford jeder von unsern Angelegenheiten weiß,« rief Val aus, »es ist ein brutaler Gedanke. Weshalb kann Vater nicht zurückgehalten werden, ohne daß es veröffentlicht wird?«

Emily seufzte. Dank ihrer Vorliebe für gesellschaftlichen Umgang hatte sie eigentlich immer in einer Atmosphäre von Scheidung gelebt – da viele von denen, die ihre Beine unter ihren Tisch gestreckt hatten, daher zu einer gewissen Berühmtheit gelangt waren. Handelte es sich aber um ihre eigene Familie, so war sie ebenso wenig erbaut davon wie andere Leute. Allein sie war außerordentlich praktisch, eine mutige Frau, die nie einem Schatten nachjagte und sich nicht beirren ließ.

»Deine Mutter,« sagte sie, »wird glücklicher sein, wenn sie ganz frei ist, Val. Gute Nacht, mein lieber Junge; und trage keine auffallenden Westen in Oxford, sie sind jetzt nicht mehr Mode. Hier hast du ein kleines Geschenk.«

Mit weiteren fünf Pfund und ein wenig Wärme im Herzen, denn er liebte seine Großmutter, verließ er das Haus. Ein Wind hatte den Nebel gelichtet, die Herbstblätter raschelten und die Sterne schienen. Mit all dem Geld in der Tasche überkam ihn ein Drang, das ›Leben zu genießen‹, doch er war noch nicht hundert Schritt weit gegangen, als Hollys scheues Gesicht und ihre ernsten Augen mit dem Teufelchen darin vor ihm aufstiegen und es von dem Druck ihrer warmen, in Handschuhen steckenden Hand in der seinen wieder zu prickeln begann. ›Nein, hol's der Teufel!‹ dachte er. ›Ich geh' nach Haus!‹


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