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Zweites Kapitel

Spinnennetz

Soames kehrte am folgenden Tage nach England zurück und erhielt am dritten Morgen einen Besuch von Mr. Polteed, der eine Blume im Knopfloch und einen braunen Schlapphut trug. Soames wies ihm einen Sitz an.

»Die Nachrichten über den Krieg sind nicht schlecht, nicht wahr?« sagte Mr. Polteed. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Mr. Forsyte.«

»Danke, sehr gut.«

Mr. Polteed neigte sich vor, lächelte, öffnete seine Hand, sah hinein und sagte langsam:

»Ich glaube, wir haben Ihre Sache endlich in Ordnung.«

»Wie?« rief Soames.

»19 berichtete ganz plötzlich, was wir einen entscheidenden Beweis zu nennen berechtigt sein dürften,« hier machte Mr. Polteed eine Pause.

»Nun, und?«

»Am 10., nachdem sie früher am Tage Augenzeuge einer Zusammenkunft zwischen 17 und einem Herrn gewesen, kann 19 schwören, diesen im Hotel um zehn Uhr abends aus ihrem Schlafzimmer kommen gesehen zu haben. Dieser Beweis wird, glaube ich, genügen, namentlich, da 17 Paris verlassen hat – ohne Zweifel mit dem betreffenden Herrn. Zwar sind beide uns entwischt, und wir haben sie noch nicht wieder entdeckt, aber wir werden es – wir werden es. Sie hat schwer und unter sehr schwierigen Umständen gearbeitet, und ich bin froh, daß sie es schließlich fertig gebracht hat.« Mr. Polteed nahm eine Zigarette heraus, klopfte mit dem Ende auf den Tisch, sah Soames an und steckte sie wieder zurück. Der Ausdruck in dem Gesicht seines Klienten war nicht sehr ermutigend.

»Wer ist diese neue Person?« fragte Soames plötzlich.

»Das wissen wir nicht. Sie beschwört die Tatsache, und sie schildert die Erscheinung ganz genau.«

Mr. Polteed nahm einen Brief heraus und fing an zu lesen:

»Mittleren Alters, mittelgroß, blauer Anzug am Nachmittag, Gesellschaftsanzug am Abend, blaß, dunkles Haar, kleiner, dunkler Schnurrbart, flache Wangen, gut geformtes Kinn, graue Augen, kleine Füße, schuldiger Blick –«

Soames erhob sich und trat ans Fenster. Er stand dort in rasender Wut. Dieser ausgemachte Idiot – dieser ausgemachte, spinnenhafte Idiot! Sieben Monate zu fünfzehn Pfund die Woche – um als Liebhaber seiner eigenen Frau aufgespürt zu werden! Schuldiger Blick! Er stieß das Fenster auf.

»Es ist heiß,« sagte er und kam an seinen Platz zurück. Er schlug ein Knie über das andere und warf Mr. Polteed einen hochmütigen Blick zu.

»Ich zweifle, daß das genügen wird,« sagte er gedehnt, »ohne Namen und Adresse. Ich denke, Sie lassen die Dame jetzt in Ruhe und beschäftigen sich dafür mit unserm Freund 47.« Ob Polteed ihn zum besten hielt, konnte er nicht sagen, im Geiste aber sah er ihn mitten unter seinen Freunden aufgelöst in unbändigem Lachen. ›Schuldiger Blick!‹ Unerhört!

Mr. Polteed sagte eindringlich, beinah mit Pathos: »Ich versichere Sie, wir haben es zuweilen auf weniger Beweise fertig gebracht als hier. Es ist Paris, wissen Sie. Eine schöne Frau, die allein lebt. Weshalb es nicht riskieren, Sir? Wir müssen andere Saiten aufziehen.«

Soames verstand plötzlich. Der Berufseifer dieses Menschen war angefeuert: ›Größter Triumph meiner Karriere; verhalf einem Manne durch einen Besuch im Schlafzimmer seiner eigenen Frau zur Scheidung! Davon wird man noch reden, wenn ich mich zur Ruhe setze!‹ Und einen wilden Moment lang dachte er: ›Warum nicht?‹ Schließlich, Hunderte von Männern mittlerer Größe hatten kleine Füße und einen schuldigen Blick!

»Ich bin nicht autorisiert, irgend etwas zu riskieren!« sagte er kurz.

Mr. Polteed blickte auf.

»Schade,« sagte er, »sehr schade! Die andere Sache schien sehr langsam zu gehen.«

Soames stand auf.

»Das macht nichts. Bitte, beobachten Sie 47 und hüten Sie sich, Dinge zu finden, die gar nicht existieren. Guten Morgen.«

Mr. Polteeds Augen zwinkerten bei diesen Worten.

»Sehr wohl. Ich werde Sie benachrichtigen.«

Und Soames war wieder allein. Dieses Spionieren, ein schmutziges, ein lächerliches Geschäft! Er legte die Arme auf den Tisch und lehnte seine Stirn daran. Volle zehn Minuten blieb er so, bis ein Schreiber ihn mit dem Entwurf zu einem Prospekt für eine neue, sehr günstige Aktienausgabe von Manifold und Toppings störte. An diesem Nachmittag hörte er früh mit der Arbeit auf und machte sich auf den Weg zum Restaurant ›Bretagne‹. Nur Madame Lamotte war zu Haus. Könnte Monsieur zum Tee bei ihr bleiben?

Soames verneigte sich.

Als sie sich in dem kleinen Zimmer gegenübersaßen, sagte er plötzlich:

»Ich bitte um eine Unterredung mit Ihnen, Madame.«

Der rasche Blick ihrer klaren braunen Augen sagte ihm, daß sie diese Worte längst erwartet hatte.

»Ich habe Sie erst etwas zu fragen: dieser junge Doktor – wie heißt er? Ist irgend etwas zwischen ihm und Annette?«

Ihre ganze Persönlichkeit hatte plötzlich etwas wie Jett – scharf geschliffen, schwarz, hart, glänzend.

»Annette ist jung,« sagte sie, »und das ist monsieur le docteur ebenfalls. Zwischen jungen Leuten kommt es schnell zu etwas, aber Annette ist eine gute Tochter. Ach! Was für ein Juwel von einer Natur!«

Ein ganz leises Lächeln kräuselte Soames' Lippen.

»Nichts Bestimmtes also?«

»Bestimmtes – nein, durchaus nicht! Der junge Mann ist sehr nett – aber was wollen Sie? Er hat kein Geld augenblicklich.«

Sie hob ihre mit Weidenkätzchen gemusterte Tasse; Soames tat das Gleiche. Ihre Blicke trafen sich.

»Ich bin verheiratet,« sagte er, »und lebe seit vielen Jahren getrennt von meiner Frau. Ich bin im Begriff, mich von ihr scheiden zu lassen.«

Madame Lamotte setzte ihre Tasse hin. In der Tat! Was für tragische Dinge es gab! Der völlige Mangel an Gefühl in ihr erweckte eine sonderbare Art von Verachtung in Soames.

»Ich bin ein reicher Mann,« fuhr er fort, obgleich er sich voll bewußt war, daß diese Bemerkung nicht sehr geschmackvoll war. »Es ist unnütz, jetzt mehr zu sagen, aber ich denke, Sie verstehen.«

Die Augen Madames öffneten sich so weit, daß das Weiße darin sichtbar war, und blickten ihn fest an.

»Ah! ça – mais nous avons le temps!« war alles, was sie sagte. »Noch ein Täßchen?« Soames dankte, verabschiedete sich und ging.

Das hatte er nun hinter sich; sie würde nicht zugeben, daß Annette sich mit diesem liebenswürdigen jungen Esel einließ, bis – – Aber wann würde er je sagen können: ›Ich bin frei‹? Wann? Die Zukunft hatte jeden Schein von Wirklichkeit verloren. Er fühlte sich wie eine Fliege, die, im Gespinst eines Spinnennetzes gefangen, wehmütig die Freiheit der Luft ersehnt.

Er wanderte bis zu den Kensington-Gärten und zum Queen's Gate hinunter nach Chelsea. Vielleicht war sie wieder in ihre Wohnung gegangen. Das jedenfalls konnte er herausbekommen. Denn seit der letzten schimpflichen Abweisung hatte er in seinem verletzten Selbstgefühl wieder Zuflucht in der Überzeugung gesucht, daß sie einen Geliebten haben müsse. Er langte zur Mittagszeit vor dem kleinen Hause an. Es war nicht nötig, sich zu erkundigen! Eine grauhaarige Dame begoß die Blumenkästen an ihren Fenstern. Es war offenbar vermietet. Und er ging langsam wieder fort, den Fluß entlang – es war ein Abend von klarer, ruhiger Schönheit, ganz Harmonie und Behagen, doch in seinem Herzen sah es anders aus.


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