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XXVIII

Dinny hatte als Antwort auf ihren Brief ein paar knappe Zeilen von Wilfrid erhalten, die ihr gar nicht tröstlich schienen, und hatte die letzten zwei Tage in schwerem Kummer verbracht. Als ihr Sir Lawrence Wilfrids Botschaft mitteilte, sagte ihr ein Gefühl, nun hänge alles davon ab, ob sie schon vor seiner Rückkehr in der Cork Street sein könne. Während sie im Taxi saß, krampfte sie die Finger ineinander, hielt die Hände auf dem Schoß und den Blick auf den Rücken des Lenkers gerichtet – dieser Rücken war übrigens so breit, daß sie schwerlich anderswohin hätte blicken können. Zwecklos, drüber nachzudenken, was sie sagen sollte – nun, was ihr eben bei seinem Anblick durch den Kopf schoß. Seine Miene würde ihr ein Fingerzeig sein. Sie erkannte nur zu klar: Wenn er England verließ, dann war alles zu Ende, so, als habe sie ihn nie gesehn. In der Burlington Street ließ sie das Auto halten und ging schnell auf Wilfrids Haus zu. Wenn er schnurstracks heimgegangen war, mußte er schon zurück sein. Während der beiden letzten Tage war ihr klar geworden, Stack habe wohl irgendeine Veränderung in Wilfrids Wesen bemerkt und sich danach gerichtet. Als er die Tür öffnete, sagte sie:

«Stack, Sie dürfen mich nicht abweisen! Ich muß Mr. Desert unter allen Umständen sehn.»

Sie glitt an ihm vorbei und öffnete die Tür des Wohnzimmers. Wilfrid schritt auf und ab.

«Dinny!»

Nur ein ungeschicktes Wort, und schon diese Unterredung machte allem ein Ende, das fühlte sie ganz deutlich. Drum lächelte sie nur. Er bedeckte die Augen mit der Hand, und während er so dastand, ohne sie anzusehn, schlich sie herbei und schlang ihm die Arme um den Hals.

Hatte Jeanne vielleicht recht? Sollte sie –?

Dann kam zur offnen Tür Foch herein, er beschnupperte mit seiner samtweichen Schnauze ihre Hand, und sie kauerte nieder, ihn zu küssen. Als sie wieder aufsah, hatte Wilfrid sich abgewandt. Augenblicklich raffte sie sich empor und stand benommen da, fast unfähig, etwas zu denken oder zu fühlen. Alles in ihr schien sich zu verwirren. Er hatte das Fenster aufgerissen, beugte sich hinaus und hielt die Hände an den Kopf. Wollte er sich gar hinabstürzen? Sie nahm sich mit aller Kraft zusammen und bat ganz sanft: «Wilfrid!» Er wandte sich um und warf ihr einen Blick zu. ‹Mein Gott!› fuhr es ihr durch den Sinn, ‹er haßt mich!› Dann änderte sich sein Ausdruck, wurde wieder wie sonst. Und wieder gemahnte sie das Gemüt eines Menschen, dessen Stolz man verwundet, an das Meer – ruhelos, stürmisch, voll jäh wechselnder Stimmungen!

«Nun», fragte sie, «was soll ich also tun?»

«Ich weiß nicht. Das Ganze ist wahnsinnig. Wär ich doch schon längst auf Nimmerwiedersehn nach Siam verschwunden!»

«Möchtest du, daß ich heut nacht hierbleibe?»

«Ja! Nein! Ich weiß nicht.»

«Wilfrid, warum nimmst du das alles so schwer? Meine Liebe scheint dir nichts zu bedeuten. Ist sie dir wirklich nichts?»

Statt aller Antwort zog er Jack Muskhams Brief hervor.

«Da lies!»

Sie las. «Ich verstehe. Doppelt unheilvoll, daß ich nach Royston kam.»

Er warf sich wieder auf den Diwan, blieb sitzen und sah zu Dinny empor.

‹Wenn ich jetzt gehe›, dachte Dinny, ‹reißt es mich ja doch wieder zu ihm zurück.› Und sie fragte: «Wo nimmst du das Abendessen?»

«Stack hat etwas besorgt, glaube ich.»

«Wäre für mich auch etwas da?»

«Übergenug, wenn du nicht mehr Hunger hast als ich.»

Sie klingelte.

«Stack, ich bleibe zum Essen. Ich möchte nur einen Fingerhut voll, mehr nicht.»

Als er draußen war, fragte sie:

«Darf ich mir die Hände waschen, Wilfrid?» Sie sehnte sich, einen Augenblick allein zu sein, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.

Während sie sich Gesicht und Hände trocknete, suchte sie sich mit aller Macht zur Ruhe zu zwingen, dann ließ sie sich plötzlich gehn. Was immer sie beschloß, es würde falsch, vielleicht unmöglich sein, ihr nur Kummer bringen. Wozu alle Müh? Lieber verzichten!

Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, war Wilfrid nicht dort. Die Tür in seinen Schlafraum stand offen, aber das Zimmer war leer. Dinny stürzte ans Fenster, er war nicht auf der Straße. Da vernahm sie hinter sich des Dieners Stimme:

«Entschuldigen Sie, Miss – Mr. Desert ist plötzlich abberufen worden. Ich soll Ihnen melden, er würde schreiben. In einer Minute ist das Essen fertig.»

Dinny trat rasch auf ihn zu.

«Stack, Ihr erster Eindruck von mir war der richtige, nicht der zweite. Ich gehe. Mr. Desert braucht mein Wiederkommen nicht zu fürchten. Melden Sie ihm das, bitte.»

«Ich hab Ihnen ja gesagt, Miss», erklärte Stack ruhig, «er ist ein ungemein plötzlicher Herr, aber so plötzlich hat er noch nie gehandelt. Tut mir wirklich leid, Miss. Aber je rascher Sie Schluß machen, um so besser. Wenn ich Ihnen irgendwie dienen kann, tu ich's gern.»

«Falls er ins Ausland geht», sagte Dinny ruhig, «möcht ich Foch gern zu mir nehmen.»

«Wenn ich Mr. Desert richtig kenne, Miss, will er tatsächlich wieder fort. Ich merk es schon lang – seit dem Abend, an dem dieser Brief kam – damals, vor Ihrem Besuch früh morgens.»

«Reichen Sie mir die Hand», sagte Dinny, «und vergessen Sie meine Bitte nicht!»

Sie tauschten einen Händedruck. Noch immer unnatürlich ruhig, schritt Dinny davon und die Treppe hinab. Mit sonderbar schwindligem Kopf ging sie hin und sagte sich die ganze Zeit nur ein Wort: ‹Aus.› Alles, was sie fühlte oder hatte fühlen wollen, drängte sich in dieses Wort von drei Buchstaben zusammen. Sie fand keinen Ausdruck, keine Träne, nie im Leben war sie so einsam gewesen, so gleichgültig dagegen, wohin sie ging, was sie tat, wen sie traf. Die Welt war wohl unendlich, sonst bräche jetzt ihr Ende herein! Wilfrid hatte vermutlich nicht mit Absicht diesen Weg gewählt, um mit ihr zu brechen. Dazu kannte er sie nicht gut genug. Doch in der Tat hätte kein andrer Weg sie beide so völlig trennen können. Nie würde sie sich an einen Menschen hängen! Unmöglich! Sie brauchte diesen Gedanken nicht erst zu formen, er drängte sich ihr unwillkürlich auf.

Sie ging und ging drei Stunden lang durch die Londoner Straßen und kehrte endlich ins Westminsterviertel zurück; ihr war's, sie müsse sonst umsinken. Als sie wieder Michaels Haus betrat, raffte sie ihre ganze Kraft zusammen, um sich heiter zu geben. Doch kaum war sie in ihr Schlafzimmer hinaufgegangen, sagte Fleur:

«Michael, heut ist ihr etwas ganz Schlimmes passiert.»

«Arme Dinny! Was zum Teufel hat er nur angestellt?»

Fleur trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite. Noch war es nicht völlig Nacht, aber nichts war draußen zu sehn, nur zwei Katzen, ein Auto auf der rechten Straßenseite und ein Mann, der an der Haustür einen Schlüsselbund probierte.

«Soll ich zu ihr hinaufgehn und versuchen, sie zum Sprechen zu bringen?»

«Nein. Wenn Dinny uns braucht, wird sie es selbst sagen. Ist es aber so, wie du meinst, dann mag sie jetzt gewiß niemanden sehn. Sie ist stolz wie der Satan, grade dann, wenn es ihr am schlimmsten geht.»

«Stolz vertrag ich nicht», erklärte Fleur, zog den Vorhang zu und trat zur Tür. «Der Stolz übermannt einen, wenn man es am wenigsten wünscht, und macht einen elend. Willst du Karriere machen, dann verzicht auf den Stolz.» Sie verließ das Zimmer.

‹Weiß nicht, ob ich stolz bin›, dachte Michael, ‹jedenfalls mach ich keine Karriere.› Langsam folgte er ihr die Treppe empor und stand eine Weile in der Tür seines Ankleideraums. Doch aus Dinnys Zimmer oben drang kein Laut.

Dinny aber hatte sich aufs Bett geworfen und das Gesicht in die Kissen vergraben. Das also war das Ende! Warum hatte nur jene seltsame Macht, die man Liebe nennt, sie mit Freude und Qual erfüllt, um sie dann erschöpft und verbraucht beiseite zu schleudern, bebend, verwundet, voll Sehnsucht und Entsetzen – und jetzt mußte sie sich schweigend vor Kummer verzehren! Liebe und Stolz – aber Stolz war stärker als Liebe! Wie ein Mühlrad ging ihr dieser Gedanke im Kopf herum. Ihre Liebe stand gegen seinen Stolz, ihre Liebe gegen ihren eignen Stolz! Und der Stolz errang den Sieg! Bitter, niederschmetternd! Nur ein Augenblick an diesem Abend schien ihr wirklich, der Moment, da er sich vom Fenster ihr zugekehrt und sie geglaubt hatte: ‹Er haßt mich!› Natürlich war es ihm verhaßt, daß sie so dastand wie die Verkörperung seines verwundeten Stolzes. Das allein hatte ihn ja davor bewahrt, hinauszuschrein: ‹Zum Teufel mit euch allen! Adieu!›

Nun, mochte er das jetzt hinausschrein und davonfahren! Und sie, was blieb ihr übrig, als zu leiden – zu leiden – und langsam das Leid zu verwinden. Nein! Ihren Kummer hinabwürgen, niederhalten, verbergen, im Kissen ersticken, sich den Anschein geben, als liege ihr wenig dran, gar nichts, während der Gram in ihr wuchs und sie verzehrte! So lag sie stumm, schwer atmend auf dem Bett. Ihre Gefühle formten sich allerdings nicht zu so klaren Gedanken, doch trotz ihres wilden Schmerzes drängten sich ihr auch Überlegungen auf. Wie hätte sie anders handeln können? Es war ja nicht ihre Schuld gewesen, daß Muskham in jenem Brief vom ‹Schutz einer Dame› gefaselt hatte! Nicht ihre Schuld, daß sie so Hals über Kopf nach Royston fahren mußte! Was hatte sie nur verbrochen? Wie verhängnisvoll hatte der Zufall hereingespielt? Vielleicht war das immer das Ende vom Lied! Während sie so dalag, war's ihr, als höre sie das Ticken der Nacht – das heisere Ticken einer alten Uhr. War es die Nacht oder ihr eigenes Leben, das verlassen auf dem Antlitz lag?


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