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XXVII

Zwei Tage später hatten sich die Cherrells zu einem Familienrat versammelt; Hubert war nämlich unerwartet zu seinem Regiment im Sudan zurückberufen worden und wollte vor seiner Abreise die Angelegenheit Dinnys entschieden sehn. Daher fanden sich die vier Brüder Cherrell, ferner Sir Lawrence Mont, Michael und Hubert selbst nach Beendigung der Sitzung des Herrn Richters Cherrell in Adrians Zimmer im Museum ein. Alle waren sich darüber klar, daß die Beratung vielleicht zu nichts führen würde, denn sogar Regierungskabinette kommen zur Einsicht, daß Entscheidungen zwecklos sind, wenn ihre Durchführung sich nicht erzwingen läßt.

Michael, Adrian und der General, die Wilfrid persönlich kannten, sprachen am wenigsten, Sir Lawrence und der Richter am meisten; Hubert und Hilary waren bald gesprächig, bald stumm.

Die Sache stand schlimm! Von diesem allgemein anerkannten Satz gingen sämtliche Anwesende aus, dann aber trennten sich die Geister: Adrian, Michael und in gewissem Sinn auch Hilary waren der Ansicht, man müsse eben abwarten, weiter lasse sich nichts tun; die andern meinten, man könne gar viel tun, wußten aber nicht was.

Michael, der seine vier Onkel nie zuvor so nah beisammen gesehn hatte, war über ihren ähnlichen Teint und Gesichtsschnitt ganz erstaunt, nur die Augen waren verschieden: Hilary hatte blaue, Lionel graue, der General tiefbraune, Adrian haselnußbraune. Sie alle traten bemerkenswert ruhig auf und hatten magere, bewegliche Gestalten. Huberts Jugend brachte diese charakteristischen Merkmale noch deutlicher zur Geltung, seine haselnußbraunen Augen wirkten bisweilen fast grau.

«Könntest du sie nicht als Richter mahnen, Lionel?» hörte Michael seinen Vater sagen und darauf Adrians ungeduldigen Einwand:

«Wir müssen Dinny freie Hand lassen; einfach lächerlich, sie am Gängelband zu führen. Sie hat ein warmes Herz, ist selbstlos und sehr vernünftig.»

«Das wissen wir alle, Onkel», gab Hubert zurück, «aber sie stürzt sich in ein entsetzliches Unglück, und wir dürfen nicht ruhig zusehn.»

«Was können wir denn tun?»

‹Berechtigte Frage!› dachte Michael und sagte: «Sie weiß ja selbst noch nicht, wo sie hält.»

«Hubert, könntest du sie nicht dazu bewegen, mit dir in den Sudan zu gehen?» fragte der Richter.

«Ich hab allen Einfluß auf sie verloren.»

«Wenn jemand sie dringend brauchte –» hob der General an und verstummte.

«Auch dann nicht», murmelte Adrian, «außer sie wäre überzeugt, daß Desert sie nicht mehr braucht.»

Hilary nahm die Pfeife aus dem Mund. «Hat wer von euch Desert schon auf den Zahn gefühlt?»

«Ich», sagte der General.

«Und ich, zweimal», sagte Michael leise.

«Vielleicht könnte ich ihn aufs Korn nehmen», bemerkte Hubert düster.

«Lieber Freund, tu das ja nicht», fiel Sir Lawrence ein, «wenn du nicht ganz sicher bist, daß du kühles Blut bewahrst.»

«Dafür kann ich nicht einstehn.»

«Dann laß es bleiben!»

«Vater, möchtest nicht du zu ihm gehn?» fragte Michael.

«Ich?»

«Dich hat er immer geachtet.»

«Bin nicht einmal ein Blutsverwandter!»

«Vielleicht hast du doch Glück, Lawrence», meinte Hilary.

«Warum grade ich?»

«Von uns andern kann keiner zu ihm gehn – aus diesem oder jenem Grund.»

«Warum nicht du?»

«In gewisser Weise geb ich Adrian recht, man muß Dinny freie Hand lassen.»

«Was habt ihr eigentlich gegen Deserts Heirat mit Dinny einzuwenden?» fragte Adrian. Rasch wandte sich der General nach ihm herum.

«Gezeichnet wäre sie – ihr Leben lang!»

«Denk doch an jenen Mann, der zu seiner Frau hielt, auch als sie schon verurteilt und überführt war. Jedermann schätzte ihn dafür nur um so höher.»

«Die ärgste Hölle ist es», meinte der Richter, «sehn zu müssen, wie die Leute auf den Gatten mit Fingern zeigen.»

«Dinny gewöhnt sich vielleicht dran.»

«Verzeih», murmelte Michael, «du triffst nicht den Kern der Sache, und der liegt, scheint mir, in Wilfrids eigenem Charakter. Wenn er sie heiratet und weiterhin verbittert und mit sich selbst zerfallen bleibt, das ist für sie die Hölle. Und je mehr sie ihn liebt, um so schlimmer für sie.»

«Ganz richtig, Michael», stimmte Sir Lawrence unerwartet zu, «es lohnte wohl die Mühe, daß ich hinginge und ihm das vor Augen hielte.»

Michael seufzte.

«Was auch geschieht, für die arme Dinny bleibt es die Hölle.»

«Aus Nacht zum Licht», murmelte Hilary aus seiner Rauchwolke hervor.

«Onkel Hilary, glaubst du das selbst?»

«Nicht ganz fest.»

«Dinny ist sechsundzwanzig. Das ist ihre erste Liebe. Wenn es schiefgeht, was dann?»

«Heiraten.»

«Einen andern?»

Hilary nickte.

«Schönes Vergnügen!»

«Das Leben ist ein Vergnügen.»

«Nun, Lawrence», fragte der General scharf, «gehst du?»

Sir Lawrence starrte ihn einen Augenblick an, dann erwiderte er: «Ja.»

«Ich danke dir.»

Zwar war keinem der Anwesenden klar, wozu dieser Besuch eigentlich führen solle, doch war es immerhin eine Art Entscheidung, noch dazu eine, die durchführbar schien.

Sir Lawrence traf Wilfrid gegen Abend desselben Tages auf den Stufen des Hauses in der Cork Street. Wilfrids blauer Fleck war so ziemlich verschwunden und das Pflaster vom Kinn entfernt.

«Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie ein Stückchen begleite?» fragte er.

«Nicht das Geringste, Sir.»

«Gehn Sie in einer bestimmten Richtung?»

Wilfrid zuckte die Achseln und schritt neben ihm hin. Endlich erklärte Sir Lawrence:

«Nicht zu wissen, wohin man geht, ist wohl das Schlimmste.»

«Da haben Sie recht.»

«Weshalb gehn Sie dann und wollen noch dazu jemand anders auf Ihren Weg mitnehmen? Verzeihn Sie, wenn ich so unumwunden frage: Würden Sie sich aus der ganzen Affäre das mindeste machen, wenn Dinny nicht im Spiel wäre? Was hält Sie außer Dinny in London fest?»

«Gar nichts. Doch Erörterungen über dieses Thema wünsche ich nicht. Verzeihn Sie, wenn ich hier abbiege.»

Sir Lawrence blieb stehn. «Einen Augenblick, dann biege ich ab. Haben Sie sich klar gemacht, Mr. Desert, daß ein Mensch, der mit sich selbst zerfallen ist, nicht zum Ehepartner taugt? Wenigstens, solang er diese Krise nicht überwunden hat? Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe; aber es ist genug. Überlegen Sie es wohl!» Sir Lawrence zog den Hut und machte kehrt. Gott sei Dank, nun hatte er's überstanden! Welch ein ungemütlicher Patron! Na, wenigstens hatte er alles gesagt, was er ihm hatte sagen wollen! Auf dem Weg in die Mount Street sann er drüber nach, was für Schranken die Tradition dem Menschen zieht. Tradition, überlieferte Ideale! Wenn die nicht wären, würde sich Wilfrid als Feigling fühlen? Oder Dinnys Familie sich ereifern? Hätte Lyall ohne sie sein verwünschtes Gedicht geschrieben? Wäre ohne sie der Korporal des dritten Linienregiments nicht auch ausgekniffen? War auch nur ein einziger dieser Cherrells heute im Familienrat ein gläubiger Christ? Nicht einmal Hilary – seinen Kopf wollte er wetten! Und doch konnte kein einziger diesen Abfall vom Glauben verzeihn. Nicht die Religion trug dran Schuld, sondern Deserts Flucht vor der Gefahr! Das war für die Leute das rote Tuch. Der Vorwurf der Feigheit oder doch mindestens Gleichgültigkeit gegen die Ehre des Vaterlands! Freilich, eine Million Briten waren im Weltkrieg für diese Ehre gefallen. Hatten die alle für ein Hirngespinst den Tod erlitten? Auch Desert selbst wäre dabei fast ums Leben gekommen, hatte die Tapferkeitsmedaille oder weiß der Teufel was für Auszeichnungen erhalten. Welche Kette von Widersprüchen! Die Menschen gaben ihr Leben fürs Vaterland – in der Armee, aber nicht in der Wüste, in Frankreich, aber nicht in Darfur!

Da hörte er eilige Schritte, wandte sich um und sah Desert hinter sich herlaufen. Sir Lawrence war geradezu erschüttert, als er in dies abgezehrte, sonnverbrannte Gesicht mit den zuckenden Lippen und dem tiefschmerzlichen Blick sah.

«Sie hatten ganz recht», erklärte Desert, «ich wollte es Ihnen gleich sagen. Ich reise ins Ausland, bitte, teilen Sie das Dinnys Familie mit.»

Sir Lawrence war über diesen vollständigen Erfolg seiner Mission tief bestürzt. «Hüten Sie sich!» gab er zurück. «Sie könnten Dinny ein schweres Unrecht tun.»

«Das tu ich in jedem Fall. Ich danke Ihnen für diese Unterredung. Sie haben mir die Augen geöffnet. Leben Sie wohl!» Er wandte sich um und war verschwunden.

Sir Lawrence blieb stehn und starrte ihm nach, betroffen von dem leidenden Ausdruck des jungen Mannes. Als er sein Haus betrat, fragte er sich, ob er den Karren nun nicht erst recht verfahren habe. Während er Hut und Stock hinlegte, kam Lady Mont die Treppe herab.

«Lawrence, mir ist so bang! Was hast du getan?»

«Mit dem jungen Desert gesprochen und ihn wahrscheinlich zur Einsicht gebracht, daß ein Mann, solang er mit sich selbst zerfallen ist, nicht zum Ehepartner taugt.»

«O weh!»

«Warum?»

«Er wird fortreisen. Ich hab's ja immer gewußt, er reist fort. Du mußt Dinny augenblicklich mitteilen, was du angerichtet hast.» Und sie trat ans Telephon.

«Fleur, bist du's? … Ach Dinny! … Hier Tante Em! … Ja … Kannst du zu uns kommen? … Warum nicht? … Das ist doch kein Grund … Du mußt unbedingt kommen! Lawrence will mit dir sprechen … Du kommst sofort? Ja. Er hat eine große Dummheit begangen … Was? … Nein! … Er wird dir alles erklären … In zehn Minuten … gut.»

‹Mein Gott!› dachte Sir Lawrence; ihm war plötzlich klar geworden, man brauche nur in einer Versammlung zu sitzen, um alles natürliche Gefühl zu ersticken. Sooft die Regierung in Verlegenheit geriet, setzte sie eine Kommission ein. Sooft ein Privatmann eine Dummheit beging, beriet er sich mit seinem Anwalt in Zivil- oder Strafsachen. Hätte er selbst nicht an jenem Familienrat teilgenommen, wäre ihm dann je im Traum eingefallen, zu dem jungen Desert zu gehn und Öl ins Feuer zu gießen? Der Familienrat hatte sein natürliches Gefühl abgestumpft. Er war zu Wilfrid gegangen wie ein Geschworner, der nach mehrtägiger Verhandlung in den Gerichtssaal zurückkehrt, um sein Urteil abzugeben. Und jetzt mußte er sich vor Dinny rechtfertigen. Wie zum Kuckuck sollte er das anstellen? Er trat in sein Arbeitszimmer und bemerkte, daß seine Frau hinter ihm herkam.

«Lawrence, du mußt ihr haargenau erzählen, was du tatest und wie er es aufnahm. Sonst ist es vielleicht zu spät. Ich bleibe zugegen, bis du damit zu Ende bist.»

«Das scheint mir ganz überflüssig, Emily, da du ja gar nicht weißt, was er und ich sagten.»

«Nein», erklärte Lady Mont, «wenn ein Mensch ein Unrecht begangen hat, ist kein Versuch überflüssig, es wieder gutzumachen.»

«Deine Familie beauftragte mich, hinzugehn und mit ihm zu sprechen.»

«Du hättest eben mehr Vernunft haben sollen. Wenn du Dichter wie Kneipwirte behandelst, werden sie rabiat.»

«Im Gegenteil. Er hat sich bei mir bedankt.»

«Um so schlimmer. Dinnys Auto muß vor der Haustür auf sie warten.»

«Emily», bat Sir Lawrence, «wenn du dein Testament machen willst, sag es mir vorher.»

«Warum?»

«Weil du wenigstens einmal im Leben etwas ohne Gedankensprünge machen sollst.»

«Alles, was ich habe», erklärte Lady Mont, «soll Michael erhalten und für Catherine aufbewahren. Wenn ich bei Kits Eintritt ins Harrow-College nicht mehr am Leben bin, soll er meines Großvaters alten Becher erhalten, der im Wandschrank meines Wohnzimmers im Schloß Lippinghall aufbewahrt ist. Aber in die Anstalt soll er den Becher nicht mitnehmen, sonst schmelzen die Burschen ihn vielleicht noch ein oder trinken Pfefferminztee draus oder so was Ähnliches. Ist das klar?»

«Vollkommen.»

«Dann halte dich bereit», gebot Lady Mont, «und fang unverzüglich an, sobald Dinny da ist.»

«Na schön!» sagte Sir Lawrence ganz geknickt. «Aber wie zum Kuckuck soll ich es Dinny beibringen?»

«Sag ihr alles haargenau, ohne Erfindung.»

Sir Lawrence trommelte mit den Fingern an die Fensterscheiben, seine Frau starrte zur Decke empor. In dieser Haltung traf Dinny die beiden an.

«Blore, laß Miss Dinnys Auto warten.»

Beim Anblick seiner Nichte erkannte Sir Lawrence, er müsse tatsächlich für eine Zeitlang alles Gefühl verloren haben. Ihr Gesicht unter dem kastanienbraunen Haar schien bleich, die Züge scharf, der Blick ihrer Augen wollte ihm nicht gefallen.

«Fang an!» gebot Lady Mont.

Sir Lawrence zog die eine seiner magern Schultern hoch, wie um sich zu ducken.

«Liebe Dinny, dein Bruder wurde zu seinem Regiment zurückberufen, und die Deinen baten mich, mit dem jungen Desert zu sprechen. Ich ging hin. Ich sagte ihm, solang er mit sich selbst zerfallen sei, tauge er nicht zum Ehepartner; erst müsse er diese Krise überwinden. Er gab keine Antwort und lief davon. Kurz darauf kam er mir in unsrer Straße nach und erklärte, ich hätte recht. Er gehe ins Ausland, das solle ich deiner Familie sagen. Dabei sah er seltsam verstört drein. Ich rief: ‹Hüten Sie sich! Sie könnten ihr schweres Unrecht tun.› ‹Das tu ich in jedem Fall›, gab er zurück und ging davon. Das trug sich vor etwa zwanzig Minuten zu.»

Dinny sah von einem zum andern, bedeckte mit der Hand die Lippen und verließ das Zimmer.

Einen Augenblick später hörten die beiden ihr Auto fortfahren.


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