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XIV

Als Adrian am selben Nachmittag ungefähr um dieselbe Stunde in den Sprengel seines Bruders kam und die ärmliche Straße überquerte, die zum Pfarrhaus St. Augustin im Grünen führte, sah man sechs Häuser weit um die Ecke eine für die Engländer bezeichnende Szene.

Vor einem verwahrlosten Gebäude stand ein Krankenwagen, und alle Passanten, die dringend zu tun hatten, blieben stehn und sahn zu. Adrian schloß sich ihnen an. Aus der elenden Behausung trugen eine Krankenwärterin und zwei Männer ein Kind auf einer Tragbahre, hinterdrein lief, jammernd, feuerrot im Gesicht, ein Weib in mittleren Jahren und ein knurrender bleicher Mann mit Schnauzbart.

«Was ist los?» fragte Adrian den Schutzmann.

«Das Kind muß operiert werden. Die Leute tun, als wollte man es umbringen, und dabei will man es doch pflegen, so gut man nur kann. Da ist der Pfarrer; wenn es dem nicht gelingt, die Leute zu beruhigen, dann kann's keiner.»

Adrian sah seinen Bruder aus dem Hause treten und auf den bleichen Mann zugehn. Der hörte auf zu knurren, doch das Weib jammerte um so lauter. Das Kind war bereits in den Krankenwagen geschafft, die Frau stürzte schwerfällig auf die Wagentür los.

«Sind die bei Vernunft?» fragte der Schutzmann im Weitergehn.

Adrian sah, wie Hilary der Frau die Hand auf die Schulter legte. Sie wandte sich um und riß den Mund auf, offenbar, um den Pfarrer beschwörend um Hilfe anzuflehn, stieß aber nur ein leises Wimmern hervor. Hilary legte seinen Arm in ihren und zog sie ruhig ins Haus zurück. Der Krankenwagen fuhr davon. Adrian trat auf den bleichen Mann zu und bot ihm eine Zigarette an. Der nahm sie, erwiderte ‹Danke, Herr!› und folgte seiner Frau ins Haus.

Alles war vorüber. Die kleine Schar der Gaffer hatte sich verlaufen, der Schutzmann blieb allein zurück.

«Der Pfarrer wirkt wahrhaftig Wunder», meinte er.

«Mein Bruder», erklärte Adrian.

Des Schutzmanns Blick verriet größere Achtung.

«Ein rarer Mensch, der Pfarrer.»

«Ganz Ihrer Meinung. Dem Kind geht es wohl sehr schlecht?»

«Ohne Operation hätte es den heutigen Tag nicht überlebt. Die Eltern haben wie mit Absicht bis zur letzten Minute gewartet. Ein Glück, daß zufällig der Pfarrer dazu kam. Manche Leute sterben lieber, eh sie ins Spital gehn oder gar ihre Kinder hinschicken.»

«Sie wollen eben unabhängig sein», erklärte Adrian. «Ich kann's ihnen nachfühlen.»

«Wenn Sie die Sache von diesem Standpunkt betrachten, haben Sie ja recht, Sir. Mir geht's auch nicht anders. Zu Haus aber führt das Kind ein erbärmliches Leben und im Spital ist für alles aufs beste gesorgt.»

«Klein, aber mein», zitierte Adrian.

«Stimmt», entgegnete der Schutzmann. «Dieser Grundsatz ist schuld, daß die Elendsviertel weiterbestehn. In der ganzen Gegend hier wohnen die Leute in erbärmlichen Löchern, doch probieren Sie's nur einmal, das Volk zum Übersiedeln zu bewegen – da können Sie was erleben! Der Pfarrer schafft hier viel Gutes durch den Fürsorgedienst. Wenn Sie wollen, geh ich hinein und sag ihm, daß Sie da sind!»

«Danke, ich wart schon.»

«Sie glauben gar nicht», fuhr der Schutzmann fort, «mit was für einem Leben sich die Leute abfinden, wenn sich nur niemand einmischt. Nennen Sie's, wie Sie wollen: Sozialismus, Kommunismus, Regierung des Volks für das Volk – am Ende läuft alles drauf hinaus, daß man sich in die Angelegenheiten der Leute einmischt. – Heda! Weiterfahren! In dieser Straße ist das Hausieren verboten!»

Ein Mann mit einem Schiebkarren, der den Mund schon zu dem Ruf: ‹Seeschnecken!› geöffnet hatte, schloß ihn wieder.

Adrian, voll Interesse für die etwas verworrene Philosophie des Schutzmanns, wartete gespannt auf weitere Ausführungen. In diesem Augenblick jedoch trat Hilary aus dem Haus und kam auf die beiden zu.

«Die sind unschuldig dran, wenn das Kind am Leben bleibt», meinte er, erwiderte den Gruß des Schutzmanns und fragte: «Gehn die Petunien auf, Bell?»

«Jawohl, Sir, meine Frau hütet sie wie ihren Augapfel.»

«Ausgezeichnet! Bitte, hören Sie! Auf Ihrem Heimweg kommen Sie ja an dem Spital vorüber. Könnten Sie sich statt meiner nach dem Befinden des Kindes erkundigen und mich anklingeln, falls es schlecht steht?»

«Gern, Herr Pfarrer, mit Vergnügen.»

«Danke, Bell. Komm doch zu uns, alter Junge, und nimm eine Tasse Tee.»

Mrs. Hilary war bei einer Versammlung, die Brüder saßen allein beim Tee.

«Ich komme Dinnys wegen», bemerkte Adrian und trug seine Geschichte vor.

Hilary steckte sich eine Pfeife an. Endlich sagte er: «‹Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!› – das klingt ja ungemein schön und tröstend, solang man eine Sache nicht selbst in die Hand nehmen muß. Ist das aber der Fall, dann hilft einem dieser fromme Spruch keinen Pfifferling. Denn jede Entscheidung beruht auf einem Urteil, mag man es nun aussprechen oder stillschweigend fällen. Ist Dinny arg verliebt?»

Adrian nickte. Hilary tat einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.

«Also mir gefällt diese Geschichte ganz und gar nicht. Ich habe Dinny stets ein ungetrübtes Leben gewünscht, und nun scheint ein Sturm zu drohn. Der Versuch, ihr die Sache vom Standpunkt der andern klarzumachen, hat wohl wenig Aussicht auf Erfolg?»

«Keinen, denk ich.»

«Soll ich in dieser Angelegenheit irgend etwas unternehmen?»

Adrian schüttelte den Kopf. «Ich wollte nur deine Stellungnahme erfahren.»

«Dinny macht mir Sorge, sie sieht bösen Tagen entgegen. Dieser Glaubenswechsel geht mir arg wider den Strich, ich weiß selbst nicht warum – entweder weil ich Pfarrer bin oder Engländer und in Harrow erzogen – vermutlich ist es eher das letztere.»

«Wenn Dinny wirklich nicht von ihm läßt», meinte Adrian, «dann dürfen auch wir sie nicht im Stich lassen. Mir sagt schon lang mein Gefühl: Wenn ein Wesen, das wir lieben, sich in eine uns verhaßte Idee verrennt, dann bleibt nichts übrig, als diese Idee eben mit in Kauf zu nehmen. Ich will versuchen, ihn liebzugewinnen und die Angelegenheit von seinem Gesichtspunkt zu betrachten.»

«Vermutlich hat er überhaupt keinen», entgegnete Hilary. «Höchstwahrscheinlich ist er blindlings hineingesprungen und gesteht sich das heimlich selbst ein.»

«Um so tragischer für beide. Ein Grund mehr, daß man ihnen zur Seite stehen muß.»

Hilary nickte.

«Den armen lieben Conway wird das schwer treffen. Das gibt den Leuten wieder einmal willkommenen Anlaß, sich als Sittenrichter aufzuspielen. Ich höre schon die Meute heulen.»

«Vielleicht aber», wandte Adrian ein, «zucken die modernen Skeptiker nur die Achseln und meinen: ‹Wieder ein kleines Vorurteil über Bord geworfen.›»

Hilary schüttelte den Kopf.

«Man wird allgemein glauben, er sei ausgekniffen, um sein Leben zu retten. Mag die Welt heutzutage noch so skeptisch über Religion, Patriotismus, das britische Weltreich, den Begriff des Gentleman und so weiter denken – um es offen herauszusagen: Feigheit mißfällt ihr noch immer. Ich will durchaus nicht bestreiten, daß viele selber feig sind, doch bei andern mißfällt einem die Feigheit. Und wenn die Leute ihre Mißbilligung ungestraft äußern dürfen, dann machen sie kein Hehl daraus.»

«Vielleicht kommt aber die Geschichte gar nicht ans Licht.»

«Sie muß herauskommen, auf die eine oder andre Weise. Je eher, desto besser für den jungen Desert. Das gibt ihm vielleicht sein seelisches Gleichgewicht wieder. Arme, kleine Dinny! Das wird ihren Sinn für Humor auf eine schwere Probe stellen. Ach, die Geschichte macht mir noch graue Haare. Was sagt Michael dazu?»

«Hab ihn seither nicht gesehn.»

«Wissen Lawrence und Emily davon?»

«Wahrscheinlich.»

«Im übrigen gilt es, reinen Mund zu halten, wie?»

«Ich muß jetzt gehn.»

«Und ich», erklärte Hilary, «schnitze meine Gefühle in eine römische Galeere. Eine halbe Stunde hab ich Zeit dafür, falls das Kind nicht im Sterben liegt.»

Adrian eilte ins Bloomsburyviertel zurück. Unterwegs versuchte er, sich an die Stelle eines Mannes zu versetzen, dem man unerwartet den Garaus machen will. Keine Zukunft vor Augen, keine Hoffnung auf ein Wiedersehn mit seinen Lieben, keine Gewißheit, ja auch nur Wahrscheinlichkeit einer bewußten persönlichen Fortdauer nach dem Tode! ‹So ganz jählings dem Tod gegenüber, ohne Zeugen›, dachte er, ‹wie bitter! Wer von uns kann sagen, wie er an Deserts Stelle gehandelt hätte?›

Seine Brüder, der Soldat und der Priester, hätten es ganz einfach als ihre Pflicht erachtet, zu sterben. Und auch sein dritter Bruder, der Richter, wäre kaum andrer Meinung gewesen, nur hätte er vielleicht vorher versucht, den Fall zu erörtern und den Feind durch Vernunftgründe umzustimmen. ‹Was hätte aber ich selbst getan?› fuhr es ihm durch den Sinn. ‹Verdammt zuwider, für einen Glauben, den ich längst verloren, den Tod leiden zu sollen in irgendeinem weltfernen Winkel, ohne daß diese Tat jemandem nützt oder auch nur zu Ohren kommt.› Im Augenblick vor eine derartige Entscheidung gestellt, ohne die Pflicht, das Ansehn eines Berufs oder Amts wahren zu müssen; ohne Zeit, die Folgen zu bedenken und abzuwägen – da blieb nichts übrig, als sich auf den Instinkt zu verlassen. Das Temperament mußte hier den Ausschlag geben. Wie nun, wenn man ein Temperament besaß, wie es sich in den Dichtungen des jungen Desert offenbarte? Wenn man zu der Gesellschaft in Gegensatz stand, ihr zumindest entfremdet war und, voll Abneigung gegen die nüchterne englische Bulldoggenart, sich heimlich mehr zu den Arabern hingezogen fühlte als zu den eignen Landsleuten? Mußte man da nicht todsicher ebenso wie der junge Desert handeln? ‹Weiß der Himmel, was ich in solcher Lage getan hätte›, dachte Adrian. ‹Doch ich kann ihn verstehn und Mitgefühl für ihn aufbringen. Jedenfalls will ich zu Dinny halten und ihr beistehn, wie sie mir in jener Affäre mit Forest zur Seite stand.› Und nachdem er zu diesem Entschluß gekommen war, wurde ihm ein wenig leichter ums Herz …

 

Hilary aber schnitzte an seiner römischen Galeere. Das Studium des klassischen Altertums, das er nun so lang vernachlässigt, hatte ihn zum Priesterberuf geführt – er begriff jetzt selbst nicht mehr, wie das geschehen konnte. Wie hatte er sich nur in seiner Jugend einbilden können, er sei zu diesem Beruf geeignet? Warum war er nicht lieber Förster geworden, Cowboy, oder irgend etwas andres, was man in freier Natur betrieb, nicht in den Elendsvierteln einer düstern Großstadt? Stand seine Religion auf dem Boden der Offenbarung, ja oder nein? Nein? Auf welchem Boden stand sie dann überhaupt? Er hobelte an dem Hinterdeck seiner römischen Galeere – wie viele fremde Sklaven hatten die Römer auf solch einem Galeerendeck schwitzen lassen! – und dachte: ‹Ich diene einer Idee, deren Dogmengebäude einer nähern Prüfung nicht standhält!› Und dennoch, das Wohl der Menschheit war es wert, daß man sich darum bemühte! Der Arzt erstrebte es inmitten von allerlei Humbug und unnützem Getue, der Staatsmann trotz der Erkenntnis, daß die Demokratie, die ihn auf den Schild gehoben, die Unwissenheit in Person war. Man bediente sich gewisser Formen, an die man selbst nicht glaubte, und mahnte andere, dran zu glauben. Das ganze Leben – ein einziges Kompromiß. ‹Wir sind alle Jesuiten›, fuhr es ihm durch den Sinn, ‹und glauben, daß der Zweck die Mittel heiligt. Ich hätte für mein Kleid sterben müssen wie ein Soldat für des Kaisers Rock – und doch, was bedeutet es in dieser Welt und was in jener?›

Das Telephon klingelte, eine Stimme rief:

«Den Herrn Pfarrer! – Jawohl, Sir – das Mädchen. Nicht mehr zu operieren. Wenn Sie kommen könnten, Sir –»

Hilary legte das Hörrohr nieder, langte rasch nach dem Hut und lief fort. Unter seinen vielen Amtspflichten waren die Besuche am Sterbebett am wenigsten nach seinem Geschmack, und als er vor dem Spital aus dem Taxi sprang, verbarg sein gefurchtes, starres Gesicht echtes Entsetzen. Solch ein Kind noch! Und keine Hilfe! Man konnte sie nur an der Hand halten und ein paar Gebete herunterleiern. Ein Verbrechen, daß die Eltern gewartet hatten, bis es zu spät war! Die verdienten dafür das Zuchthaus! Doch dann hätte man das ganze britische Volk einsperren müssen, es gab ja stets erst in letzter Minute seine Unabhängigkeit preis, und dann war es oft schon zu spät!

«Hier herein, Sir», sagte eine Pflegerin.

In einem blendend weißen kleinen Vorraum sah Hilary unter weißen Decken eine kleine verfallene Gestalt, deren Züge schon die Spuren des nahen Todes zeigten. Er ließ sich neben ihr nieder und suchte nach Worten, um dem Kind in seinem letzten Augenblick ein wenig Trost und Wärme zu spenden.

‹Sie braucht noch nicht zu beten›, dachte er, ‹sie ist noch zu jung.›

Mühsam rang sich des Kindes Blick aus dem bleiernen Morphiumschlaf, irrte entsetzt durch den Raum und hing schaudernd erst an der weißgekleideten Gestalt der Pflegerin, dann an dem Arzt im Spitalskittel. Hilary hob die Hand.

«Könnten Sie mich nicht einen Augenblick mit ihr allein lassen?» fragte er.

Die beiden gingen ins Nachbarzimmer hinüber.

«Loo!» sagte Hilary sanft.

Beim Klang seiner Stimme hielten die Blicke des Mädchens in ihrem rastlosen, entsetzten Wandern inne und blieben dann an seinem Lächeln hangen.

«Ist das nicht ein nettes, reines Zimmer? Loo, was hast du am liebsten in der Welt?»

Fast unhörbar kam es von den weißen, verzerrten Lippen: «Kino.»

«Das sollst du jetzt täglich sehn – zweimal im Tag. Stell dir nur vor! Schließ die Augen, schlaf fest, und wenn du aufwachst, fängt das Kino an. Schließ die Augen, ich erzähl dir eine Geschichte. Niemand soll dir was zu leid tun, verstehst du? Ich bin ja bei dir.»

Er dachte, sie habe die Augen fest geschlossen; plötzlich befielen das Kind wieder heftige Schmerzen; es begann zu wimmern und schrie auf.

«O Gott!» murmelte Hilary. «Doktor, noch eine Injektion, rasch!»

Der Arzt gab ihr eine Morphiumeinspritzung.

«Lassen Sie uns wieder allein.»

Der Arzt verschwand, langsam kehrte der Blick des Kindes zu Hilarys lächelndem Antlitz zurück. Er legte seine Finger auf die kleine, abgezehrte Hand.

«Jetzt paß auf:

‹Das Walroß und der Zimmermann spazierten Hand in Hand,
Sie weinten sich die Augen rot in diesem Meer von Sand.
’Und fegten mit sieben Besen hier sieben Mägde jahraus jahrein –
Was meinst du, brächten sie dies Land vom Sande endlich rein?‘
’Glaub kaum‘, sprach drauf der Zimmermann, ’nie wird's hier rein, nie wieder!‘
Und eine bittre Träne rann ihm von der Wange nieder.›»

Hilary sprach weiter und weiter, sagte das ganze Gedicht auf. Und während er es mit gedämpfter Stimme vortrug, fielen dem Kind die Augen zu, die kleine Hand wurde stets kühler.

Er spürte die eisige Kälte seinen Arm durchdringen und dachte: ‹Gott, wenn du bist, dann zeig ihr Kinobilder!»


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