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XXI

Als Wilfrid Mr. Compson Grice im ‹Jasmin›-Restaurant verließ, war er verwirrt und verärgert. Zwar sah er der Seele seines Verlegers nicht ganz auf den Grund, ahnte aber doch, daß ihn Mr. Grice für seine Zwecke ausgebeutet habe; den ganzen Rest des Nachmittags wanderte er ruhelos umher und empfand bald Erleichterung, weil er alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, bald Zorn über den unwiderruflichen Schritt. Diese Gedanken und Gefühle bedrängten ihn so sehr, daß er sich nicht klar darüber wurde, wie schwer sein Brief Dinny verletzt haben mußte. Erst als er in seine Wohnung zurückkam und dort ihre Antwort fand, flog ihr sein ganzes Herz entgegen und er stürmte hinaus auf den Platz beim Reiterdenkmal, wo sie ihn zufällig getroffen. In den wenigen Minuten, die sie stumm, aneinandergeschmiegt die Mount Street auf und ab gewandert waren, hatte sich Dinnys Anschauung, daß nun nicht einer, sondern beide der Welt Trotz bieten müßten, auch auf ihn übertragen. Wozu also sie fernhalten und noch unglücklicher machen als unbedingt nötig? Am nächsten Morgen sandte er ihr durch Stack ein paar Zeilen und lud sie zu einer Ausfahrt ein. Er hatte das Derby ganz vergessen und ein Strom von Wagen sperrte ihrem Auto den Weg.

«Ich hab noch nie das Derby gesehn», sagte Dinny. «Könnten wir nicht hinfahren?»

Sie hatten dazu um so mehr Grund, als sie in diesem Gewühl kaum eine Möglichkeit fanden, anderswohin zu gelangen.

Dinny war über den nüchternen Eindruck erstaunt, den dieser Schwarm von Besuchern machte. Kein Alkohol, keine Flaggen, kein Eselsgespann, keine Masken, keine Scherze. Kein einziger Vierspänner zu sehn, keine Obsthändler mit ihren Karren, nur eine dichtgedrängte Schar meist geschloßner Omnibusse und Wagen wälzte sich vorwärts.

Als sie endlich ihr Auto beim Rennplatz eingestellt, ihre belegten Brote verzehrt und sich ins Gewühl begeben hatten, wandten sie sich unwillkürlich nach der Richtung, wo sie ein Pferd zu sehen hofften.

Friths ‹Derbytag› entsprach offenbar nicht mehr der Wirklichkeit, vielleicht war er überhaupt nie naturgetreu gewesen. Auf jenem Bild wirken die Besucher lebendig und eigenartig, doch in dieser Masse kannten alle augenscheinlich nur ein Ziel: anderswohin zu kommen.

Auf dem Startplatz, wo es auf den ersten Blick nur Menschen, keine Pferde zu geben schien, bemerkte Wilfrid plötzlich:

«Ein verrückter Einfall von uns, diese Derbyfahrt. Dinny, man wird uns bestimmt sehn!»

«Und wenn auch. Sieh nur, da ist ein Pferd!»

Eine ganze Anzahl von Pferden wurde tatsächlich im Kreis herumgeführt. Dinny trat rasch näher.

«Ich finde alle schön», erklärte sie mit gedämpfter Stimme, «das eine wie das andre – bis auf dieses da. Sein Rücken gefällt mir nicht.»

Wilfrid sah im Programm nach. «Das ist der Favorit.»

«Mir gefällt er trotzdem nicht. Weißt du, warum? Sein Rücken verläuft fast bis zum Schweif waagrecht und senkt sich dann plötzlich.»

«Stimmt. Deswegen kann er aber doch ein guter Renner sein.»

«Ich möchte gern auf das Pferd setzen, das du wählst, Wilfrid.»

«Laß mir ein wenig Zeit.»

Die Leute rechts und links nannten die Namen der Pferde, die man vorbeiführte. Sie hatte nah am Gitter Platz gefunden, Wilfrid stand dicht hinter ihr.

«Ein scheußliches Roß!» rief ein Mann zu ihrer Linken, «nie wieder setz ich auf dieses Biest.»

Dinny warf einen Blick auf den Sprecher. Er war vierschrötig, kaum mittelgroß, hatte einen Filzhut, einen Fettwulst im Nacken und eine Zigarre im Mund. Nun war Dinny um das Schicksal dieses Pferdes nicht mehr besorgt.

Zu ihrer Rechten sagte eine Dame, die auf einem Feldsessel saß:

«Man sollte die Pferde auf dem Startplatz besser sehen können, doch dafür ist nicht gesorgt. Drum hab ich vor zwei Jahren mein Geld verloren.»

Wilfrid legte Dinny die Hand auf die Schulter.

«Dieses Pferd da gefällt mir», sagte er, «Blenheim. Komm, setzen wir drauf.»

Sie traten zu den Kassen; die Leute waren in kleinen Reihen vor den Schaltern angestellt, die wie Taubenschläge aussahn.

«Wart hier auf mich», bat er. «Ich will rasch blechen und komm gleich wieder zurück.»

Dinny blieb dort stehn.

«Guten Tag, Miss Cherrell!» Ein hochgewachsner Mann im grauen Zylinder, der einen Feldstecher in langem Futteral umgehängt trug, stand vor ihr. «Wir trafen uns vor dem Fochdenkmal und bei der Hochzeit Ihrer Schwester – erinnern Sie sich noch?»

«Freilich, Mr. Muskham.» Ihr Herz pochte in raschen Schlägen, unwillkürlich wollte sie nach Wilfrid ausspähn, hielt sich jedoch zurück.

«Haben Sie schon Nachricht von Ihrer Schwester?»

«Ja, aus Ägypten. Auf dem Roten Meer muß es grauenhaft heiß gewesen sein.»

«Haben Sie gesetzt?»

«Noch nicht.»

«Den Favorit würde ich nicht empfehlen, der siegt nicht.»

«Wir dachten an Blenheim.»

«Ein schönes Pferd, gewiß, und sehr geschickt. Aber ein andres aus demselben Gestüt scheint noch mehr zu versprechen. Vermutlich sind Sie Neuling. Ich geb Ihnen zwei Tips, Miss Cherrell. Achten Sie bei einem Pferd vor allem auf zweierlei: Hebelwirkung hinten und Individualität – es muß nicht grade schön sein, aber persönlich wirken.»

«Hebelwirkung hinten? Was verstehn Sie drunter? Daß die Hinterbeine länger sein sollen als die Vorderbeine?»

Jack Muskham lächelte. «Ungefähr. Wenn Sie das an einem Pferd beobachten, setzen Sie drauf, besonders, wenn es eine Steigung nehmen soll.»

«Aber Individualität? Wie verrät es die? Etwa, wenn es mit hocherhobnem Kopf über die Leute hinweg ins Weite blickt? Das hab ich schon bei einem Pferd gesehn.»

«Alle Wetter, den Nagel auf den Kopf getroffen! Sie hätt ich gern als Schülerin!»

«Ich weiß aber nicht mehr, welches Pferd es war», meinte Dinny.

«Schade!» Plötzlich war sein Gesicht verändert, Wohlwollen und Interesse schienen draus geschwunden, es sah steif und starr aus. Er zog den Hut und wandte sich ab. Da sprach Wilfrid hinter ihr:

«Zehn Pfund hast du also auf Blenheim stehn.»

«Gehn wir doch zur Tribüne und sehn wir uns das Rennen an.»

Während ihre Hand auf seinem Arm lag, suchte Dinny das plötzliche Erstarren von Jack Muskhams Miene zu vergessen. Die dringenden Bitten der vielen Zigeuner in der Menge, sich die Zukunft prophezein zu lassen, trugen ebenfalls zu ihrer Zerstreuung bei. Als sie bei der Tribüne anlangten, war ihr alles einerlei, bis auf Wilfrid und die Pferde. Nah bei den Buchmachern am Gitter fanden sie Platz.

«Grün und schokoladebraun – hab mir's gemerkt. Am liebsten eß ich Pistazienschokolade. Wenn Blenheim siegt, wieviel gewinn ich, Liebster?»

«Horch!» Sie vernahmen die Worte: «Blenheim, achtzehn zu eins.»

«Hundertachtzig!» rief Dinny, «famos!»

«Hm, das bedeutet, man hält ihn nicht für den besten Renner seines Stalls, man bezeichnet einen andern als ersten. Da kommen sie schon! Zwei Jockeys in Grün und Schokoladebraun. Das zweite ist unseres!»

Die Vorführung, die für jedermann ein Vergnügen war, nur nicht für die Pferde, gab ihr Gelegenheit, den Braunen mit dem drauf hockenden Reiter zu betrachten.

«Wie gefällt es dir, Dinny?»

«Mir gefallen fast alle. Wie kann man beim bloßen Ansehn feststellen, welches das beste ist?»

«Kann man auch gar nicht.»

Jetzt machten die Rosse kehrt und liefen in kurzem Galopp zur Tribüne zurück.

«Sag doch, ist Blenheim hinten nicht etwas höher als vorn?»

«Nein. Tadelloser Gang. Warum?»

Doch sie drückte nur seinen Arm und erschauerte leicht.

Beide hatten keinen Feldstecher, sie konnten daher das Rennen nicht deutlich verfolgen. «Der Favorit an der Spitze! Der Favorit!» rief ein Mann hinter ihnen mehrmals.

Als die Pferde um die Tattenham-Ecke bogen, stieß derselbe Zuschauer hervor: «Pascha – Pascha siegt – nein, der Favorit – der Favorit bleibt Sieger! – halt, nein – Iliad – Iliad gewinnt.»

Dinny fühlte Wilfrids Hand ihren Arm umklammern.

«Unser Pferd!» rief er, «hier – sieh doch!»

Dinny sah auf der Seite drüben ein Pferd in Braun und Rosa, auf ihrer Seite eines in Schokoladebraun und Grün. Es war das erste – das erste! Sie hatten gewonnen!

Ringsum Schweigen, Mißvergnügen. Die beiden aber lächelten einander zu. Ein gutes Omen!

«Ich bring dich zum Auto, behebe dein Geld und wir fahren weg.»

Er bestand darauf, sie müsse die ganze Summe nehmen, und sie verwahrte das Geld bei ihrem übrigen Schatz. Um so mehr Sicherheit, daß er nicht in einem plötzlichen Entschluß Reißaus nehmen konnte!

Auf dem Heimweg fuhren sie in den Richmond Park, saßen lang zwischen den jungen Farnen und lauschten den Rufen des Kuckucks. Und sie fühlten sich sehr glücklich in diesen sonnigen, friedlichen Nachmittagsstunden beim leisen Rauschen der Blätter.

Dann speisten sie abends in einem Restaurant in Kensington und endlich brachte er sie zur Ecke der Mount Street zurück.

In dieser Nacht schlief sie tief und fest, ohne Sorge, ohne Traum und ging am nächsten Morgen mit klaren Augen und sonngebräunten Wangen zum Frühstück hinunter. Ihr Onkel las eben den ‹Tagesfunk›, legte das Blatt hin und sagte:

«Dinny, wenn du mit dem Kaffeetrinken fertig bist, sieh dir das an. Manchmal möchte man wirklich dran zweifeln, ob Verleger Menschen und Brüder sind. Und bei den Zeitungsherausgebern erhält man mitunter die Gewißheit, daß sie's nicht sind.»

Dinny las Compson Grices Brief, der unter folgenden Schlagzeilen veröffentlicht war:

Mr. Deserts Abfall
Unser Fehdehandschuh aufgenommen
Ein Geständnis›

Hierauf folgten Strophen aus Sir Alfred Lyalls Gedicht: ‹Theologia in extremis›:

‹Will durch den Heldentod ich Ruhm ersiegen?
Will ich erkaufen mir mein Seelenheil?
Gemordet und vergessen werd ich liegen.
Gott hält den Himmel nicht als Ware feil.
Doch Englands Ehre ist in meine Hand gegeben,
Drum darf ich schmachbedeckt nicht weiterleben …

So geh ich jetzt zur letzten Ruhstatt ein,
Zu jenen Tausenden, die namenlos
Vermodern in der schwarzen Erde Schoß.
Kein Nachruf kündet und kein Leichenstein,
Wie tapfer jene schlichten Helden stritten,
Wie sie fürs Vaterland den Tod erlitten.›

Dinny schoß das Blut in die sonngebräunten Wangen.

«Jawohl», murmelte Sir Lawrence und sah sie nachdenklich an, «nun ist die Meute losgelassen, Dinny. Doch gestern abend sprach ich mit einem Bekannten, der meinte, heutzutage gebe es kein unauslöschliches Brandmal mehr. Mag einer nun beim Kartenspiel schwindeln oder ein Halsband stibitzen – er geht für zwei Jahre ins Ausland, und über die Geschichte ist Gras gewachsen. Und nach der Behauptung meines Bekannten ist ein perverses Sexualleben gegenwärtig überhaupt nicht mehr pervers. Trösten wir uns also!»

«Mich empört es aber doch», rief Dinny leidenschaftlich, «daß jetzt jeder Wurm ihn begeifern darf.»

Sir Lawrence nickte. «Je erbärmlicher der Wurm, um so mehr wird er geifern. Doch um das Gewürm brauchen wir uns nicht zu kümmern. Die Leute, die Englands Fahne hochhalten, die sind unsere Gegner. Und es gibt ihrer noch immer genug.»

«Onkel, hat Wilfrid denn gar keine Möglichkeit, der Welt seinen Mut zu beweisen?»

«Tat er doch, im Krieg.»

«Wer denkt heut noch an den Krieg?»

«Vielleicht», murmelte Sir Lawrence, «könnten wir in der Piccadilly eine Bombe nach seinem Auto werfen und er lehnt sich zum Fenster heraus und steckt sich seelenruhig eine Zigarette an. Ein besseres Mittel fällt mir nicht ein.»

«Gestern sah ich Mr. Muskham.»

«Du warst also beim Derby?» Er zog eine winzige Zigarre aus der Tasche. «Jack hält dich für ein Opferlamm.»

«Ach, kann einen denn niemand in Ruhe lassen?»

«Verführerische junge Mädchen läßt man nie in Ruhe. Jack ist übrigens ein Weiberfeind.»

Dinny lachte leise auf, es klang verzweifelt.

«Offenbar macht unser Kummer den Leuten Spaß!»

Sie erhob sich und trat ans Fenster. Ihr war's, als falle alle Welt wie eine Meute bellender Hunde über eine Katze her, die sich scheu in den Winkel kauert. Doch in der Mount Street war nichts zu sehn als ein Lastauto mit Lebensmitteln.


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