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V

Auf der Fahrt nach dem Richmond-Park über Ham Common und die Kingston-Brücke nach Hampton Court und zurück durch Twickenham und Kew lösten tiefes Schweigen und angeregtes Geplauder einander ab. Dinny war augenscheinlich die Beobachterin und überließ Wilfrid die Führung. Ihr tiefes Gefühl machte sie zurückhaltend, auch ging Wilfrid offenbar nur dann aus sich heraus, wenn es ihn selbst dazu trieb – er war gewiß der letzte auf der Welt, der sich eine Beichte entlocken ließ. Im Irrgarten von Hampton Court hatten sie sich natürlich verlaufen und Dinny bemerkte: «Nur Spinnen und Gespenster finden hier wieder heraus.»

Auf dem Heimweg stiegen sie beim Kensington-Park aus, entließen das Mietauto und wanderten zum Teepavillon. Als sie vor dem blassen Trank saßen, fragte Wilfrid sie unvermittelt, ob sie etwas dagegen hätte, seine neuen Gedichte im Manuskript zu lesen.

«Dagegen? Von Herzen gern!»

«Ich will Ihr aufrichtiges Urteil hören.»

«Das sollen Sie», entgegnete Dinny, «wann bekomme ich die Gedichte?»

«Nach dem Abendessen bring ich sie in die Mount Street und werfe sie in den Briefkasten.»

«Wollen Sie auch diesmal nicht vorsprechen?»

Er schüttelte den Kopf.

Als er in der Stadt von ihr Abschied nahm, sagte er ganz unvermittelt:

«Ein herrlicher Nachmittag! Ich danke Ihnen!»

« Ich muß Ihnen danken.»

«Sie! Sie haben mehr Freunde, als Bienen den Klee umschwärmen – ich bin einsam wie ein Pelikan in der Wildnis.»

«Auf Wiedersehn, Pelikan!»

«Auf Wiedersehn, Blume in meiner Wildnis!»

Wie Musik klangen ihr diese Worte auf dem Weg zur Mount Street im Ohr.

Etwa um halb zehn mit der letzten Post wurde ihr ein dicker, ungestempelter Brief überreicht. Dinny nahm ihn von Blore in Empfang, ließ ihn verstohlen unter ‹Die Brücke von San Luis Rey› gleiten und fuhr fort, ihrer Tante zuzuhören.

«Als junges Mädel hab ich mir die Taille furchtbar eng geschnürt, Dinny. Unter Höllenqualen hielten wir diese Idee hoch. Jetzt soll die Mode wiederkommen, doch ich mach sie nicht mehr mit, so heiß und unbequem. Aber du wirst es wohl müssen.»

«Fällt mir nicht im Traum ein.»

«Wenn der Gürtel wieder in die Mitte kommt, wird die Mitte wieder geschnürt und gedrückt.»

«Die richtige Wespentaille kehrt bestimmt nie wieder, Tantchen.»

«Und erst die Hüte! Um 1900 sahn wir aus wie Eierbecher mit geplatzten Eiern. Da gab es auf den Hüten Blumenkohl als Garnierung und Hortensien und Vögel mit Riesenfedern, die standen nach allen Seiten weg – die Pärchen auf den Parkbänken konnten sich gar nicht aneinanderschmiegen, die Hüte sorgten für die Moral. Meergrün kleidet dich reizend, Dinny. Solltest ein meergrünes Brautkleid tragen.»

«Tante Emily, jetzt möcht ich schlafen gehn. Ich bin ziemlich müde.»

«Weil du so wenig ißt.»

«Ich esse für drei. Gute Nacht, liebe Tante!»

Auf ihrem Zimmer nahm Dinny sich gar nicht Zeit zum Auskleiden und machte sich sogleich über die Gedichte her in dem sehnlichen Wunsch, daß sie Gefallen dran fände, denn bestimmt durchschaute er jedes falsche Lob. Zu ihrem Trost fand sie darin den Ton seiner frühern Dichtungen wieder, nur schienen sie ihr schönheitsdurstiger und weniger bitter. Als sie das größere Bündel beendet hatte, stieß sie auf ein viel längeres, in ein weißes Blatt geschlagenes Gedicht; es trug den Titel ‹der Leopard›. Hatte er es so verpackt, damit sie es nicht lesen solle? Doch wozu hatte er es beigeschlossen? Vermutlich war er sich über dieses Gedicht nicht im klaren und wünschte ihr Urteil zu hören. Unter dem Titel standen die Worte:

‹Kann der Leopard aus seinem Fell die schwarzen Flecken tilgen?›

Es behandelte die Geschichte eines jungen Mönchs, der heimlich längst den Glauben verloren und als Missionar zu den Heiden gesandt wird. Er fällt ihnen in die Hände und sie stellen ihn vor die Wahl, zu sterben oder seinen Glauben abzuschwören. Er wird abtrünnig und nimmt die Religion der Gewalttäter an. Das Gedicht war stellenweise von so echtem Gefühl durchglüht, daß Dinny ganz erschüttert war. Die Glut und Tiefe dieser Dichtung raubten ihr den Atem; ein Hochgesang auf die Verachtung überlieferter Formeln, voll überschäumender Lebensfreude – und doch auch wieder voll ergreifender Klage über den Verrat. Dinny fühlte sich seltsam zerrissen und legte das Gedicht fast mit einem Gefühl der Ehrfurcht für den Mann beiseite, der einen so schweren Seelenkampf so meisterhaft darzustellen vermochte. Zu dieser Bewunderung gesellte sich Mitleid wegen der Qualen, die er erduldet haben mußte, ehe er ein solches Werk geschrieben – und ein geradezu mütterliches Verlangen, ihn vor Zerrüttung und Disharmonie zu bewahren.

Sie hatten verabredet, einander am folgenden Tag in der Nationalgalerie zu treffen; Dinny ging vor der vereinbarten Stunde hin und nahm das Manuskript mit. Die beiden trafen sich vor Gentile Bellinis Gemälde ‹Der Mathematiker› – sie starrten eine Weile in tiefem Schweigen auf das Bild.

«Echt. Hohe künstlerische Vollendung, starke Farbenwirkung. – Haben Sie das Zeug gelesen?»

«Ja. Setzen wir uns, ich hab alles mit.»

Sie nahmen Platz, Dinny überreichte ihm das Manuskript.

«Nun?» fragte er und sie sah, wie seine Lippen bebten.

«Ausgezeichnet!»

«Wirklich?»

«Durchaus echt. Ein Gedicht stellt übrigens alle andern in den Schatten.»

«Welches?»

‹Wie kannst du das fragen?› schien Dinnys Lächeln zu erwidern.

«Der Leopard?»

«Ja. Es hat mich tief ergriffen, hier.»

«Soll ich es streichen?»

Blitzschnell wurde es Dinny klar, daß ihr Urteil hier die Entscheidung bedeute, und mit gedämpfter Stimme fragte sie:

«Legen Sie denn wirklich Wert auf meine Meinung?»

«Was Sie sagen, soll gelten.»

«Dann dürfen Sie dieses Gedicht unter keinen Umständen streichen. Es ist das Beste, was Sie je schrieben.»

«Inschallah!»

«Was ließ Sie dran zweifeln?»

«Es zeigt die Seele nackt.»

«Ja», entgegnete Dinny, «nackt, aber schön. Nur das Schöne darf sich nackt zeigen.»

«Kaum die Ansicht der Moderne.»

«Ein kultivierter Mensch sucht Wunden und Häßliches selbstverständlich zu verbergen. Auch in der Kunst kann barbarische Wildheit niemals tiefere Gefühle erwecken.»

«Da werden die Kunstkenner Sie bald in Acht und Bann tun. Häßlichkeit ist heutzutage Trumpf!»

«Die Reaktion nach dem faden Zuckerzeug der vergangenen Epoche.»

«Ha! Wer diese Scheuklappen erfand, hat eine Sünde wider den heiligen Geist begangen – er hat den Kleinen Ärgernis gegeben.»

«Künstler sind Kinder – das wollen Sie wohl damit sagen?»

«Sind sie's am Ende nicht? Geht das nicht aus ihrem ganzen Verhalten hervor?»

«Jawohl. Künstler müssen immer ein Spielzeug haben. Was brachte Sie übrigens auf die Idee zu diesem Gedicht?» Und wieder nahm sein Antlitz einen seltsamen Ausdruck an, als gerate ein tiefes Wasser in Bewegung – ganz wie damals, als Muskham vor dem Fochdenkmal mit ihnen sprach.

«Eines Tages werd ich's Ihnen vielleicht erzählen. Wollen wir nicht einen Rundgang machen?»

Beim Abschied sagte er: «Morgen ist Sonntag. Werd ich Sie sehn?»

«Wenn Sie wollen, gewiß.»

«Wie wär's mit dem Zoo?»

«Nein, lieber nicht. Ich hasse Käfige.»

«Ganz recht. Im Holländer-Park beim Kensington-Palast?»

«Ja.»

Zum fünften Mal hatten sie nun für den nächsten Tag ein Stelldichein vereinbart.

Das Ganze kam Dinny wie andauerndes Schönwetter vor. Jeden Abend beim Schlafengehn hofft man, daß der Sonnenschein anhalten werde, und jeden Morgen, wenn man sich den Schlaf aus den Augen reibt, sieht man sich in dieser Erwartung nicht betrogen.

Tag für Tag gab sie ihm auf die Frage: ‹Seh ich Sie morgen?› die Antwort: ‹Wenn Sie wollen, gewiß!› Tag für Tag verriet sie keinem Menschen ein Sterbenswort davon, wen sie traf, wie und wann sie ihn sah. Das alles fand sie so im Widerspruch zu ihrem sonstigen Wesen, daß sie sich verwundert fragte: ‹Bin ich wirklich dieses Mädchen, das sich heimlich fortstiehlt, einem jungen Mann zu begegnen, und in so gehobner Stimmung heimkehrt, als berühre ihr Fuß gar nicht mehr den Boden? Lebe ich in einem langen Traum?› Doch im Traum pflegt man ja nicht Tee zu trinken und kaltes Huhn zu verzehren.

Am deutlichsten erkannte sie ihr verändertes Wesen, als Hubert und Jeanne das Haus in der Mount Street betraten, wo sie bis nach Clares Hochzeit zu Gast bleiben sollten. Nach einer Trennung von achtzehn Monaten hätte sie beim Anblick des geliebten Bruders vor Freude beben müssen. Nun aber begrüßte sie ihn unerschütterlich wie ein Fels, ja sie brachte es fertig, ihn ganz kühl abzuschätzen. Er schien sich ausgezeichnet wohl zu fühlen, sah sonnverbrannt aus, etwas weniger hager, doch gewöhnlicher als zuvor. Dinny wollte sich einreden, das komme von der gesicherten Existenz, der rückgewonnenen Laufbahn, dem Eheleben – doch im stillen wußte sie nur zu gut, an dieser kühlen Beurteilung des Bruders trug der Vergleich mit Wilfrid Schuld. Plötzlich erkannte sie, Hubert habe noch nie einen tiefen seelischen Zwiespalt erlebt, sei dazu auch gar nicht fähig, trabe als Herdenmensch im alten Gleise weiter und stelle sich keine Fragen. Auch hatte Jeanne ihn ihr entfremdet. Nie mehr konnte Dinny ihm oder er ihr soviel sein wie vor seiner Hochzeit. Jeanne gab sich wie immer frisch und lebensprühend. Den ganzen Weg von Khartum bis Croydon bei London hatten sie im Flugzeug zurückgelegt und waren nur viermal gelandet. Dinny lauschte augenscheinlich voll Spannung ihrem Bericht vom täglichen Leben dort draußen, stellte aber zu ihrem Staunen fest, daß sie eigentlich kaum hinhorche. Auf einmal spitzte sie die Ohren, man hatte Darfur erwähnt. Darfur – war an diesem Ort nicht Wilfrid etwas widerfahren? Sie entnahm dem Gespräch, daß es dort noch immer Anhänger des Mahdi gab. Dann sprach man über Jerry Rivens Charakter. Hubert zeigte sich von der ‹Heidenarbeit› begeistert, die Riven im Dienst geleistet. Hernach gab Jeanne etwas zum besten. Die Frau eines höheren Verwaltungsbeamten hatte sich, hieß es, in ihn verliebt und dabei ganz den Kopf verloren; Jerry Riven sollte sich ihr gegenüber recht schlecht benommen haben.

«Na na!» meinte Sir Lawrence, «Jerry ist nun einmal eine Zigeunernatur, die Weiber sollten eben auf ihre Köpfe besser aufpassen.»

«Stimmt», gab Jeanne zu. «Heutzutag ist es ein Unsinn, den Männern die Schuld zu geben.»

«In der guten alten Zeit», murmelte Lady Mont, «zogen die Männer auf Eroberung aus, und die Frauen wurden gescholten. Heutzutag eröffnen die Weiber die Attacke, und der Tadel trifft den Mann.»

Dieser Ausspruch klang so ungemein logisch, daß alle jäh verstummten, da fügte sie plötzlich hinzu: «Ich hab einmal zwei Kamele gesehn – erinnerst du dich noch, Lawrence? Die waren einfach entzückend.»

Jeanne sah ziemlich verdutzt drein, Dinny lächelte.

Hubert nahm das frühere Thema wieder auf. «Wenn ich bedenke, daß Jerry unsere Schwester heiratet –»

«Clare wird es ihm schon heimzahlen», meinte Lady Mont. «Ach ja, diese Frauen mit den Adlernasen! Dein Vater, der Pfarrer», wandte sie sich dann an Jeanne, «spricht von einer Tasburghnase. Du hast sie nicht, Jeanne, deine kräuselt sich. Aber dein Bruder Alan hat etwas davon.» Und sie blickte Dinny an. «Der ist jetzt auch in China. Hab ich's euch nicht gesagt, er heiratet noch die Tochter eines Steuereinnehmers?»

«Herrgott, Tante Emily, er hat doch gar nicht geheiratet!» rief Jeanne.

«Nein. Aber es sind bestimmt sehr nette Mädchen. Nicht wie die Pfarrerstöchter.»

«Danke!»

«Ich spreche ja von jenen Mädeln, die im Hydepark Bekanntschaften suchen. Die behaupten doch immer alle, sie seien Pfarrerstöchter. Ich denke, das weiß jeder.»

«Jeanne stammt aber aus einem Pfarrhaus, Tante Emily», erklärte Hubert.

«Jetzt ist sie doch schon seit zwei Jahren deine Frau. Wer hat nur den Ausspruch getan: ‹Gehet hin und mehret euch›?»

«Moses», sagte Dinny.

«Warum nehmt ihr euch das nicht zu Herzen?»

Unter Lady Monts prüfendem Blick wurde Jeanne feuerrot. Rasch hob Sir Lawrence an: «Hoffentlich erledigt Hilary diese Geschichte bei Clare auch so prompt wie bei dir und Jeanne, Hubert. Das war schon ein Geschwindigkeitsrekord.»

«Hilary predigt wundervoll», erklärte Lady Mont. «Beim Tod König Eduards sprach er über die Worte: ‹Und Salomon in all seiner Pracht und Herrlichkeit› – herzergreifend! Und als Sir Roger Casement im Weltkrieg von uns wegen Hochverrats erschossen wurde – erinnert ihr euch noch? – über den ‹Balken und den Splitter› – ein Narrenstreich, diese Hinrichtung, den Balken hatten wir selbst im Auge.»

«Wenn ich überhaupt für Predigten etwas übrig hätte», meinte Dinny, «dann nur für Onkel Hilarys Predigten.»

«Hast recht», fuhr Lady Mont fort, «schon als Kind stibitzte er mehr Gerstenzucker als jeder andre Bub und sah dabei stets wie ein kleiner Engel drein. Dann hoben wir ihn hoch wie ein Hündchen, Tante Wilmet und ich. Wir hofften, er gäbe das Zeug wieder heraus, doch umsonst.»

«Eine nette kleine Brut müßt ihr gewesen sein, Tante Emily.»

«Wir taten unser Bestes. Unser Vater – nicht der himmlische, sondern der irdische – sah zu, daß wir ihm nicht viel vor Augen kamen, und unsere Mutter wußte sich nicht zu helfen, die arme liebe Mutter! Wir hatten eben kein Jota Pflichtgefühl.»

«Und jetzt habt ihr alle so viel! Ist das nicht sonderbar?»

«Hab ich denn Pflichtgefühl, Lawrence?»

«Du, Emily? Keine Spur.»

«Hab mir's auch gedacht.»

«Meinst du vielleicht, Onkel Lawrence, die Cherrells besäßen im allgemeinen zu viel Pflichtgefühl?»

«Kann man überhaupt zu viel Pflichtgefühl haben?» fragte Jeanne.

Sir Lawrence klemmte sein Monokel ein.

«Dinny, ich wittere Ketzerei.»

«Pflichttreue wirkt wie Scheuklappen, nicht wahr, Onkel? Vater, Onkel Lionel, Onkel Hilary und selbst Onkel Adrian denken in erster Linie an ihre Pflicht und verschmähn es, die eignen Wünsche zu befriedigen. Sehr edel, allerdings, aber auch sehr langweilig.»

Sir Lawrence ließ das Monokel sinken.

«Deine Familie, Dinny», erwiderte er, «ist typischer Beamtenadel. Der hält das britische Weltreich zusammen. Erziehungsanstalten: Osborne, Sandhurst – ja, und noch manche andere. Das beginnt schon daheim in der Kinderstube, erbt sich fort von Geschlecht zu Geschlecht. Schon mit der Muttermilch wird dieser Geist eingesogen, treue Dienste für Kirche und Staat – sehr interessant, bewunderungswürdig.»

«Besonders, wenn man es dadurch zu einem schönen Posten bringt», murmelte Dinny.

«Pst!» mahnte Hubert, «wer wird beim Dienst fürs Vaterland an so was denken!»

«Du freilich nicht, du hast ja deinen Posten; wenn es aber nötig wäre, gäbst du dir schon ordentlich Mühe.»

«Was meinst du damit, Dinny?» fragte Sir Lawrence. «Willst du damit sagen, wenn den Dienern des Staats Gefahr droht, denken sie: ‹Wir lassen uns nicht beiseite schieben, wir sind der Staat!›?»

«Sind sie wirklich der Staat, Onkel?»

«In welcher ketzerischen Gesellschaft bewegst du dich jetzt, meine Liebe?»

«Oh, in gar keiner. Es kommen einem nur manchmal solche Gedanken.»

«Furchtbar deprimierend!» meinte Lady Mont. «Diese russische Revolution und so weiter.»

Dinny merkte, daß Hubert sie prüfend ansah, als denke er: ‹Was ist denn nur in sie gefahren?›

«Einen Nietnagel kann man freilich jederzeit herausziehn», sagte er, «aber der Karren verliert dann ein Rad.»

«Sehr richtig!» meinte Sir Lawrence, «es ist wirklich ein Irrtum, zu glauben, man könne einen Gesellschaftstyp ohne weiteres durch einen andern ersetzen oder rasch einen neuen schaffen. Der Sahib wird geboren, nicht ernannt, ihn züchten Herkunft und Milieu.»

«Nein», sagte Lady Mont, «ich tu's nicht.»

«Was, Tante Emily?»

«Am Mittwoch Champagner trinken, ekelhaftes, schaumiges Zeug.»

«Muß durchaus Champagner auf den Tisch, Tantchen?»

«Blore wird nicht locker lassen, er ist so gewöhnt, ihn bei solchen Anlässen zu servieren. Wenn ich's ihm noch so oft sage, es gibt doch Champagner.»

«Hast du in der letzten Zeit von Hallorsen gehört, Dinny?» fragte Hubert unvermittelt.

«Seit Onkel Adrians Rückkehr nicht mehr. Er hält sich jetzt vermutlich in Zentralamerika auf.»

«Wahrhaftig, ein stattlicher Mann», erklärte Lady Mont. «Hilary hat zwei Töchterchen, dazu Sheila, Celia und Klein-Anne – macht fünf. Bin froh, daß du nicht als Brautjungfer gehst – dreimal Brautjungfer, ewig Jungfer!»

Dinny lehnte sich zurück, das Licht beschien ihren Hals.

«Einmal Brautjungfer – das ist genug fürs Leben, Tante Emily …»

 

Als sie am nächsten Vormittag Wilfrid in der Wallacegalerie traf, fragte sie ihn.

«Möchten Sie morgen zu Clares Hochzeit kommen?»

«Hab weder Frack noch Zylinder, hab beides Stack geschenkt.»

«Ich entsinne mich noch ganz genau, Sie trugen damals eine graue Krawatte und eine Gardenie.»

«Und Sie ein meergrünes Kleid.»

«Nilgrün. Möchten Sie nicht meine Familie kennenlernen? Morgen wird sie vollzählig erscheinen, wir könnten später über sie plaudern.»

«Ich werd mich unter die Neugierigen mischen und außer Sehweite bleiben.»

Ich seh dich doch!› dachte Dinny. So verging bis zum nächsten Wiedersehn wenigstens kein ganzer Tag!

Mit jeder neuen Begegnung schien er weniger rastlos und zwiespältig. Bisweilen betrachtete er sie so aufmerksam, daß ihr Herz zu klopfen anhob. Sah aber sie ihn an, was meist nur in unbeobachteten Augenblicken geschah, so war sie ängstlich bemüht, möglichst unbefangen dreinzuschaun. Zum Glück hatte man das vor den Männern voraus, man wußte immer gleich, wenn sie einen ansahn, und konnte sie unbemerkt betrachten!

Beim Abschied sagte er: «Kommen Sie doch Donnerstag wieder nach Richmond! Ich hole Sie vom Fochdenkmal ab, wie neulich, um zwei.»

Und sie erwiderte: «Ja.»


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