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II.
Der Lebensinhalt der Hochsudaner


12. Kapitel: Kulturen der Ausdehnung

Die Lebensbilder der Adamauavölker, wie sie in Kapitel 3–11 skizziert sind, stellen Spielformen des gleichen Kultursinnes dar. Die aufs engste verdichtete Kultur dieser Stämme beruht ihrer wesentlichen Eigenart nach in einem sprachlich ausdrucksschwachen und daher von außen her kaum dogmatisch generalisierten Reichtum des Erlebens. Die Ausdrucksschwäche bei bewegtem und reich durchlebtem Innensinn beschränkt und begrenzt. Damit erkläre ich es, daß ich bei diesen Dutzenden von Stämmchen und kleinen Gemeinschaften so außerordentlich selten und dann auch nur verkümmerte Reste von Volksdichtungen vorfand. Die Motive des bei weitem größten Teiles der afrikanischen Volkserzählungen sind kaum als afrikanisch zu bezeichnen (wenn nicht allerdings eine ganz große Gruppe überhaupt in diesem Erdteil mit seine Urheimat hat). Die meisten sind wie alle Grundlagen der Kultur, eingeführt (oder ein Teil uralt und schon urgeschichtliches Quellenmaterial). Aus diesem eingeführten Kulturgut oder Fabelwesen schufen die Afrikaner aber sehr verschiedene Formen. Sie machten sich einen Bestand zu eigen. Die einen einen größeren oder bunteren, die andern einen kleineren oder schlichteren. (Eine solche Variation tritt aus dem Vergleich der Mande- und Mossifabulei in Band VIII hervor.) Einige jedoch nahmen in bezug auf Fabel- und Märchenkunde auch nichts an oder aber ließen dies Kulturgut, weil es als solches ihrem Seelenleben nicht adäquat war, verkümmern. Es entsprach nicht den Bedürfnissen ihres Erlebens. Denn sie leben die Dichtung noch und drücken sie nicht aus, weil ihrer Art nach das Leben sie noch vorbegrifflich erfüllt.

Diese Erkenntnis erachte ich, wie gesagt, für hochbedeutsam. Sie nur kann einen Aufschluß geben über viele Erscheinungen der Morphologie der Volksdichtungen überhaupt. Wir haben hier eine Form des Bewußtseins, die wir überhaupt kaum mehr nachzuempfinden vermögen.

 

Es tritt das besonders zutage, wenn wir uns ein wichtiges Moment dieser tiefsudanischen Seelenbetätigung in seinen vielen Varianten vergegenwärtigen: das Verhältnis des Zeitbegriffes zum Problem des Lebens und Todes. Wir, die wir bedingungslos historisch denken, die wir das eigene Leben als Glied einer ins Unbekannte hinaus verlängerten Ordnung, einer Väterreihe, einer Volksgeschichte, eines uns durchrieselnden Kulturwachstums erfühlen, wir können kaum verstehen, daß jene leben: in einer geschichtlichen Zeitlosigkeit, in einem Rhythmus von Leben und Tod, einem ewigen Turnus, der keinen Verlust und keinen Gewinn, keinerlei Wechsel des Schicksals und keinen Blick in ein Anderswerden gestattet – und doch innerlich bereichert.

Es ist etwas Monumentales um diese Einfachheit, etwas Großes in solcher Umgrenzung, die nur zu verstehen ist aus der Isolierung und Bannung im Raum. Seit undenklichen Zeiten lebten noch bis vor kurzem große Teile dieser Gemeinschaften an der gleichen Stelle. Die Aschenabfallshaufen der kleinen Sippengehöfte, auf die die sehr reinlichen Bewohner seit Generationen den ausgekehrten Küchenabfall und Besenstaub warfen, überragen zum Teil die Häuser und Türme um ein bedeutendes. Ein Beleg der Gebundenheit im kleinsten Raum. Ein Ausdruck der Ständigkeit äußerer Lebensform.

Solche Ständigkeit wurde aber aufgehoben durch die Bildungen der hohen Kulturen des Sudan. Und wie unter der Einwirkung dieser höheren Entfaltung diese äthiopische Geistes- und Seelenart sich umbildete oder auswirkte, das zu zeigen ist Aufgabe dieses II. Teiles, der in Kapitel 13-19 wünschenswerte Belege bringen soll.

 

Die Staaten der Hochsudaner, wie sie noch in geschichtlicher Zeit sich gleich einer Perlkette vom roten Meer bis zur Senegalmündung, von Abessynien-Napata (siehe Bd. IV) durch den Sudan zogen und zum Teil heute noch ziehen, sind auf uralten Fundamenten (uralt soll »weitvorchristlich« heißen), aufgebaut. Ein Staatsgebäude richtete sich auf den Trümmern des andern auf. Von vielen wissen wir es, von andern erzählen es Überlieferungen, und alle zusammen sind mit ihrem klaren Innenbau nicht anders zu verstehen.

Als typisches Bild gebe ich in Kapitel 13-14 den Aufbau Nupes aus dem Mythischen bis in die Gegenwart. –

Diese Hochkulturen mit ihren Staatsformen, die Gliederungen der Kardinalprovinzen und Kardinalbeamten, der Pfalz mit dem Königs- oder Kaiserhof, ihren Städten und Märkten, mit den Karawanen und Kriegshaufen, ihren Industrien und Verkehrswegen stellten etwas Ausgedehntes und in der Ausdehnung sich Bewegendes im Gegensatz zu dem Verdichteten und in der Verdichtung Ruhenden des tiefsudanischen Stiles dar.

Innerlich aber bedeutet Hochsudanertum eine ganz andere Form des Bewußtseins.

 

Die Bewußtseinsform der hochsudanischen Kultur ist im Prinzip der unseren gleich. Blick und Bewegung nach außen! Ständiger Austausch. Starker kultureller Austausch. In jeder Hinsicht. Je kräftiger der Lebensstil im allgemeinen, desto stärker auch im einzelnen. Natürlich auch in der Volksdichtung. Ich erinnere an die epischen Dichtungen in der Sahel (Bd. VI), an die Dämonologien am Niger (Bd. VII), an die Märchen in den Haussastaaten (Bd. IX).

Ganz außerordentlich abhängig sind die Erscheinungen in ihrer Blutwärme vom Geschick der Völker und Staaten, der Fürstenhöfe hier, des Rittergeschlechtes dort und der Stadtgröße vielerorts – ebenso abhängig von dem Zufluß aus benachbartem Gebiete, die teils zuchtstärkend wirken wie die Sahara (siehe den Beginn des VI. Bandes), teils verweichlichend wie nach Süden und Westen hin; wie von der Kraft der benachbarten Quelle, aus der Motiv und Stoff zufließt (so in Kordofan Bd. V sehr stark) und nährt. –

Außerordentlich reich an Stilformen ist so die Welt der Hochkulturen des Sudan, und wohl nirgends tritt das so deutlich zutage wie in der Volksdichtung.

 

Aber was für reiche Zuflüsse und starke Geschicke im Sudan auch immer Blüten- und Farbenreichtum im Kulturbesitz hervorgerufen haben, ein Zug tritt immer wieder entscheidend hervor: Beim Zerfall Annäherung an das Ursprünglichere. Tschamba und Dakka hatten ein großes Königreich; es zerfiel; die Sitten und Gebräuche blieben; der Lebensstil ward aber wieder der der Splitterstämme! (Kap. 3 und 4.) Ebenso war es mit den Bum (Kap. 10) und vielen andern.

Diesen Weg und Wandel zu charakterisieren, ist die Aufgabe der nachfolgenden Kapitel 13-19.

Wie gesagt, zunächst der Typus noch voller Lebenskraft und starken Entwicklungsgefühls (Nupe Kap. 13 und 14; dazu Bd. IX). Der historische Sinn ist entfaltet. Demgegenüber die Mossi mit ihrem starken Einschlag von Kultur der Splitterstämme (Kap. 15). Das Motiv der Ahnenverehrung tritt für das Herrschergeschlecht in das Stadium dynastischer Tabellierung. Ferner die Malinke. Als Einleitung die alte Tradition gebildet nach dem Typus der Heldendichtung nördlicher Stämme (Bd. VI). Aber das Sudanische tritt in dieser Sunjattalegende doch schon stark hervor (Kap. 16) und degeneriert zu historischen Notizen (Kap. 16-17), wie es auch bei den nördlichen, jüngeren Bammana der Fall ist (Kap. 18). Werden diese Völker dann in den Wald gedrängt, dann versagt der starke Schwung, das Lebensgefühl der Tiefsudaner und Waldbewohner gewinnt mehr Raum (Kap. 19).

Ziehen wir den Schluß, so drängt sich immer wieder das natürliche Bedürfnis zur Vereinfachung auf. Eine wesenlose Stammbaum- und Namensaufzählung, etwas absolut Begriffliches bleibt äußerlich haften, und prüft man das Wesen des tieferen Volksgefühles nach, so erscheint als Erlebnis wieder die alte Fürsorge und Liebe in der Vorstellung des rhythmischen Turnus einer Einheit im Reichtum des Seins – wenn auch jetzt, nach dem Durchgang durch die läuternde Flamme der Geschicke ausgedehnter Kulturen nicht mehr nur kindlich naiv. Jetzt vielmehr ausgerüstet mit einem zwar zeitweilig brachliegenden Schatz von Begriffen im Halbbewußtsein, der aber durch schicksalsmäßige Geschicke wieder zur Nahrung einer neuen und mächtigeren Flamme des Willens zur Wiederausdehnung werden kann.

 


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