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2. Kapitel: Verdichtete Kulturen

Eine große Reihe umfangreicher Staaten durchzieht den Sudan. Viele im XIX. Jahrhundert noch in Blüte, viele im Zerfall, viele nur in der Überlieferung. Von Osten nach Westen: Abessynien, Napata, Dar For, Wadai, Baghirmi, Bornu, die Gruppe der Haussastaaten, Borgu, Songhai, Gurma, Mossi, die Mandestaaten, Djolof und andere mehr. Zwischen diese zerstreut und in ihnen erhalten wohnen von den östlichen Quellen des Nil an isolierte Stämmchen (so die Sobatvölker, die Nubasplitter), Dorf- und Weilergemeinschaften bis zum Tschadsee, Splitter in Adamaua bis ins Kongobecken, in den Haussastaaten, im Voltabecken, auf den Kuppen und in abgelegenen Tälern der Mandingo und Futa Djallon. Dies sind die Tiefsudaner.

Diese Tiefsudaner sind wie bald kleinere, bald größere Inseln versprengt. Staatlich sind sie fast stets belanglos. Schon in der Sprache drückt sich das aus. Sie reden eine Unzahl von Dialekten. Zuweilen ist es nur eine Gruppe von 40 oder 50 Gehöften, die gleiches, allen verständliches Idiom haben. Bei den Ssola im nördlichen Togo umfaßte die Gemeinschaft wenig mehr als 50 Sippen. In einem Dorfe der Losso traf ich aber das Kuriosum, daß an den beiden Enden verschiedene Sprachen herrschten. – Jede Sippe führte ihr Eigenleben. Märkte zwischen ihnen fehlen und sind nur hie und da von den Hochsudanern eingeführt. Wenn diese Staatenbildner aber nicht über deren Erhaltung wachen, verfallen sie bald, denn die kleinen selbst haben nach Austausch kein Bedürfnis. Der Verkehr in nächster Nachbarschaft genügt. Jede Sippe erarbeitet das ihr Notwendige selbst. Nur Todesfälle und Kultushandlungen, sehr selten umfangreichere Jagden vereinigen. Alle Welt, Männer wie Frauen, Ältere und Kinder sind fleißig beim Ackerbau. Die Felder und Plantagen sind dort, wo diese Gemeindeschwachen nicht der Gefahr der raubzüglerischen Hochsudaner ausgesetzt sind, erstaunlich gut gehalten.

Diese Menschen sind von einer erschütternden Intensität. In der Arbeit wie in der Pietät. Dabei ist ihnen das so selbstverständlich, daß sie es nicht wissen und infolge der vollkommen selbstverständlichen Hingabe auch nicht darüber zu sprechen vermögen. Sie wissen es nicht auszudrücken. Sie erleben alles mit einer Inbrunst, die in Anbetracht ihrer Unfähigkeit, anders als in konsequenter Weise und ohne erst darüber zu reden, etwas durchzuführen, auf Fremde leicht den Eindruck gleichgültiger Gelassenheit macht.

Ihr ganzes Leben ist erfüllt vom Rhythmus des großen Seins, ausgedrückt durch den Wandel vom Werden zum Vergehen und Wiederwerden. Dieser Wechsel des Seins ist ihr Lebensinhalt, bedingt den Ablauf der Dinge und seine Betrachtung. Wie Saat, Wachstum, Ernte auf Saat, Wachstum, Ernte folgt und immer wieder folgt, so lösen sich auch Geburt, Reife, Alter, Tod mit Wiedergeburt, Reife, Alter, Tod ab. Der Rhythmus hebt die Ewigkeit auf. Fruchtbarkeit der Erde, Fruchtbildung und menschliche Nachkommenschaft, das sind die drei Angelpunkte des Zeitablaufes, um die sich vom Gröbsten bis zum Feinsten alles dreht. –

Alle Tatsachen sind diesen Menschen Ausdruck metaphysischer Wirklichkeit. Der Schädel des verstorbenen Vaters ist nicht Fetisch oder ein Zaubermittel oder eine Allegorie. Nein, er ist das Symbol des Toten. Das heilige Saatkorn ist nicht ein botanisch-landwirtschaftliches Wirtschaftsobjekt, sondern in ihm liegt schon das ganze Mysterium künftigen Keimens, Wachsens, Fruchttragens enthalten. Die Erde, der Baum, ja der Leopard und die Schlange, Regen und Dürre sind nicht nur materialistische Tatsachen, sondern Ausdrucksformen eines wirkenden Etwas, für das nur der Ausdruck »Gott« oder »Götter« noch nicht gefunden ist, weil man eben alles dieses nicht in Worten beschreibt, sondern nur im frommen Gemüt bewegt und sorgsam mit Opfer und Hingebung nach Art der ebenso wortkargen Alten sorgsam pflegt.

Mit Pietät und Frohsinn wird die natürlich teilweise sehr schwere Ackerarbeit vollzogen, dienen die Jüngeren den Älteren, wird der Anordnung des weisen Schmiedes und des Priesters gefolgt.

Mit Pietät, Frohsinn und schweigend!

Und da niemand über das ja allen von alters her Nicht-anders-Denkbare spricht, so lebt es allen im Innern. Jedem nach seiner Art. Da niemand diese Selbstverständlichkeiten in Worte faßt, entsteht auch nie ein um sich fressendes plattes Klischeewort, wird nie die Erlebnisweise des einzelnen durch plumpes Schwatzen irregemacht, hindern nie Schwätzer Zartbesaitete am Feinsinn und vergewaltigen niemals stärkere Gruppen den Schwächeren zu bequemen Allerweltsweisheiten. Jeder erlebt. Und keiner gestaltet.

Ja: niemand gestaltet, weil alles erlebt!

Daher fehlt natürlich auch eine wiedergebbare Volksdichtung. Bei Menschen, die alles zum Erlebnis verdichten, kann es eine Freude an der Fabulei nicht geben. Denn das Leben selbst ist ja Dichtung – höchste Dichtung, aber nicht mitteilbare Dichtung.

Also muß es von allerhöchstem Werte sein, einen Einblick in diese abgeklärte Poesie sudanesischen Daseins zu gewinnen. Ich habe zur Wiedergabe Lebensformen Adamauas gewählt, die in ihrer Verschiedenartigkeit den Blick in die Tiefe gewähren.

Die einzelnen Stämme haben sicherlich die verschiedensten Vergangenheiten. Tschamba-Dakka und Bum hatten einst starke Staatsgebäude. Die Durru sind unter den Bum fast zu einem Priestervolk geworden. Die Mulgoi-Kanuri zeigen hamitischen Kultureinschlag und damit erstaunlichen Sinn für sexual-materielle Genüsse, und gehören ans Ende der Reihe als Übergangsform.

Bei aller Verschiedenheit bleibt aber eine Wesensart als Grundlage. Nur wer diese versteht, kann die ferneren Entwicklungslinien sudanischen Geisteslebens erfassen.


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