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Die Kirche und die Welt.

Heilige Namen und profane Deutungen.

G

 

ottes Geistessonne sendet uns das Licht des Wissens, die elektrischen Strahlen der Moral und die Wärme der Religion. Aber Erdgürtel und Polarwelt liegen hier nahe beisammen. In manch einem Grindel­waldner­hause waltet still, aber nachhaltig die Geistesrichtung, welche mit dem Gomserwappen «im Kreuz den Anker des Heils» 1 erblickt und nur den frommen Wahlspruch nicht an die Hausfront zu schreiben begehrt. Dicht daneben fehlt auch hier wie anderwärts der Stumpfsinn nicht, der auf die erstmals am Sterbebett wirklich vernommene Kunde von Christus die Antwort hat: So, ist jetz Christen o ch gstorben? G’hëërd han i ch newwa n vo n mmụ, aber b’chennd han i ch n e̥n nịịd. Im Einklang mit der Zeit und Sorge, welche dort und hier an das «Eine, was not ist», gewendet wird, steht auch, das Maß der Obacht auf d’s heilig Zịịt: den Bättaag und die drei kirchlichen « hôchzîten» der ältern Sprache. Unter diesen fände auch in Grindelwald die bereits im Namen fremde Pfingsten am wenigsten Widerhall im Volksgemüt, wenn nicht hier die herrliche Pfingstegg jeweils in den Konfirmanden unauslöschliche Erinnerungen hinterließe. Um so weihevoller Klingen die Namen der Wiehnacht und des heiligen Aaben d. Man denke nur schon an die Wiehnachtsbeim in Kirche und Haus. Auch die Sprachgeschichte hat an dieser Weihe Anteil. Wo das im Ursprung heidnische, 2 601 aber als Übersetzung von sanctus lang und zähe haftende süddeutsche 3 wîch vor dem mittel- und norddeutschen «heilig» nach und nach zurücktrat, ist dieses Wort hier nicht wie anderwärts zu «hĕlig» mechanisiert worden. Es hat Klang und Bedeutung sich sorglicher bewahrt. Die Mehrzahl Wiehnächt und «Weihnachten» 4 sodann, welche sich an die zwölf Sturmnächte der altgermanischen bösen Windgeister knüpft, hat sich erst auf die Zweizahl der heiligen Aaben d vor Weihnacht und Neujahr und schließlich auf die Einzahl des Weihnacht­vorabends eingeschränkt. Auch liegt schon in Aaben d selber die Andeutung einer bestimmt bemessenen Frist wirklicher Feier gegenüber den «Nächten», welche dem Nordgermanen die 5 aus ihnen «gebornen» Tage mit umfaßten. 6 Dreifach ist damit das wohl ursprünglich heidnische ( S. 552) Milch­brochche n­mahl ( S. 501) in einen ideenverwandten christlichen Bedeutungskreis hineingestellt. Läßt man doch beim Schlafengehen Milch und Brot und alles Tischgerät nur leicht oder gar nicht bedeckt stehen, damit der als Gast erwartete Christus sein Teil bereit finde.

Gerade die nämliche naive Frömmigkeit aber, die jeden des objektiven Denkens Fähigen anspricht, läßt den von der Alpennatur ganz besonders abhängigen Bergbewohner auch seine Witterungsregeln mit dem Kultus der heiligen Tage verflechten. Von den sie beherrschenden Himmelsmächten will er auch die von ihnen geordneten bëëse n Tăga fï̦r gued annään, und für an sich gute ist er dann doppelt dankbar. So sëlle n d’Wiehnächt rächt chaltu̦ sịịn. A n Liechtmä̆ß soll ’s schnịjen; dagegen am Fraue ntag soll ’s schëë n sịịn.

602 Dieser «Frauentag» war sonst auch Mariä Himmelfahrt (15. August), ist nun aber bloß noch Mariä Verkündigung (25. März). Ehemals so streng gefeiert, daß 1676 eine Frau für das «Acker hauen» am Frauentag gebüßt wurde, hat er 1860 seine Feier an die des Karfrịịtăg getauscht. Dieser mit gebührendem Ernste hochgehaltene Tag gilt als auch von der Natur ausgezeichnet. Da chëme n d’Rëëkli umhi ( S. 196). Da schützt aber auch die Hausfrau ihre gefiederten Lieblinge durch b’schären (Stutzen der Flügel) vor dem Vŏgel ( S. 217). Die an diesem Tag gelegten, nie faulenden Eier bewahren das Haus, das s nid d’s Wätter drĭ̦ n schießd. Sie sind auch besonders geeignet zum pï̦tschen 7 an Oostren, dieser Königin der Feste, die ebenfalls gerade um ihrer Hoheit willen auch in die Wetterkunde hereingezogen wurde. Bis die alten Oostri ụsi sịịn, ist der Ụụstăg nid siche̥rra; oder: die alten Oostri heiṇ gären no ch eppḁs d’s Wort (bringen gern einen Nachwinter). Das Eierspiel aber ist das Gegenstück zur Volksbelustigung mittelst des zum schị̈ị̈zlihen Grï̦̆wwel aufgeputzten Wiehnachts­chindli­ĕsels. Dieser mit Geschenken beladene Begleiter des St. Niklaus («Sămiglaws», «Sămichlaws») führt uns auf einen Augenblick in das Gebiet der Kalenderheiligen hinüber.

Eine Reihe von Wetterheiligen eröffnet der Walliserpatron Theodul 8 oder Theodor, fortlebend in «Jŏdel» oder «Jŏder». Die letztere Form wanderte auch in Grindelwald als Geschlechtsname ein und dokumentiert sich seit etwa 1870 im Jŏderhï̦ttli und der Jŏderlï̦cken nächst dem «Adler». Der Name des Churer-Bischofs Valentian (530-548, fälschlich «Valentinian» 9 ) klingt zu uns herüber in Valadin Baumann (1669). Oswald (Answalt) klingt nach in der Aussprache Aseldingen (Amsoldingen) und in der Versicherungs­formel neei bi Dŏsis! (Vgl. den Trachselwalder «Dŏsel»). Am 24. Februar und 6. März als am alten un d nï̦wwen Mătịịs soll’s ni̦d schnịjen. Schnịjd’s den n, so schnijd’s no ch säx- old sĭ̦benu ndtrịịßg Tag. «Matthäus» selber ist erhalten in Tews, Tewsen, und Mathias in Tịịs, im Tịịsengraben. Keine Verena mehr deutet (wie noch z.B. 1668) auf die wohltätige Jungfrau und Alemannen­bekehrerin in Zurzach, 10 an deren Tag es regnen soll. Denn V’rena hëhnni, der dritt Tag Schëënni: zeigt sich Verena erzürnt, weil es nach Oberhaslerrede ihr «d’s Hemm dli netzd», so schlägt am dritten Tage hernach das Wetter in beständige «Schöni» um. — In der Meiringer- 11 und ehemals 603 auch Grindelwaldner- Trịịchle̥ten ( S. 359) klingt das Fest des Evangelisten Johannes (27. Dezember) und mittelbar das winterliche Sonnenwendefest nach. Ihm entsprach einmal die Feier des 24. Juni als der sommerlichen Sonnenwende und später des Täufers Johannes. Die mit dem Unterland gemeinsamen Hans usw. bedürfen so wenig besonderer Aufführung wie all die Ruf- und spätern Geschlechtsnamen Jaaggi usw. Im Jakobus des 25. Juli ehrte ehemals der flachländische Landwirt den Erntepatron, der Alpwirt den Herdenschützer. 12 Nach dem Tag von Villmergen (25. Juli 1712) gestaltete sich die mythische Feier zur konfessionellen. Spätere Umdeutungen auf politische Parteiinteressen aber veranlassen 1899 den Tausch der Jăkobsfịịr und ihrer Jăkobsfịịr an die Bundesfeier des 1. Angust.

Jakobus eröffnet also die Reihe der Herdenheiligen. Zu diesen gehören Wendelin ( Wendel) und Bonifatius. 13 Die Gegenwart weiß jedoch aus dem 20. Oktober und 5. Juni höchstens noch den Kampftag gegen die im Namen anklingenden üblen Lagergenossen und den «Bohne n­machertag» zu machen. Auch der Drachenüberwinder Georg ist wenig mehr als der Namengeber all der Jerk, Jerki, Jerggi, des Jergen- oder Gergen-Tags. Doch wissen Ältere noch, da am 23. April der Ggu̦gger aa nfaad brị̈elen; und sein Geld verheißendes Orakel versteht besonders gut der Gläubiger, der an diesem Tag seine Zinse erwartet. Mehr galt jedoch dem alten Grindelwaldner der zum Heilkünstler vorgerückte Antonius, der im Anti (1672), Tŏni, Të̆ni, Thönen des Oberlandes weiter lebt. Nach ihm heißt nämlich ein als Mutterkorn­vergiftung verkanntes (?) quälendes Übel, das sich durch Hautflecken von der Größe eines Zwanzig­rappen­stücks charakterisiert, Antonisfị̈ị̈r oder Heilfị̈ị̈r. Man suchte es mittelst Nadeln zu heilen, die zuvor zum ịịnbïeßen (Einnähen) eines Toten ( S. 625) gedient hatten. Treten hier böse Krankheits­geister ins Spiel, so wird das Gebiet des Gespenstischen vollends betreten im Nachklang des verworfenen Märtertags (22. Juni). 14 Wie das an diesem Zä̆he n-Tụụsig-Ritter-Tag zur Alp geführte Vieh entrückt wird ( S. 561), so bringen die an ihm gebornen Jungtiere sich selber um: tïe n si ch sälber ab.

Wie freundlich dagegen klingen uns Walsernamen wie Benedikt und Nikolaus entgegen! An jenen gemahnen ja der Bä̆ni, die Bä̆nĭsegg und der Bänz ( S. 350); und das chlawse̥rren läßt sich bis heute auch der Grindel­waldner­junge nicht nehmen. Rufnamen dagegen wie 604 Nĭ̦ggi (1672) und Geschlechtsnamen wie Barbara Glauß (1669) sind erloschen. (Dagegen gibt es noch Glaus in Ober- und Niederried.) Beharrlich wird hinwieder die Adventszeit durch das andreeslen 15 mittelst des Spruches eröffnet:

Fuesladen [oder: Fuesbritt], i tritten di;
Heiliger Andreas, i pitten di,
Du wellist mier zeigen miin Ehegemahl,
Mit däm i z’Chilhen u z’Märt soll gaan.

Erinnern an Andreas die Namen Enderli (1487), Enti, Enzi, Enz, der Enziboden und Trees, Rees, der Reeslihŭ̦bel (auch etwa Rëëse̥llihŭ̦bel), so lebten die weihnächtlichen drei Könige fort z. B. in Caspar Eckhart (1668); in Mẹlker oder Mẹlcher Zybach (1668) und Mẹlk, Mẹnk; in Balzi von Ohrt, Balzi Zybach (1671), Batzi (1606), Baali, vgl. den Baalizụụn bei Duftbach. Ganz alltäglichen Angelegenheiten wie der Zinserhebung (schon z. B. 1357  16 ) und dem Marktbesuch (des Galle nmärt in Interlaken) ist der Sankt-Gallen-Tag (16. Oktober) gewidmet. Der Name des Heiligen, welcher zirka 551-646 lebte, 17 erschien früher als Taufname: Galli Egger (1670). Zu diesem Geschlecht der Egger gehörte nachmals der Vorname Galli so regelmäßig, daß er seither als deren Zuname gilt. Schon 1676 lebte «die alte Galle̥nen». Auch der in reinen Mythus 18 sich auflösende Name des seligen Beat (Batt, St. Battenberg) erscheint z. B. in Beath Roht (1668). Sebastian kehrt wieder in Baschi (s̆s̆): Baschi Allmer (1675). Dafür gilt im Wallis Bastia; Baschi ist dort Baptist. Bartholomäus spiegelt sich in Bartlomee, Bartsch, Bertsch. (Bertsch Gorner: 1668; vgl. das Geschlecht Bärtschi). Stéphanus ist Stäffen (Stäffen Braband 1668), Peter ward sonst zu Peetsch degradiert (daher der Genitiv im Geschlecht Beetschen), erscheint jedoch in der Neuzeit wieder häufig als Vollname. Die Geltung eines solchen beanspruchen auch Hans und Fritz. Alttestamentlich klingen David Gimel, heute: Täävel; Daniel oder Tanggel, David Adam (1669), Eva Otziger (1668). Biblisch sind ferner Madleeni und Leeni (1669); Quirinius (ehemaliger Kirchenpatron der Frutiger) oder Gweer; Susanna, Suse (1852), d’Sị̈ị̈sa, Sŭ̦setti, Setti, Zị̈ị̈si; Elisabeth, Elsbeth (1801), Elsi (1669), d’s Elisi, d’s Lï̦̆se̥lli; Maria, d’Marịje n und natürlich nach französischen Muster Mărịị, d’s Marịịli; Anna, Anni (d’Nanni). 19 Kirchlich klingen: Barbara, Barbli (1668); Baabi (1669); Katharina, d’s Kathrịni, d’s Kathri, Tryna (früher 605 sehr häufig), d’s Trịịni; Dorothee (1668). Auf Christina gehen zurück Stĭ̦ni (1677) und emmentalisches «Stụ̈̆di»; auf Christóphorus, Christoffel: Stoffel Gfeller (1671); auf Christian: Christen, Chru̦sti und Christe̥lli, woraus der Lauterbrunner «Hi̦tti» und «Hi̦ttel» macht.

Diese Namensformen hingen nun mehr oder weniger an germanische an wie Adelheit (1669) oder Adẹle; an Wolffgang Wittwer (1668), Walthard Roth (1672) oder W. Bohren (1760); an Lienhard (1674), Lieni, Lienz (Lienz-Liebi); an Ludwig, Lŭ̦di (1538), Lü̦̆di (1544); an Frĭ̦dli Braband (1676, 1679). «Friedli» ist in der reformierten Westschweiz ein gekürztes «Friedrich», in der Ostschweiz «Fridolin». Friedrich und Fritz erinnern einerseits an Gottfried und Gŏdi, anderseits an Heinrich und Heinz, an Ulrich, U̥elli und J̣e̥lli. Fridolin dagegen als latinisiertes Fridwalt lautet in der Form Fridolt aus wie Arnold — Erni — und erinnert an die Einkürzung -olf aus Wolf. Nach diesem kühnen und schlauen 20 Kampftier benannten sich einst unzählige Männer. So it z. B. aus Hruodwolf («Ruhmwolf», berühmter Krieger), Rudolf, Ruedi und aus diesem der Ortsname bi’m Rụedishụụs geworden.

Die meisten Namen lassen kosende Verkleinerungen zu. D’s Heine̥lli, d’s Beeti (klein Peter) und der Walliser Toni als heiliger Antonius haben ihre Parallelen in Benennungsweisen wie d’s Rŭ̦be̥lli (Rŭ̦bi), d’s Brääwi (Brawand), d’s Bŏri (Bohren). Heruntersetzendes liegt in ihnen gar nichts. Man denke nur an so sympathisch kingende Namen wie d’s Glăser J̣e̥lli ( S. 325). Mit dem Ausruf: Neei bi Dŏsis! Es Bŏri han i ch’s 21 g’häben, e̥s Bŏri wollt 606 i ch’s nid no ch ei ns! schlug jene Witwe eine indiskrete Bewerbung aus, die sie nachher, in passenderer Form angebracht, gerne annahm. (Vgl. auch S. 13.) Eher schon erinnern an Annä̆men (Zunamen) oder gar an Schnaaggen, wa mu̦ ei’m aanheichd (Übernamen), halb spöttische Verweiblichungen wie die alt Fritza (Friedrich), d’Hammscha (Abraham) oder wie «d’Uole n» (Ulrich) u. dgl. im Emmental. ( D’Hämmla dagegen ist Pluralform.)

Mit solchen Umformungen ursprünglicher Namen geht das Vergessen ihrer Grundbedeutung Hand in Hand. Unzweifelhaft schön und wahr erklärt man in erbaulicher Stunde Johannes und Johanna als «Gnade Gottes», wie Hanna und Anna als «Gnade»; wir deuten sprachgemäß Margarita, Meta, Gretchen und Grịịtli als «Perle»; wir zweigen von Ida, der «echt weiblichen» Germanengöttin Itis, den Ito (1347) und das Geschlecht «Iten» ab; wir stellen die Emma oder Imma und den Immo (1436) zu der «emsigen» Aammeißen und zu der Imme, sowie zum Immer, Immler, Imker. 22 Allein sehr bald scheitert unsere Gelehrsamkeit an dem verkappten Unterschied zwischen der im Namen liegenden und der gelegentlich neu in ihn gelegten Bedeutung; 23 und nicht lange, so verstummt sie vor dem offenkundigen Verzicht auf jegliche Bedeutung schon in alter Zeit. Unter 88 leibeigenen Grindelwaldnern des Jahres 1275  24 (vgl. S. 535) erscheinen 21 Heinrich, 12 Walther, 10 Konrad, 9 Burkhard, 7 Ulrich, 6 Jakob, 5 Peter, 4 Rudolf, 3 Werner, 2 Jordan und 1 Jôri, 2 Lütolf, 2 Johannes, 1 Berchtold, 1 Christian, eine Gysla. Waren das einu nd­zwenzg «Lagerfürsten», 25 zwelf «Heerwalter», zä̆he n «kampferfahrne Ratgeber», 26 nịịn «Burgverteidiger», sĭ̦ben «durch Adelsgut Mächtige» 27 usw.? Vielmehr handelte es sich schon damals um Modenamen, in ihrer Art nicht anders als in den 7 Gottfried, 6 Adolf, 5 Hans und 2 Johannes und 1 Johann, 5 Fritz und 3 Friedrich, 4 Christian und 2 Christen, 7 Margarita, 4 Anna, je 3 Bertha, Ida und Marie usw., welche das Grindelwaldner-Geburtsregister von 1905 aufweist.

607 Gleichwohl kann in der Wahl all dieser Namen eine große und tiefe Bedeutung liegen: eine Bedeutung gleichsam im zweiten Stockwerk des Sprachbaus. Sie liegt in der Erinnerung an persönliche oder Familien-Umstände zur Zeit der Namengebung, 28 oder an ein «geliebtes teures Bild» wie bei Kindern, die die Namen verstorbener Geschwister erben. Die Namenserteilung gestaltet sich damit zu einer großen Pflegerin des Familiengeistes. Auch dieser Zug kann sich freilich durch den Zwang der Sitte mechanisieren und kann versteinern. So z. B. im Glarnerland, 29 wo in streng obligatorischer Reihenfolge Eltern, Großeltern und Seitenverwandte zumal als Taufzeugen ihre Taufnamen vererben. So kommt es in Gebirgsgegenden mit wenig Verkehr zu einer Eintönigkeit von Namen und deren Zusammen­stellungen wie Johann Jakob, Johann Heinrich, Johann Peter, Johann Ulrich, Johann Gottfried, Anna Barbara usw., oder wie im Simmental Susanna Magdalena, Susanna Katharina. Das gibt dann all die tummen Gottfrĭ̦del Grindelwalds und die Gotthelf’schen Annebäbi; dem Zürcher ist bei einem belanglosen Unterschied «Hans was Häiri», und der Lützelflüher spottet: Wen n ihre r Zwee n bi ’nandere n stöö, so heiße n Drei von ’ne n Hansueli. Die hier zugleich charakterisierte Namenshäufung konnte sich im Wallis bis zu Ungetümen auswachsen. 30

Grindelwald dagegen, in welchem zur Seltenheit ein Hanspeter und ein Hansjërg ausfindig zu machen sind, Mḁriánni jedoch als einfacher Name gefühlt wird, zeichnet sich von jeher durch die Einfachheit seiner Namen aus. Dieselbe erleichtert dann auch die landläufige Umschreibung bekannter und häufiger Geschlechter durch genealogische Bezeichnungsweise, wie die Legenden zu unsern Porträts ( S. 24, 30 usw.) sie vorführen. Zugleich führt uns letztere mittelst des in einer Familie beliebt und modisch gewordenen Taufnamens gelegentlich in ein hohes Altertum zurück. An die bereits S. 604 angetroffenen Gallus Egger reihen sich Hilti’s Christen und Hilti’s Háns als zwei Nachkommen eines Hiltbrand Brawand, der laut Tradition 31 aus dem Saastal stammt. Ihnen können wir die genealogische Reihe Hildbrand Burgener (1538 bis 1828) zur Seite setzen. Dieser eigentümliche Zug führt uns bis in die germanische Vorzeit zurück, wo noch der Klang der Namen eines kriegerischen Geschlechts das Wappen ersetzte. 32 Da wiesen ein Heribrand, Hildebrand und Hadubrand als Großvater, Vater und Sohn ihren 608 «Stammen» mit ihren Namen auf, deren Bedeutung nichts, deren Deutung alles war. 33

Das bisher Ausgeführte erhalte seinen Abschluß mit drei fränkischen Heiligennamen, deren einer zugleich als Heldenname uns beschäftigt.

Der Name Michael — vgl. Michel Engel (1668) und der breit Michel — ist allerdings vorzugsweise in Brienz und Bönigen heimisch, do auch in Grindelwald als Geschlechtsname nicht selten. Vorzugsweise grindelwaldnisch ist dagegen das Geschlecht Bẹrne̥t. Der Name gibt sich als Erbe des Bernard de Clairvaux (ca. 996-1081), verewigt in Stift und Berg des großen St. Bernhard, und kam gleicherweise aus dem Oberwallis wie die vormalige gutdeutsche Sprachform Bä̆renhard, wie sie noch im Bä̆renhardsbächli erhalten ist. 34

An den dritten Namen erinnert das Martibächli. Nichts Eigenes bietet der Martistag (11. November) als Festtag für Zins einnehmende Gläubiger. 35 Schon eigentümlicher ist unserm Ort die an den Zinstag gemahnende Gäldschoïblada Martins über dem Martinsdruck. Eingeweihte finden in ihr den Sommer über von Zeit zu Zeit ein blankes Goldstück. 36 Dies mag ihnen sowohl die «Martinsgans» der Reichen als das «Martinsbrot» ( Martis panis, Marzipan 37 ) der Armen ersetzen und zugleich an die Doppelrolle erinnern, die dem Heiligen in Geschichte und Legende zukommt. Der Martin nämlich, welcher mit dem Schwert seinen Mantel halbiert, um ihn mit einem Armen zu teilen, ist einerseits der Armenvater Martin, Bischof von Tours (319-400), anderseits mit seinem Namen der Erbe des Schlachtengottes Mars, mit eingeflochtenen Zügen des «Himmelsvaters» Jupiter. Daher die Vielgestaltigkeit seiner Verehrung. Ihn befiehlt der katholische Hirt im Alpruf oder Alpsegen allmorgendlich die zur Weide getriebene Herde an. 38 Das «Martinsvögelein» (Marienkäferchen) soll beim Himmelvater und bei der Himmelsmutter Maria nach anmutigem Emmentaler-Kinderspruch 39 gut Wetter bestellen. Besonders aber sind auf den Heiligen als Helden die Züge mehr als riesenmäßiger Kraftentfaltung übergegangen. Zwei riesige Fingereindrücke in einer Felswand zu Friedliswart über Biel beglaubigten diesen fränkischen Heiligen als Apostel der Alemannen. In das Martinsloch an den Tschingelhörnern bei Elm (Glarus) könnte man ein Haus stellen. 40 Noch berühmter ist das Martislooch, mundartgemäßer freilich: das Heiterlooch ( S. 132) am Ostabfall des Eiger, in der schmalen Senkelkante unter den Hï̦̆re̥llinen. Gegenüber demselben, 609 am nackten Felshang des Mettenbergs hart am Wege zur Bäregg, gewahrt der Eismeerbesucher einen tief in den Felsen eingedrückten, gutgeformten Sitzteil. An diesem Martisdruck hat der Heilige den Rücken angestemmt und versperzd, als er die folgende großzügige Befreiung des Grindelwaldtales vollführte.

Einst hingen Mettenberg und Eiger, die nun ihre Riesenhäupter um eine gute Achtelstunde voneinander entfernt tragen, von oben bis unten beinahe zusammen. Eine schmale Spalte nur trennte die beiden und vermochte nicht, den Wall des Grindelwaldner-Eismeeres zum Vorstoß ins Tal hinunter durchzulassen. So stauten sich in den Zeiten der Gletschergröße an den südlichen Wällen der Bergriesen die Eisströme und deren sommerliche Schmelzwasser hinauf bis in die Höhle des Heiligen hinein. Zuletzt dann schuf ihre eigene Wucht ihnen Bahn, und sie brachen hervor über die Höhen des Challi, in fürchterlicher Wut das Tal mit neuer Sündflut bedeckend.

Der Riese mußte sich seiner Berghöhle wehren. Zugleich aber jammerte den Heiligen Kriegsmann der blühenden Talgefilde. Und sofort war ihm auch der Weg der Hülfe klar: der Eisstrom muß freie Bahn für regelmäßigen Abfluß erhalten. So steigt der Mann denn hinauf nach dem Oberende der schmalen Klus. Da setzt er sich hin, lehnt den gewaltigen Rücken an die Westwand des Mettenbergs, stemmt die Füße und die knorrige Stange wider den Eiger, fï̦r dän vo̥ranhiz’stoßen. Ein Ruck! ein Druck! und ein Krach fährt durch die Berge, als müßte der Erdball in Stücke gehen. Eiger und Mättenbärg heben sich auseinander! Ein neuer Krach, ein Splittern und Klingeln, ein Donnern talwärts gestürzter Eisklötze! Nun ein Schäumen, ein Zischen nachstürzender Schmelzwasser, ein Gurgeln sich einbohrender Wirbel, ein breiter, trüber Strom, der sich zu Tale wälzt! Es ist die eine große Flut, der künftig nur noch verhältnismäßig schwache regelmäßig folgen.

Ein kleine Mißgeschick bloß begleitete die Krafttat. Im Augenblick des Bergeverrückens glitt an der Felswand des Eigers die Stange aus 610 und bohrte in der Wucht des Stoßes das besagte Martinsloch. Doch selbst im Mißgeschicke ruht ein Segen. Während mitten im Winter der Eiger dem Talgrund monatelang die Sonne verdeckt, blickt diese an gewissen Tagen und Stunden ( S. 132) durch das Heiterlooch «als Gruß vom Vater Martin, daß man seiner nicht vergesse». 41

Allein noch einen weit wunderbareren Durchblick eröffnete der Gottesmann den Menschenkindern der Talschaft: den Blick auf diese Viescherwand, die zu Zeiten in überirdisch hehrem Sonnen- oder Mondenglanz erstrahlt oder unbeschreiblich sanft und milde leuchtet; auf das Fịịsteraarhore̥n, das im Zauber des Alpenglühens die letzten Grüße der Sonne zu Tale sendet; auf das ganze voll Ehrfurcht schweigende Gefolge dieses vornehmsten Hofstaats! So finden im Namen und unter dem Schutz des Heiligen riesige Kraft und zartes Naturempfinden, energische Selbsthülfe und inniges Mitgefühl sich in schöner Einheit zusammen, um in weitem Umkreis geistige wie leibliche Wohlfahrt zu pflanzen und im schönsten Sinn des Wortes Berge zu versetzen.

 
1   Crux auchora salutis.   2   Kluge 400.   3   Singer K. 6.   4  Der alte Dativ « nachten» ist neben das alte « nacht» (wie «Tag») in den Werfall der Mehrzahl vorgedrungen.   5  Nach der Edda.   6  Vgl. Tac. Germ. 11 und mhd. WB. 2, 299. Zugrunde lag eben die Zeitteilung nach den Mondphasen, welche sich besonders in der gerichtlichen Bedeutung der «vierzehn Nüchte» ( a fort‘ night), unserer vierzäche Tag ( quinze jours) wiederspiegelt.   7  Über den hohen Ursinn dieser Sitte: Lf. 598.   8   Stückelberg 111-6; Wall. 47; Eivisch 35.   9   Stückelberg 126.   10  Ebd. 127-134.   11   Henne 113. 363; Würgler und Feller in Vkehr. III.   12   Henne 533.   13  So richtig z. B. bei Wetz. 2, 1067 ff.   14   Henne 529; vgl. HÖW. 67 f. (nach Egli’s Kirchengeschichte 117) über die thebäische Legion.   15   A. f. Vk. 4, 249; Vkehr 3, 54; Simm. 356.   16   Font. 8, 181.   17   Stückelberg 49-52.   18   Stückelberg 1. 14 f.; vgl. dagegen Dumermuth.   19  Ndalem. 44.   20  Zell 62-68.   21  Genitivische Anaphorie wie im echt Uhlandschen: Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern findst du ’s nit. ( Tu n’ en trouveras pas un meilleur.)   22  Wurzel am: Graff 1, 250.   23  Man denke an biblische Namen wie «Abraham» nach 1. Mos. 17, 5; wie «Samuel» nach 1. Sam. 1, 28.   24   Font. 3, 145 f.   25  «Heim» ist urgermanisch ein dorfähnliches Lager (vgl. Kluge 159 f. mit Hoops s/v.), und rîch ist gewaltig, mächtig, erst damit auch «reich». (Schrader, idg. Reallex s/v.)   26  Zu «können» und «kennen» stellt sich ahd. kuoni als «kundig» und erfahren in Kampf und Waffen; von hier aus ist chien zu deuten als: voller Zuversicht, wagemutig, «kühn», daher auch frisch, zählebig (z. B. eine Pflanze im Winter, ein lange nicht reifendes Geschwür).   27   Uodal, Udel ist Ablautform zu Adel: Graff 1, 144; Kluge 5 und unsere S. 586.   28  Vgl. Note 23.   29  Vgl. Pfr. Dr. Buß im A. f. Vk. 4, 299 f.   30  Vgl. den Antusubarbisch­peterjobschio­subantoni in der drolligen Erzählung Saas 102.   31   Cronegg v. 1737.   32  Vgl. Socin’s schöne Ausführung in seinem Namenbuch.   33  Vgl. Brugmann idg. Gramm, über die entsprechenden griechischen Namen.   34  Vgl. Cool. JS. CXIV; GlM. 180.   35   Moos (1781); A. f. Vk. 4, 247 f.   36   BOB. 76.   37   A. f. Vk. 6, 22-30.   38   Henne 97 f.   39  Himelgüegeli, flüüg uuf, flüüg uuf! Frag Vater u Mueter, gäb’s morn well schön sii, schön sii!   40   Grun. 2, 136.   41  Vgl. BOB. 75 f.; ÄFG. XLVI; Hugi 99; Wyß 427. 672 f; Grun. 1. 93; 2, 136; Jahn KB. 329.  
 

Am Sonntag.

Der Ostertag wiederholt sich allwöchentlich in der Auferstehungsfeier des Su̦nntăgs. So oft derselbe nun auch hier wie anderwärts sich zum G’schäftlitaag erniedrigt sieht: gefeiert wird er wenigstens in gut bäuerlichen Kreisen geziemend — zunächst im Gottesdienst ( S. 621 f.). Gerade die bäuerliche Beschäftigungsart aber bewahrt auch vor einem Puritanismus, welchen man durch den Spaß ad absurdum zu führen liebt: Der Su̦nntăg sëllt ḁ lsó heiliga sịịn, daß mu̦ drịị Tag dḁrvor u nd drịị Tag dḁrna ch nịịd tërfti wärhen. Der Sonntagsfeier kommt übrigens ein alter Glaube zu Hülfe: We nn mu̦ am Su̦nntăg hewwed, su̦ gi bd’s mit dem Veh eppḁs Ungueds. Die alten Chorgerichte, die so häufig über Sonntags­entheiligung abzuurteilen hatten, fanden denn auch selten mit hewwen, schochnen, Chŏren ụụfnään u. dgl. sich auseinander­zusetzen. Mehr gab ihnen der sonntägliche Grämpel auf dem Kirchhof, das hin- u nd wĭ̦dertragen von Waren durch die Ni̦rgge nschmĭ̦di 1 und durch Grämpler zu tun; so auch das Salpeter­sieden zu Mettenberg und in der Schwendi, das Wärmen des Bades im Tschingelberg einem Landweibel zulieb. Streng ging man ins Gericht mit Sonntagsvergnügen 611 wie Jagen, Schwingen (1671), chĕglen, «Hurnußen schlaan», 2 «mit dem Alphorn hornen». Mädchen wurden vorgeladen, weil sie am (gewöhnlichen) Sonntag getrunken und gejauchzt (1674), am Jakobssu̦nntăg ( S. 618) Dorf gepflegt (1682) und an einem Dorfsu̦ntăg «ihren Kilbenen nachgezogen» (1679).

Solche Strenge erklärt sich in weitgehendem Maß als Kampf gegen die Roheit des Jahrhunderts, dem der dreißigjährige Krieg angehört, aber auch als Ausfluß der Stimmung, in welche die lange Reihe von Seuchenjahren ( S. 638 ff.) die «öffentliche Meinung» versetzt hatte. Zu den Überresten roher Volkssitten, mit deren perspektiveloser Darstellung so häufig das Bild der zeitgenössischen Volksseele leichtfertig verzeichnet wird, gehört z. B. das Ootschi oder die Tschä̆gge̥ta, Roitschä̆gge̥ta (Maskerade). Sie erinnert an die alte, anderwärts immer noch geduldete Trịịchle̥ta (Zügelfuhr). 3 In Grindelwald ist dieselbe seit etwa fünfzig Jahren verpönt und zwar um ihrer Roheit willen, die sie zu einem angeblichen Volksgericht sehr wenig geeignet machte. Denn die Weigerung eines Bräutigams, seinen Jugendgenossen das übliche Trinkgelage zu verabfolgen — ’ne n d’Letzi oder nach früherm Ausdruck: d’Chränzle̥ta z’gään — oder die Heimführung einer ortsfremden Tochter durfte doch wohl kein der Sühne bedürftiges Vergehen heißen.

Von ihrer harmlosen, sogar etwa kindischen Kehrseite angesehen, erinnern solche Szenen an das ggoolen und ggangglen, entfernter auch an das hụụse̥llen ( S. 433), an das si ch vertwellen, an das Vertwelli ( S. 151) Kurzweil treibender Kinder. Man denke hiebei an das bääbe̥llen oder mämme̥llen des kleinen Mädchens mit seinem Bääbitŏtsch, Tolgg, Trolgg; an das rësse̥llen des Knaben mit dem Steckenpferd; an das Pfu̦rri (Brummkreisel) in seiner Hand; an die Nachahmung des Spinnens mittelst der durch die Nuß 612 gezogenen Schnur. An die Masken erinnert das zẹllĕggnen oder Verbärgis machen größerer Mädchen, an das Rennen damit: das tschä̆gginen oder d’s Tschä̆ggi gään, an die Teilung in Parteien das Bëësi-Mueter-Spiel, an das blindimụụsen.

Das von größern Knaben betriebene mässerlen hinwieder, das d’Loosa jăgen, den Haas jăgen, z’Chrieg ziehn bilden mit ihrer Kombination von Geschick und Zufall Vorstufen zu Spielen wie dem nị̈ị̈ne̥llen (d’s Nịịni ziehn), dem brätten auf dem Brätt, dem Spiel mit dem Einig, Zweijig, Dreijig, Vierig, Fị̈ị̈fig und Säxig des Würfels, sowie der Augenzahl­gleichheit beider Würfel, das Bï̦ff geheißen. Der Charten hingegen (die Spielkarte, aber auch jede andere Karte) bleibt hoffentlich noch lange abseits.

Spartanische Spiele wie das fụ́ụ́sten, Gärsta stampfen, d’Schï̦̆ßla oder d’s Häfelli welpen, Stäcke n ziehn, häägglen, uber die hool lendisch Brïgg, uf deṇ Grind staan haben mit Unrecht das Blatte n schießen zwischen Stein und Stein auf dem Weideplatz derart verdrängt, daß bloß der Blattenschutz als natürliches Längenmaß dem lebenden Sprachgebrauch verblieben ist. Erinnert das «Plattenwerfen» von ferne an das Stei nstooßen (zumal das Hantieren mit dem Unspunnerstein), so findet das zum Nationalspiel veredelte «Hu̦rnụụßen» 4 des Unterlandes seine elementare Vorstufe im hŭrnen. Irgend ein schräg gestütztes Lădli als Stëckli nimmt ein kunstloses Holzstück, den Hŭ̦ren auf, welcher mit dem ebenso primitiven Hŭ̦re nstäcke n ’trĭ̦ben wird. Die emporgehobenen Hŭ̦re nschĭ̦ndli trachten ihn abz’tuen oder, wenn sie ihn nicht ’bsiehn, z’vertrịịben, damit die Gegenpartei eine kleinere Distanz z’mässen bekomme, oder aber ihn z’ru̦gg­z’rïehrren, z’zwi̦rnen. 5 Eine ebenso primitive Vorstufe bildet das ungeregelte fä̆len, die Fä̆le̥ta gegenüber der edlen Schwingkunst. Letztere ist angesichts ihrer Verbreitung in unserem Buch lediglich anzutippen, um ihrer wenigen in’s Alltagsleben verpflanzten bildlichen Ausdrucke willen. Mid ei’m schwingen bedeutet überhaupt: mit ihm um die Übergewalt ringen; einen darschlaan: ihn besiegen; ziehn u nd verhaan: anziehen und sich stemmen, angreifen und sich wehren; den Haagge n schlaan: heimtückisch kämpfen.

Mit Unrecht hinmwieder stellen Ausdrücke wie umhaspringen und das Umhag’spring, die Rŭ̦ffle̥ta, das tooßen und die Tooße̥ta den Tanz in die Reihe roher Vergnügungen. Dahin kann er gehören dank den Beigaben roher Unterländer alten Schlages. Dagegen ist der im Satten («sittig») ausgeführte Polka (z. B. der Chrị̈ị̈zpolka), der 613 ebensolche Mássolka, der Walser (z. B. Schleppwalser), der Galopp oder der Schottisch an und für sich eine ästhetische Augenweide für den Zuschauer, welche bekanntlich durch die Obrigkeit innerhalb enger Grenzen längst freigegeben worden ist. Veredelt sich doch auch die davon unzertrennliche 6 Mụụsig (die ganz Mụụsig d. i. alles) von Jahr zu Jahr. Sie hat aber auch in einem Kurort wie Grindelwald an einer temporären Kurkapelle wie der des «Eiger» treffliche Vorbilder zur Übung wirklich schöner Tonkunst, die dann auch über das sonst übliche ụụfmachen von Tänzen und Märschen weit hinaus geht. Mehr und mehr findet dementsprechend die edle Zĭ̦te̥rra Eingang am Platz des altmodischen Schịịt’s, der Hánotte̥rren, des Hackbrätt’s, worauf das 1902 gestorbene Hackbrättwịịbli Bescheid wußte.

Schiit.

Jedenfalls paßt das zĭ̦te̥rren besser als das schịịte̥rren als Ersatz für das Klavvier, auf welchem in Grindelwalds bäuerlichen Kreisen noch nicht im Übermaß «Hackbrett gespielt» wird. Der alten Zeit gehört auch das schwä̆glen an: das Spiel auf der Hirtenflöte oder Schwä̆glen. Es ist vergessen wie die Glaaspfịịffa 7 aus der ehemaligen Glasbläserei Iseltwald und wie das ihr ähnliche Instrument der alten Kriegsmusik, deren Künstler den Familienzunamen Pfịịffer bis auf den heutigen Tag auf die Nachkommen vererbt haben. 7a Der Ausdruck eṇ Grind haan wie n e n Pfịịffer erinnert an die noch größere Anstrengung der Alphornbläser, deren nicht wenige Brüche haben ( erbroche n sịịn). Gleichwohl lebt in den sommerlichen Perioden des Fremdenstroms das Alphŏren wieder auf — so selten sich auch ein Horner, Alphorner findet, der auf seiner Blaaserịị (Bläserstation), statt nur erbärmlich zu pụụggen, wirklich mit Kunst und Geschick i n d’s Alphŏren blaasd, Mit Vergnügen nennen wir unter den wenigen die am «Unspunner» Hirtenfest von 1905 prämiierten Vater und Sohn Burgener in Burglauenen. Möchte es geschulten Künstlern mit der Zeit doch gelingen, diese edle Musik aus der himmeltraurigen Verkettung mit verkappter Bettelei 8 herauszureißen! Ist denn wohl auch schon für alle Zeiten der Beweis geleistet, daß das Alphorn unmöglich im modernen Orchester heimisch zu machen sei? 9 Wie lieblich erzählt der Volks­lieder­komponist 614 Ferdinand Fürchtegott Huber in seiner kleinen Selbstbiographie 10 von seinen erfolgreichen Bestrebungen, das Alphorn als Nationalinstrument wieder zu Ehren zu bringen! Welche persönlichen Opfer auch brachte seinerzeit der Schultheiß Niklaus Friedrich v. Mülinen um die Hebung dieser Kunst! Wenn nun solche Kenner und Förderer edler Volksmusik gerade in Grindelwald den «besten Ort» erblickten, um das Alphornblasen organisch in die Kunst des Jodelns und Singens einzufügen, welchen Ansporn sollte da unserer Zeit aufs neue bieten! Es käme vor allem darauf an, es der Sentimentalität zu entheben, die einst 11 das echt volksmäßige «Zu Straßburg auf der Schanz» mit Hereinzerren des Hirtenknaben und Alphorns verunstaltet hat. Es wäre ihm zunächst einmal das Mark alter mannhafter Frömmigkeit wirklicher Hirten wiederzugeben, 12 die mit dem allmorgendlichen Alpsegen zugleich von Berg zu Berg sich munter begrüßten.

Dann würde sich auch hier erweisen, daß es keinen Gegensatz gibt zwischen geistlicher und weltlicher Musik, daß jene nicht absolut langweilig sein muß und diese nicht ausschließlich leicht geschürzt zu sein braucht. Das besagt in origineller Weise Grindelwalds Sprachgebrauch. Da hat der Ausdruck Chĭ̦lheṇgịịger für Orge̥list (Organist) allerdings komischen Anstrich erhalten, weil der Gịịger und d’s Gịịgers nunmehr fast bloß den Gegensatz zwischen Kirche und Tanzboden ins Bewußtsein rufen. Komische Erinnerungen erwecken auch die fehlenden oder falschen Nooti (Tonerzeuger wie Saiten, Pfeifen, Klappen usw.) auf dem Schịịt eines Gịịger-Elsi. Allein die neue komische Seite der Sache und die alte unbefangene Bezeichnungsweise gehen einander nichts an; sie sind nicht in ein Band zu nehmen: es ist hier nicht ei ns Holz an der Gịịgen. Man braucht ja auch bloß einmal einen rechten Violin- oder Cellospieler zu hören, um sich vorzustellen, wie gleich der Geige auch die Orgel, dieses «Organ» ( organum, organ, «les orgues») ihre herrschende und weitgreifende Bedeutung des Musikinstruments par excellence behaupten konnte. Auch die Zieh- und die Mundharmonika heißen von daher Handorge̥lla und Mụụlorge̥lla; daß das Harmonium ebenfalls Oorge̥lla genannt wird, begreift sich leicht; daß aber auch das Piano sich in diese Bezeichnung teilt und daß oorge̥llen überhaupt so viel wie Musik machen ist, beweist aufs neue die generelle Bedeutung der «Orgel», welche der «Kirchengeiger» spielt.

Es rechtfertigt sich also, daß wir gerade hier die Kirchenorgel mit zur Sprache bringen. Auch eine solche wird ja in Grindelwald «gespielt», 615 seit sie dank den Bemühungen des Pfarrers Ziegler 13 im Jahre 1839 auf das eigene Orge̥lle nlleïbli gegenüber der Empore zu stehen kam. Das damalige Weltwunder, welches Grindelwald sich fị̈ị̈ftụụsig alt Franken kosten ließ, wurde denn auch billig bestaunt, und ganze Scharen liefen her, dem Aufbau zuzuschauen. 14 Nunmehr ist über das menschliche Wunderwerk eine menschliche Altersschwäche besonders in der Form zeitweilig peinlicher Atemnöte gekommen, und es ist hohe Zeit, daß der seit Jahren angesammelte Orgelbaufonds zum Bau eines der Ortschaft würdigen neuen Werkes ausreiche.

Möge diesem nur, wo möglich, der prächtige Prinzipal­pfeifen­prospekt erhalten bleiben! Dann langen die Mittel um so besser zu den neuesten Errungenschaften der erhabensten Baukunst z. B. auch der pneumatischen Mechanik. Man braucht dann nicht mehr gemäß ältestem Ausdruck d’Orge̥lla z’schlaan, 15 wogegen dann freilich für den Kalkanten jede Grund der Gleichstellung mit dem Organisten wegfällt. Bisher hätte jener auch hier wie anderwärts Grund gehabt, nach abermals vollbrachtem schwerem Werk dem Organisten auf die Achsel zu klopfen: So, hịịt hei n me̥r’s umhi ei ns brav g’machd! oder aber, wenn nach seinem Gutachten ein andermal der 57. Psalmen nicht «gut gegangen» wäre, nach plötzlich ihm aufgegangenem Licht auszurufen: jaa ßoo! i ch han drum den achtu ndsächzigste (trappet! oder hier: ’zŏgen)! Ein noch wichtigerer Faktor des Gutgehens war aber das Windmachen vor Einführung der Orgel. Da begleiteten oder vielmehr leiteten nämlich drei P’hŏssụụner (Posaunenbläser) den Kirchengesang. Jeder derselben erhielt im Jahr eine Dublone. 16 Nicht zufrieden jedoch mit diesem Tŭbel, hei n s’ tŭbled (geschmollt): sie organisierten den in Grindelwald bisher einzigen verurkundeten Streit, indem am ersten Sonntag nach Neujahr 1688 alle drei ausblieben. Das Beginnen schlug ihnen jedoch zum Unheil aus. Sie mußten Abbitte leisten und um den alten Lohn weiter dienen. 17

616 Der nach der Reformation erst noch zu kultivierende Gemeindegesang ward vorderhand ersetzt durch eigene Sänger. Als Gratifikation ward ihnen alljährlich eine Mahlzeit aus dem Talseckel ausgerichtet. 18 Auch hier erregte die Unzufriedenheit etwa ungeberdiges Wesen. Die einen blieben «aus Hochmut» oder aber vor Fị̈ị̈li ferne; andere lachten vor Geihi («aus Gauchheit») während ihrer Funktion. Als scharfe Censuren und sogar Gefangensetzung 19 nicht auf die Dauer nützten, erhielten sie behufs scharfer Kontrolle eigene Stühle angewiesen. 20

Mehr trug zur Milderung der Sitten die edle Gesangesgabe bei, als Pfarrer Ziegler (in Grindelwald 1834-43) sie aus der Baumschule der Kirche ins offene Feld des Volkslebens hinaus verpflanzte. Er richtete eine abendliche Singschuel ein und legte damit den Grund zum blühenden Gesangswesen der Gegenwart, dem nur die winterliche Fremdensaison jeweils eine empfindliche wiewohl begreifliche Unterbrechung bereitet. Wo Silberstimmen reden, müssen silberne Stimmen schweigen. In der Zeit aber, wo Grindelwald wieder bei sich selber zu Hause ist, beteiligt sich auch das Pfarrhaus energisch aktiv an den öffentlichen Vorträgen des Männer- und des gemischten Chors: auch da geid d’Chilha i n d’Wäld ụsi, wie d’Wäld i n d’Chilha inhi.

Für Untrennbarkeit des Geistlichen und Weltlichen in Gesang wie übriger Musik redet abermals die Sprache mit. Nu̦mmḁ n d’Bättler u nd d’Stï̦nde̥ller singen all Väärsa, die übrige Gesangswelt wird des langen Strophenliedes müde und fordert, wo verschiedene Stimmungen des Textes zur Geltung kommen sollen, das durchkomponierte Lied. Drum hieß in alter Sprache ein mehrstrophiger Gesang pluralisch « die liet». Das Lied hatte oder vielmehr: war nur eine Strophe; in der Mundart gesagt: nur éinen Värs oder ei ns Gsatz. Alle diese Ausdrücke aber erklären sich aus dem altdeutschen Altardienst, zu welchem speziell auch der Leich 21 (Tanz 22 ) mit Musik und Rezitativ 23 gehörte. Wer (in einst buchstäblichem Sinn) mid enandre n g’leihed heed, reichte sich die Hände zum feierlichen «Singetanz» um den Altar. Ein Gang desselben hieß nach seinem Neubeginn mit einer «Wendung»: Värs 24 oder nach dem «Ansetzen» dazu: G’satz (alt: «Gesetz»), nach seinem Abschluß aber mittelst «Auflösung» der Reihe: Lied. 25 Wie 617 nun vom vorchristlichen Opfermahl die weltlichen Festmähler mit Tischgesängen sich herleiten lassen, 26 so vom nämlichen Ursprung der auffallend ernste, elegische oder gar tragische Inhalt des echten Volksliedes. Was hat ein «Vreene̥li ab dem Guggisbärg» mit einem importierten Salontirolerlied zu tun! «Das Lied gefällt dem Landvolk so recht nur, wenn es ernsthaft ist», 27 und selbst das lieden und tschänzlen in dazu aufgelegten Stunden hat seinen bleibenden Beifall nur, wenn den Worten das Mark nicht fehlt.

Ohne solches ist ihm das G’sang grad ohni Wort lieber, und g’nooted’s (in Noten gesetzt) braucht dieses dann auch nicht zu sein. Lieber verläßt man sich aufs G’hëër (Gehör) und die P’reihi (Treff­sicherheit). So kommt es, daß dem Gebirgs­bewohner und nicht weniger der -bewohnerin 28 das hoiren u nd jụ chzen 29 ein so lieber Zeitvertreib zumal eben am Sonntag geworden ist. Das hoiren ist ursprünglich ein An- und Zuruf aus der Ferne, dem auf still­schweigende Übereinkunft hin eine bestimmte Bedeutung seiner Nuancierungen und damit eine Stellvertretung der Sprache zukommt. Mu̦ hoired ze’m Ässen u. dgl., wie man im Emmental «hụụbi» ruft. Schon die entsprechende Antwort aber kann das Gefühl erwecken, daß man hier «Music singe» 30 und das reizt gelegentlich zu einem «vollen Gejubel auf den Höhen umher». 31 Der Nachhall im Gedächtnis führt dann wohl noch zu einem leisen heire̥llen «so für sich hin». So jodelt das bereits aus dem Munde vierjähriger Mädchen mit zarter Stimm, zart, was ja nicht etwa «leise», sondern hochstimmig und zugleich wohlklingend bedeutet. Brummt dann zum kindlichen Duett etwa gar mit ịịnhŏhlem oder grŏbem Ton «des Alten Sang dazwischen», so ist das «Lied ohne Worte» fertig. Was sich bei ihm an 618 Mendelssohns Liebreiz und «Melodien­verschwendung» vermissen läßt, ersetzt vielleicht nachher ein junger Älpler trotz mangelnder Singstimme. Seine geschmeidigen Lippen bringen unsagbar weich verschleierte Fisteltöne, an das berühmte Pfeifen Hölty’s erinnernd, zustande. Nachdem er in zierlichen Modulationen — Chehrlinen — eine Weile ’s e̥s gued umhag’cherled heed, münden seine Vorträge aus in «langaustönende Lieder von einfacher Melodie». 32

Als dankbarer Hörer haben auch wir da einen guten Sonntag­nachmittag oder -abend verlebt md freuen uns, am nächsten Dorfsu̦nntăg, dem ersten Sonntag des August, viel vereinzelt Gesehenes und Gehörtes wie im Rahmen eines Programms vereinigt zu finden. Lebten wir ein Jahrhundert früher, so könnten wir schon acht Tage vor diesem Älplersonntag den Jakobs­sunntăg mitmachen. 33 Das war nämlich der Sonntag nach Jakobi 1712, an welchem man das frohe Ereignis feierte, das von 201 zum Villmergerkrieg ausgezogenen Grindelwaldnern zweihundert zurückkehrten. 34 Man feierte seither den Tag mit neuer Kleidung, einigen Lustbarkeiten und besonders einem festlichen Mittagsmahl. Das Hauptgericht desselben bestand aus «verhabnen» oder Chnew-Chïechlinen ( S. 502). Diese hießen aber um ihrer Dünnheit willen vorwiegend Strewwi­bletter oder, nach dem dazu verwendeten Fett, Achche̥rrand­chïechle̥ni ( S. 187), entstellt: Achcherchïechle̥ni. (Im Lütschental und um Zweilütschinen sammelten nämlich ehedem Grindelwaldkinder Buchecker. Das daraus gepreßte Buchenöl ist, frisch verwendet, auch als Speisefett vorzüglich.) Mehr und mehr geriet aber der Jakobssunntag hinter seinem zeitlich so nahen Konkurrenten, dem Jakobstag ( S. 603), in Hintergrund und Vergessenheit.

So oft und so begeistert nun diese Bärgdorf oder «Bergdorfet» älterer Zeit geschildert worden sind: 35 die g’chnŭ̦blete n Stäcken (knorrigen Stöcke), mit denen sich ehemals jeder Festbesucher zu eventnellem drĭ̦ nrïehrren (dreinschlagen) und wammsen (prügeln) bewaffnete, bringen etwas grelle Mißtöne in das mehr berühmte als gerühmte Schäferidyll. Lieber doch sehen wir uns das einförmiger, aber durch gemütlicher gewordene Fest unserer Tage an. Wir haben die Wahl zwischen dem Wärgistaldorf an Alpiglen oder im Rootstëckli, wo wir gleich wie am Itramerdorf auf dem Männliche n-Rigi mit Lauterbrunnern zusammentreffen; oder dem Bachdorf, welcher gemeinsam mit Brienzern auf dem Waldspitz wie ehemals auf dem Fụụlhŏren sich abspielt; oder dem Scheiteggdorf, auch Gräätlidorf 619 ( S. 9) geheißen. 36 Die hier überall sich abspielende Festlichkeit zu schildern, erlauben Zweck und Raum dieses Buches nicht; 37 es darf hier bloß Platz finden, was an den Ausdruck «der Dorf» anknüpft. Dahin gehören als so shocking sich anhörende, tatsächlich so harmlose Dinge, wie der Dorfschnaps oder das Dorfb’brennts. Das ist der Entgelt der Mädchen für die ihnen gespendete Bewirtung. Der höchst ausgiebig mit allerlei Ingredienzien ( S. 180) versüßte und gemilderte Trank, dessen Hauptwert in der Art seiner Darreichung liegt, wird im nämlichen Dorfgu̦tterli kredenzt, das im Winter den Vater und Bruder zur schweren Arbeit im Walde begleitet. Ob letzteren der Trank auch im heißen August auf der Alp in gleicher Weise zusagen werde, wird von ihnen am vorausgehenden Dorfsamstăg mit Kennermiene g’feckd (gekostet). Daß solche Vorprüfung gerade bei der leiblichen Schwester stattfinden müsse, steht nirgends geschrieben. Immerhin kann alles, was irgendwie mit dem Bärgdorf zusammenhängt, seiner Natur gemäß gleich harmlos verlaufen wie der Vorsaßdorf am Vorsaßsunntăg ( S. 296 ff.), 38 z. B. der Loïchbïelsu̦nntăg.

Für die Beschränkung auf den einzigen Älplersonntag des Jahres entschädigen sich die Mädchen nicht sowohl durch dessen intensives Auskosten, als vielmehr durch die wiederholten winterlichen Nachklänge des großen Dorfs. Sie ziehen gesellig etwa neun bis zehnmal von Stube zu Stube und lassen sich auf Gegenseitigkeit hin bewirten. Es ist dies jedenfalls ein gehaltvolleres und mit seiner taghellen Öffentlichkeit gegen die Kritik gewappneteres Vergnügen, als die von den Jungburschen gepflegten kläglichen Reste des nur noch selten inszenierten Eierloiffet (Eieraufleset). 39 Wir meinen den Eierbättle̥t, welcher im Frühling einige Samstagnächte nacheinander bis zum Überdruß auch des letzten 620 Gebers geübt wird und füglich einem edlern Vergnügen Platz machen könnte. Auch ohne den Selbstkonsum solcher fakultativer Geflügelsteuer könnten die Zusammenkünfte, denen ja doch der Schlaf geopfert werden soll, zu einem gemütlichen dorfen und bb’richten 40 sich gestalten. Ja, das Mindermaß des zum ahischwẹihen geforderten Weins würde es zu manch einem unmerklich sich entspinnenden z’säme nsä̆gen, tä̆ligen und ụsiheischen (s̆s̆) nicht kommen lassen. Gemütlicher als solch ein bis zur Handgreiflichkeit gedeihendes dorfen ist jedenfalls schon der auf der Straße sich abwickelnde Dorf oder sogar das ganz kurze Dë̆ë̆rfli.

Nun könnte es scheinen, all die bisher verhandelte Geselligkeit habe mit einer richtigen Sonntagsfeier gar nicht zu tun, ja die beiden Dinge lassen überhaupt nur keinen Vergleich unter sich zu: das geid denn nịịd z’säme n z’Dorf! Wer nun aber schon eine «Bergpredigt» des Ortsgeistlichen zur Eröffnung eines vaterländischen und drum nicht minder gemütlichen Bärgdorfs im Tempel des hehren Alpengebäudes angehört oder doch von solcher gehört hat, kann auch hier Mehl und Sauerteig zu gutem Lebensbrot sich durcharbeiten sehen. Wie häufig nur der Mangel eines die Menge durchherrschenden gemeinsamen großen Gedankens, Gefühle oder Zuges einen festlichen Tag der Öde und Langeweile ausliefert, zeigt ein Blick auf die gegenteilig gestimmten Scharen, die am Sonntag Morgen sich im éinen Mittelpunkte sammeln. Dieses Zentrum kann, wenn es sich in feinfühligem Kontakt mit allen Lebenskreisen bis an die Peripherie hinaus erhält, in alle Zukunft hinein immer noch die Kirche sein. Grindelwalds Gotteshaus steht zwar just am einen Ende des Dorfes; allein der Großteil seiner Bevölkerung erblickt doch den Inbegriff dessen, was in allen denkbaren geistlichen und weltlichen Lebensumständen rächt ist u nd si ch g’hëërd, noch immer in der bildlichen Rede veranschaulicht, daß d’Chĭ̦lha e̥mmitt’s im Dorf blịịb.

 
1   Ch. 1683. 18/10.   2  1680 8/10.   3   König 66 f.; Wyß 335 f.; Vkehr 3, 53; Lötsch 118.   4   JG. UK. 55-57.   5  Ihn also zweimal — zwiren — fliegen zu machen.   6  Ahd. spilôn heißt: sich munter bewegen; es bedeutet Tanz und Musik zugleich.   7   Wyß 873.   7a   Lötsch 130.   8   v. Tav. 126 u. a.; vgl, «des Alphorns Klage»: And. 933 f.   9   Alpz. Mai 1906, 96; König 62.   10  F. F. Huber (von Karl Nef, St. Gallen 1898), S. 8.   11  In «des Knaben Wunderhorn».   12   Cool. JS. CXLIV.   13   GlM. 47.   14   GlM. 55.   15   Heß (Gesch. d. Orgel, Bern 1907) 6. 9.   16   GlM. 54.   17   Ch. 1688 8/1.   18   Ch. 1672 8/11.   19  1673 20/7.   20  1675 9/7.   21   Mhd. WB. 1, 958 ff.   22  Vgl. 2. Sam. 6, 5-14 ff.; 2. Kön. 18, 26 und speziell den «Singetanz» 2. Mos. 32, 18 f.   23  Vgl. «singen und sagen» (singend sagen): mit gehobener Stimme vortragen oder vorlesen. Das bedeutet bei Ulfilas schon bloßes «singen». In der Synagoge stand Jesus auf und wollte «lesen»: singwan bôkôs (Luc. 4, 16). Daneben bedeutete das Wort auch unser wirkliches singen (Col. 3, 16 und Eph. 5, 19), und ebensogut ein (halblautes) Lesen für sich allein (Eph. 3, 4).   24  Lat. versus = gr. strophe.   25  Vgl. Kögel, Lit.-Gesch. I. Die Richtigkeit der Auffassung ist von der auch gr. ly-o = lö-se und lo-s sich herleiten.   26  Bruinier 61.   27  Ebd. 10.   28   König 62.   29   Gw. Rs. 5.   30   Rebm. 512.   31   Wyß 873.   32  Ebd.   33  Vgl. Meisner in AR. 1811, 121.   34   Wyß 611.   35  Z. B. A.R. 1811, 118; 1819, 339.   36   König 38; Vkehr 3, 54.   37  Vgl. dagegen unsere Darstellung Bern V. 31 ff.   38  Vgl AR. 1812, 303.   39   Wyß Id. 1, 268-302.   40   GlM. 18.  
 

Die heiligen Handlungen.

Är ist schwarza vo̥ráhi, är wird eppa mïeßa n zuehistaan: der Mann, der Jungbursch ist in seinem dunklen Su̦nntăgg’wand ( S. 479) «hinunter gegangen», nämlich als Pate zur Kirche. Hoffart ist aus diesem Anzug grundsätzlich ausgeschlossen. Das zeigt ein Blick auf die Schuhe. Die sehen trotz dem saubern Wege etwas verblichen schịịnend aus, weil der Eigner sie im Lauf der letzten Woche gewichst hat (für die voraufgehende 621 Nässe aber gsalbed ghäben hed). Denn we nn mu̦ am Su̦nntăg d’Schueh wi̦xd, su̦ gi bd’s U ng’feel im Stall. Von Hoffart redet ebensowenig des betagten Mütterchens Brĕdighụụba oder Chĭ̦lhenhụụba ( S. 489), wenn sie sich auch weit kleidsamer ausnimmt als die «stuchen» und «tüchli» 1 der Weiber, welche in den traurigen Pestjahren ( S. 638 f.) bei einem Schilling Buße und sechsstündiger Gefangenschaft «getüchlet» 2 zur Kirche gehen mußten.

So mischen sich äär und sịjă in die wallende Prozession der Chilcherlị̈ị̈t. Es ist Winter, und eben schlaad’s ẹindlĭ̦fi. E n Viertel na ch den eindlĭ̦fen geid d’Brĕdji ịịn. Im Sommer beginnt der Gottesdienst um zehn Uhr; eine Stunde früher also auch is’ ’s ụụs. In welchem Maße man früher den Bedürfnissen einer stundenweit wohnenden Hirten­bevölkerung entgegenkam, als man den Sonntags­gottesdienst auf acht Uhr, die Wärchtags­bredji auf sieben Uhr morgens ansetzte, 3 mögen Sachverständige entscheiden.

Z’Bredji oder z’Chĭ̦lhen ging man, in Fortsetzung einer urchristlichen Übung, bis weit in die protestantische Zeit hinein nämlich auch am Mittwoch und Freitag Vormittag. Noch heute hat das Unterland seine Freitagsfeier; im Oberland ist nun auch der Frịịtăg wie en andra Taag.

Während es z’säme nlị̈ị̈ted (oder nun auch ịị nlị̈ị̈ted), stehen die Männer in plaudernden Gruppen um Kirche und Talhaus. Solches « stotzen uf dem Kirchhof» war ehemals untersagt. Alle sollten während des Einläutens dem Bibelvorleser ( S. 642) zuhören.

Der Gottesdienst­besuch wurde scharf kontrolliert. Schon wer «in drei Wuchen niemalen z’Bredig gangen», ward als einer, der nur «der faulen Haut abwarte», vor Chorgericht beschieden. Scharf getadelt ward auch, wer «vorm Gsang vnd vsspruch des Segens vs der kirchen lief, um dem Kram nachzulaufen»; und keinesfalls durfte vor dem «gemeinen 622 Gebät» auf dem Kirchhof Brot verkauft werden. 4 In der Kirche aber hieß es «uf losen»! Wer schlief, schwatzte, lachte oder gar Gespött trieb, konnte eines Zurufs ab dem Chanzel aha gewärtig sein.

Um so angelegentlicher nahmen aufmerksame Zuhörer schon vom Text der Predigt Notiz, und die Cronegg enthält ein recht interessantes Verzeichnis vom T’hägschten zu Gelegenheits­predigten. Wie aber auch im täglichen Leben zu Haus und auf dem Marktplatz gelegentlich ’bredjed 5 oder umha’prĕdiged wird, was das Zeug hält, so wird ausgiebig auch uber das und das ’t’hägschted. Disputierende hein uber daas z’säme n ’thägschted. Ei’m de n T’hägscht lä̆sen oder in alter Reminiszenz noch häufiger: eim d’Mäß (Messe) lä̆sen bedeutet spezieller als im Schriftdeutschen: einem ins Gewissen reden. Tut das seinerseits der Prediger so, daß man aus seinen Worten genügend deutliche Anspielungen auf den und den heraus­konstruieren kann, su̦ hed er’s aber ei n’s gued g’machd. Muß man aber wohl oder übel auch die eigene Person mit in das Urteil einbeziehen: hị̈ị̈t hed er alḷem uf d’Nĭ̦ß g’gään, so ringt sich der Aufrichtige zur Anerkennung empor: är hed schëënn ’bredjed (oder ’prĕdiged). Eine sehr kritisch veranlagte Grindelwaldnerin aber verabschiedete einen wegziehenden Pfarrer: Jetz b’hïet e̥ wch der lieb Gott, Her r Pfaarer; i ch fï̦rchteṇ grad, mier uberchë̆men no ch de n schlächtre n wan das iehr sịịd g’sịịn.

«Nach dem gemeinen Gebät» mußten je sechs Ehepaare oder Verwitwete zurückbleiben, um das Examen domesticum zu bestehen. Gab es doch siehzigjährige Hausväter, welche «nicht einmal die zehn Gebote sprechen konnten». Unfleißige Examengänger wurden noch 1713 bestraft; und 1669 hatte Pfarrer Erb im Chorgerichts­manual ein förmliches Verzeichnis aller Haushaltungen begonnen, um strenge Kontrolle zu üben. Die Pest nötigte ihn jedoch, das kaum Angefangene wieder zu streichen.

Z’Chilchen ging man früher speziell (oder man feierte «Kirchgang»), um sich trauen zu lassen. Solches hochzịịten sah von jeher die Grindel­waldner­kirche recht häufig. Nicht nur gehört erst recht in einem abgeschlossenen Gebirgstal ze jelhem Hä̆fe̥lli es Techche̥lli und wird selbst eine recht Wählerische, wenn de nn d’Stund u nd der Lappi chunnd, den ihr Beschiedenen «zur Kilchen begehren». Auch Fremde, die den belangreichsten Schritt ihres Lebens in ernst gemessener Stille zu weihen begehren, schauen hier gerne «zu den Bergen» des 623 121. Psalms empor. Daß sämtliche 31 Paare, welche z. B. 1904 us der Chrääzen oder Tru̦cken (dem Zivil­verkündigungs­kasten) zum Altar wanderten, es in dieser Gemütsstimmung taten, wird ja nicht behauptet. Auch die verblaßte Bedeutung des einst rechtssymbolischen z’sämeṇgään 6 muß wohl oft genug in ihrer Versteinerung verharren.

Im nämlichen Jahr 1904 besuchten 52 Konfirmanden die Under­wịịsug des Freitags. Als Maßnahmen von allgemeinerm Interesse dürfen dabei die öffentlichen Schlußprüfungen und die daheim kurz zu beantwortenden Fragezettel gelten. 7 Am Karfrịịtăg tued der Pfaarer de n Chinden erloiben; z’Ostreṇ gi bd er ’ne n d’s Nachtmahl; es ist dies ihr erster Zuegangs­sunntăg. Diese Admission oder «Erlaubnis», wie man im Unterland sagt, hatte ehemals die Rechtsgültigkeit einer Ehelizenz: der Nachtmahls­schịịn — der heutige Nachtmahl­spru̦u̦ch — war eine unerläßliche Ausweisschrift. Der einmal gestattete Abendmahlsbesuch galt dann aber auch als Pflicht, die ohne Examen und Bewilligung nicht auswärts (nicht einmal in Gsteig) 8 erfüllt werden durfte. Umgekehrt war Abendmahls­verweigerung eine Rechtsverletzung, für welche ein Pfarrer vor den Visitator gezogen wurde. 9 Dies begreift sich schon aus der magischen Schätzung des Nachtmahl­brods, das wohl etwa einer statt der «nießung» i n Sack z’stoßen 10 unternahm, um damit unheimli ch Chị̈ị̈ nsti ụụsz’ïeben. Eine so feierliche Handlung durfte man im Zeitalter der Kleidermandate auch nicht ohne vorgeschriebenen Anzug begehen. Die Chorrichter bestimmten unterm 26. Mai 1676: «Es soll von nun an und inskünftig weder mannsbild noch wybsbild niemahlen mehr ohne rock, ermel oder wammst zum Tisch des Herre gehen, wie sonst dieser wüste Brauch vnd vnordnung hier gar gmein ist gsin vnd im schwang gangen, vnd daß by 10 B. vnnachläßiger buß.» Eine Witwe, die zwei Jahre später 11 aus Hoffart ohne Ermel erschien, ward denn auch gebüßt. Nach Freigebung der Tracht aber gingen — noch vor vierzig Jahren — Männer bei schönem Wetter an gewöhnlichen Sonntagen ohni Schlu̦fi ( S. 484), ja häufig im Mälchhemmli oder Mälchmu̦tz z’Chilchen.

Dem Konfirmandenjahr geht heute ein Jahr der Chinde nllehr voraus. Ehemals folgten obligatorischer Kinderlehrbesuch und dazu die Teilnahme am öffentlichen Gebet der Konfirmation auch nach, und strenge Ahndungen daheriger Versäumnisse helfen die Chorgerichtsmanuale füllen. 624 So hatten 1676 «der alt Weibel Hans Ämbch, Uli Heinz und Peter Besät» in der Kinderlehre Hüte und Kragen abgelegt, um noch besser schlafen zu können; und 1681 renommierte ein Bursche, «er sei der gelehrtesten einer im Thal; er könne in der Kinderlehr nüt lehren, er gehe nicht.» 12

«Der Tauf», der Toiff, modern grindelwaldnisch: d’Toiffi wurde 1904 an 97 Kindern vollzogen. Die Weigerung, als Pate einem Vater «ein Kind über den Tauff zu heben», e̥s Chind ub’r de n Toïff z’haan, wurde 13 mit einer absitzbaren Buße von einem Pfund bestraft, obschon der Gesuchsteller durch Anrempelung und Scheltung die Abweisung provoziert hatte. Ein weiteres Eintreten auf diese Feier 14 ersetzen wir uns in diesem Buch durch das Hegg’sche Taufbild, worin Gotta und Gëtti, Gotti und Gëttiga in ihrer zugleich feierlichen und anmutigen Tracht 15 ( S. 490) die Kirche und deren Umgebung zieren.

E Toiffi in der Tracht.

Wiege und Sarg, warmes Kinderbett und kühle Erde: auch diese Symbole von Anfang und Ende des Lebensverlaufs erliegen dem Wandel der Zeit. Das Wiegen hört auf ( S. 469), und «durch’s Feuer zu den Gestirnen» 16 stieg 1905 die erste Engländerin von ihrem Sterbebett im Gletschertal. 17 Sonst ist wie allerwärts das (ältere) vergrăben, das (neuere) i’n Häärd legen die Bestattungsweise von z. B. 65 Personen im Jahre 1904. Und zwar kamen lange vor jeglicher polizeilichen Vorschrift Verstorbene aller Bekenntnisse ohne Unterschied der Todesart an ihre Reihe auf dem Frịthof ( S. 626). Es war auch hier der Volksglaube, der Ordnung schuf. Ein Selbstmörder, heißt es, ward in der Chratze̥rren am Faulhorngehänge begraben. Da ersproßte auf der Stätte ein Schlussel­bluemmen mid sï̦ben Eiginen. Man berichtete dies nach Bern und erhielt den Befehl, die Leiche in den Friedhof zu verbringen. Denn der Tote habe — das besage die Blume — Gnade und Barmherzigkeit gefunden. Auch die Beerdigungszeit: an Wochentagen um zwölf Uhr, an Sonn- und Festtagen vor dem Gottesdienst, welcher alsdann den freien Ersatz des Leichengebets in die Sonntagsliturgie einflicht, wird für jedermann eingehalten. Für alle auch war noch vor fünfzig Jahren das Sarch eine ungehobelte, ungeschwärzte und ungefirstete Bretterkiste. Nur das Biel, die Saaga und ein Nä̆gwe̥rli durften beim sarchen gebraucht werden; der Hobel war verpönt. Die Sarchspään sollte man nicht verbrennen; man trug sie in den Wald 625 oder in einen Graben. An Sarg für Selbstmörder fehlte auch der Boden; dieser ward durch Spränzla (gekreuzte Stützstäbe) ersetzt, fï̦r das s ei nmḁl alls ụụs- und ịị nmmë̆gi, was eppa ds Rächt heigi u nd mmị̈eßi. Das Sterbegewand, welches heute bei Wohlhabenden sogar das Hochzeitskleid sein kann, bestand aus einem schlechten Leintuch, das wohl vom Sterbenden selber angewiesen worden. In dasselbe ward die Leiche eingenäht: ịị n’bï̦eßd. Dabei sollte man mit der Nadel von ei’m dänna (von sich weg) stechen. Die Nadel aber wurde sofort nach Gebrauch zerbrochen und ins Feuer geworfen. 18

In der Pestzeit von 1669 ward eine Witwe mit Gefängnis bestraft, weil sie «ohne Notwendigkeit ihren Man Sarck Loß Begraben lassen, auch bei der Begrebnuß kein Thüechlin ( S. 489) gehabt.» 19

Nun beerdigt man, wie ’s an allen Orten ị̈epli ch u nd bbrị̈ị̈chli ch ist, und seit 1904 vollendet der Totenwagen die Weihe der Handlung. Dieselbe wird eingeleitet durch das Lịịchbätt (Leichengebet) oder die Lịịhe nreed des Ortsoberlehrers vor dem Trauerhause. Zur diesem ’Bätt (nach üblichster Bezeichnung) wird von Haus zu Haus in der Umgebung aufgeboten: Ịe̥hr sëllid de nn mmid (NN.) mor gen o ch z’Lịịch; är sịgi um zwëlfi i’n Häärd z’lĕgen. Die Grabesweihe vollzieht der Ortsgeistliche, und zwar Pfarrer Straßer nach einem passenden Bibelspruch mit einer jedem Toten gewidmeten Dichtung, die er später der Trauerfamilie ins Haus bringt. Manch ein Gedicht dieser Art, hübsch gedruckt und eingerahmt, bildet eine hochgehaltene Wandzierde. 20 Das Andenken an ein wirklich teures Familienglied wird ebenso auf dem Friedhof augenfällig gepflegt, und auch hier leistet der Volksglaube einen großen Dienst. Der da und dort so häßlich im Schwang gehende Blumenraub wird abgewehrt durch die Überlieferung: Wär Frịthofbluemme n sti̦hld, erbd die Chrankheit, wa der Vergrăbd dră n g’storben ist.

Weniger schön endete auch hier in ältern Zeiten die Grẹbd oder das Leichenmahl die so ernste Feier. Seit längerer Zeit aber ist solchem grebten gründlich der Riegel gesteckt. Selbst das Herumreichen von Wein und Brot vor dem Sterbehaus hat aufgehört, und nur noch wirkliche Erfrischungs­bedürftigkeit für fernher Zugereiste wird befriedigt.

 
1   Ch. 1674 3/4.   2  1669 23/7.   3  1674 13/3.   4  1668 19/7.   5  Mit «Bredji» und «bredjen» schreiben wir notdürftig eine Aussprachweise, deren Nachahmung dem Nicht­grindel­waldner kaum gelingt.   6  Vgl. Tfb. 15. 19. 20. 22. 25.   7   GlM. 23.   8   Ch. 1678 13/9.   9  1677 28/6.   10  1671 7/7.   11  1678 13/9.   12  1681 13/11.   13  1680 14/1; 4/2.   14  Vgl. Lf. 612-622.   15  Vgl. das schöne Gedicht EvG. 1906, 52.   16   Per ignem ad astra: Wahlspruch der Leichen­verbrennungs­vereine.   17   EvG. 1905, 27.   18  Für die Religions­geschichte interessante animistische Daten.   19   Ch. 1669 5/2.   20  Eine Sammlung solcher Gedichte («Von des Grabes Rand auf zum Oberland») erschien 1907 bei Schläfli in Interlaken.  
 

Geistlich-weltliche Behörden.

Der dem Tod Verfallene ist dem Sĭ̦grist, und är chu̦nnd i n d’s Sĭ̦grist’s Ho fstettli oder i n d’s Sigristweidli fï̦r ei ns und alli. 1 Nach allgemein ländlicher Übung ist nämlich der Sigrist (Kirchenwärter) zugleich Totengräber. Sein ehedem geradezu gesundheits­mörderischer 2 und bisweilen nahezu unmöglicher 3 Dienst als solcher ward ihm seit 1675 mit zween Bätzen für ein kleines und drei für ein großes Grab gelohnt. (Bisher bezog er für jedes säx Chrị̈ị̈zer, 4 das sind 1½ Batzen.) Dagegen sollte er, wie übrigens schon vorher, 5 «sich armer Leüthen Gräbtmähleren müßigen.» Ringer verdiente er die zehn Kreuzer von jeder Hochzeit, «von Fremden mehr.» 6 Überdies mußte jeder, der eigend Fị̈ị̈r u nd Lliecht hatte, den Sigristbätzen 7 entrichten. Der Sigrist war befugt, siin Bätzen von Hụụs z’Hụụs gă n z’pretten­dierren als Honorar fï̦r d’s lị̈ị̈ten. Statt dieser säx Chrị̈ị̈zer erhielt er jedoch in der Regel bei Vermöglichen so viel Spịịs ( S. 382), wenigstens so n eṇ großa Bitz Chääs, daß die schließliche Ablösung seiner Rechte mit zweihundert Franken aus dem Talseckel ihn wohl fast gereuen mochte.

Dem seit 1874 so geheißenen Kirchgemeinderat der bernischen Kirchen dient vielfach der Sigrist auch als Weibel. Im ehemaligen Chorgricht, «Kanzelgericht» (1466) 8 «geistlichen Gericht» 9 oder in der Ehrbarkeit dagegen ersetzte ihn der eigene Chorweibel. Die Bezeichnung der alten Chorrichter trägt sich auch noch auf die heutigen Kirchgemeinderäte über; diese heißen bis zur Stunde d’Chormanna. Der Choormaan geid i n d’s Chor oder ist im Chor: nimmt dort seinen Sitz während des Gottesdienstes ein, um nach dessen Beendigung noch still z’staan und den Bericht des Pfarrers abzuwarten, ob es unvorher­gesehener­weise im Pfarrhaus eppḁs z’chorg’richten gebe. Der in Zürich noch heute übliche Name Stillstand für Verhandlung und Verhandelnde figuriert auch in Grindelwalds alten Chorgerichts­manualen. 10

Die hier gezeichnete Behörde als Vorgängerin des heutigen Kirchgemeindrats (der ost­schweizerischen «Kirchenpflege») deckte sich nach ausdrücklicher Versicherung historisch bewanderter Grindelwaldner in den Personen regelmäßig mit dem Untergericht (Einwohner­gemeindrat) vor 1831. Grindelwald hatte also tatsächlich für seine weltlichen und kirchlichen Angelegenheiten eine allereinzigi Gemeindsbehörde. Das war ja auch anderwärts der Fall, wo bis zur Stunde bei verschwindenden 627 konfessionellen Minderheiten kirchlicher und politischer Gemeindebann zusammenfallen. Das stund allerdings im Widerspruch mit ausdrücklicher obrigkeitlicher Vorschrift. Gemäß derselben sollten beide in verschiedener Zahl bestellten Behörden selbständig nebeneinander ihres Amtes walten. Gemeinsam sollte ihnen bloß der Vorsitz durch den Oberamtmann (Landvogt) oder (in dessen Abwesenheit) durch den von ihm ernannten Stadhalter (Unterstatthalter) sein.

Ein Choormann.

Auch der abwartende Weibel konnte in beiden Behörden der nämliche Mann sein. Dagegen sollte jede der sieben «Alpschaften» ( Bärg­schaften, S. 304), wobei jedoch Bueßalp inner und ụụßer Orts zwiefach zählte, zum Chorgricht, dem «alle Consistorial­sachen» unterstanden, nur einen «Beisitzer» oder eben Choormaan stellen, zum Gricht («Unter»- oder «Fertigungs­gericht») dagegen zwei G’richt­sääßen. Auch fungierte im Chorgericht der Pfaarer als Aktuar, und die Verhandlungen fanden in Pfarrhaus oder Kirche statt. Das Untergericht dagegen versammelte sich in einem der zwei privilegierten Wirtshäuser der Talschaft u. a. für Angelegenheiten, um deren willen die Gerichtssäße oder mühlebacherisch die Fï̦ï̦rg’satzten häufiger Weislivëgt hießen, die gesamte Behörde das Weisen- oder Weislig’richt (Vormund­schafts­behörde) genannt wurde. 11

628 Im Chorgericht konnte der Pfarrer, wenn dessen Persönlichkeit es mitgab, so entschieden das Factotum darstellen, daß wir z. B. den Nachfolger Erbs vom Jahr 1670, Hemmann, sich mit Vorliebe als «Vorsteher» (in mancherlei Funktion) betiteln sehen. Der damit in den Hintergrund gedrängte Statthalter verbesserte dann etwa seine kirchliche Stellung als Chilchmeier (Kirchenguts­verwalter). Übrigens konnte er, weil durch keinen Vị̆zị̆ vertreten, durch Nichterscheinen auch eine Chorgerichts­sitzung beschlußunfähig machen. Wenn der Statthalter «nicht gegenwürdig war, wurde nichts würcliches beschlossen»: 12 e̥s ist nịịd vor si ch gangen oder ab’gangen. In der kirchlichen Behörde taucht zuweilen auch der Seckel­meister (Gemeindskassier), sowie der Spändvogt («Oberspendvogt», Armenguts­verwalter) auf.

Eine kleine Vorsehung! Denn unzählige Angelegenheiten, welche heute die Ortspolizei und die Gerichtsbehörden beschäftigen, sehen wir dem alten Chorgericht zugewiesen. Drum wurden bisweilen zwei Sitzungen in der Woche gehalten; und bei förmlicher Umfrage wurden Leute beider Geschlechter verklagt, um das nächste Mal g’chor­g’richted oder z’Reed g’stelld und abgeurteilt zu werden. Wer e ntbbotten, b’schickd («bescheiden») oder gar durch eine Ediktalladung ab dem Chanzel 13 aha zitiert worden war, hatte seit 1763  14 bei zwei Pfund Buße «mit Dägen oder Mantel» zu erscheinen.

Und wie viele hei n vor mị̈eßen! Einen unliebsamen Gegensatz zur Gegenwart ( S. 451) bildeten vor allem die vielen Diebereien und Frevel. Einige derselben erklären sich aus der frühern Are̥mued u nd Gnëëti. So der Einbruch eines hungrigen Knaben; so das Melken fremder Ziegen und das mid deṇ Geiße n z’Weid u̦f ander Lïïten; so das nächtliche abschäären und g’schenten von Kornähren, das Härdepfel gŏren auf fremden Äckerchen u. dgl. Die Behörden machten sich zur strengen Pflicht, «fleißig auf Diebe zu lustren» — vgl. das noch heutige ụụschlụ̆stren 15 oder ụụsg’wundren. — Sie stellten wohl sogar, wenn nicht noch in letzter Stunde ein freiwilliger Fï̦rspräch für die Schuldigen ii ngredt g’hä̆ben heed, gelegentlich einen Mann mit einem Bündel gestohlenen Heus oder ein Weib mit einem Nastuch voll Emd im Näcken (Nacken), wohl auch eine Warendiebin mid ner Hu̦tten am Rï̦gg während des Predigtläutens auf dem Kirchhof an den Pranger. Das hed ’ne̥n de nn rrichtig d’s stä̆hle n gnụụn — oder ’ne n d’s g’schẹnten, d’Gschẹntĭ̦gi erleided.

629 Nahmen sich gleichzeitig die Behörden kräftig und weise vorbauend ( S. 633) der «wirtschaftlich Schwachen» an, so hatte diese radikale Justiz ihr doppelt gutes Recht gegenüber mannigfacher Eigentums­schädigung aus Rohheit und qualifizierter Bosheit. Solche schandbare Mï̦ste̥rle̥ni waren z. B. Honigraub unter Verbrennen von Faas und Bịjjinen, nachdem d’s Hu̦ṇg aus den Waben geträufelt war (1685); das Verderben von Saaten: d’s Chŏre n verrun­genierren; das nächtliche Entlassen von Stallvieh, so daß Geiß i n d’s Chŏren old i’ n Flax old i’n Hajf glï̦̆ffe n sịịn; Unfug auf Hausdächern: Steina d’rŭ̦f rị̈ehrren und dgl.

Als häufiger Grund steckten hinter solchen Sittenbildern aus der «guten alten Zeit» nächtliche Trinkgelage z. B. in der «Posternacht», 16 bi ’ner Trịịchleten ( S. 359) old an Hị̈ị̈ffen (unzählig vielen) Aabe ndsitzen. Schon damals spielten Läbschịịbi ( S. 500) und Schnapps oder aa ng’machd’s ’Brennts ( S. 180; «Branntewịị n u nd Läbchuehen») ihre Rolle. Gedieh durch das selbstgebrannte Chirswasser ( S. 189) auch sonst manch, einem zum Unheil, ohne allerdings dem Wịịn merkliche Konkurrenz zu machen. Der letztere wurde häufig nach der Kirche aufgesucht, und drei z. T. weibliche Personen vertilgten einst «sieben Maß in einem Sitz.» 17 Dem Übel steuerten scharfe Überwachung der Säufer, Wirtshausverbote von der Kanzel, 18 gesalzene Bußen (von fünf Pfund) für ein köstliches und «vnmäßiges Kindbettimahl.» 19 Daneben bestrafte man mit Buße und Gefangenschaft das «mit Karten spielen» und das «würfflen» — Wï̦rffla trëëllen, brätten. — Zugleich bekämpfte man, wie zu jener Zeit im ganzen Kanton, das «Topack» 20 oder «Tabak trinken», das tụ̆bácken. Nicht bloß die Roiker, sondern ebenso die mit To̥báck Handelnden wurden gebüßt, und zwar die in beidem sich vergehenden Weiber doppelt. Die Maßnahmen haben unter letztern denn auch so nachhaltig gewirkt, das s e̥s e̥s G’reed, e n Tallärmeṇ gi bd, wenn sie schon bloß im Verschleikten oder hi̦nna dị̈ị̈r ch roiken. Mit den leidenschaftlichen Raucherinnen des Wallis 21 vergleichen sie sich also in keiner Weise, und noch viel weniger mit den Weibern des Formazzatals, 22 welche schĭ̦ggen. Manch eine Grindelwaldnerin dagegen schnï̦pfd, was indes zumal einer schwerbepackten Lastträgerin während einer Ruhepause hundertmal eher hingeht, als zwölfjährigen Knirpsen das Stolzieren mit dem Stu̦tzerli oder Häärderli: dem häärdigen, (eines Kreuzers werten) chrị̈ị̈zerige n Pfịịffli. Zum Dummstolz eines solchen Reïklers, Reïke̥llers, der gleich den Alten 630 mittelst des To̥báckspaans To̥báck aa nziehd oder aa nsteckd, stimmt es dann allerdings seltsam genug, wenn ein ihn überraschender Vorgesetzter ihm ein wohl angebrachtes «Wohl bekomms» uf d’s Wang (auf die Wange) appliziert. Nur sollte gegenüber Knaben und Mädchen, welche mit erspartem oder auch gestohlenem Geld schweizerischen Schoggelaa n Chï̦ṇ’gen ihre Tä̆fe̥lle̥ni und Maale̥ni abkaufen, gleiche Elle gelten.

Auch alles «gygen und springen», «ufgygen», «uflyren» zu allgemeinem oder «sonderbahrem» (in privatem Gebäude gepflegtem) Tanz fand seine Aufpasser und Angeber.

Besonders das Treiben auf der Alp wurde scharf aufs Korn genommen. An das alberne Gesinge «auf der Alp, da gibt’s kei n Sünd» glaubte niemand jemals weniger, als Grindelwalds Sittenrichter vor zweihundert­fünfzig Jahren. Verschiedene Unordnungen hatten direkten Anlaß zum Einschreiten gegeben. So schlug einer seine Frau, weil sie ihm nicht Milch geben wollte «und zu andren stäfflen lief.» Darauf hin verordnete die Behörde: 23 «Die Weibs-Personen söllen für heurigs Jahrs hin deß Alppens sich gentzlich müeßigen» — d’s alpe ns si ch ergään. — Kam zu allem noch die Gefahr der Seuchen­verschleppungen ( S. 335) in Betracht, so begreift sich erst recht, wie rasch dieses Verbot Sitte wurde. Man duldet seit jener Zeit keine Weibsperson mehr als reguläre Alparbeiterin ( S. 322). Die letzte, welche eine Anerkennung als solche erzwingen wollte, wurde, als alle andere Gegenwehr fehlschlug, u̦f ’nem Mistschlitten i n d’s Taal ahi g’fergged. Aber auch dem bloßen weiblichen Alpbesuch wurden Schranken gesetzt. Bereits vor oben zitiertem Verbot hieß es: «Die Meidlin söllind sich deß üppig vmbherschweiffens auf die Allpen bey 1 gl. straff vnd 6-stündiger gefangenschaft enthalten». Von Zeit zu Zeit wurden eigene Alpaufseher — Hị̈eter, Wächter — bestellt, welche «auff unnützes Leben auff einer alpp achtung geben» sollten. 1776 aber durfte überhaupt kein Weibsbild mehr auf die Alp gehen. Auf die Dauer indes waren bloße weibliche Alpbesuche nicht abzustellen wie weibliche Alpgeschäfte: sie ließen sich bloß allmählich in die von der gegenwärtigen Sitte gezogenen Schranken weisen. Vor Pfarrer Ziegler (1834-43) galten noch fünf ungleiche sommerliche Besuchstage als erlaubt, nämlich je einer für Bußalp und Holzmatten, für Bachalp, für Grindel und Scheitegg, für Wärgistal, für Itramen. 24 Unter und seit Ziegler aber beschränkte man sich auf den einen (bereits am 14. September 1672 ausdrücklich erwähnten) Dorfsunntag ( S. 618 f.)

631 Weit erreichbarer waren natürlich dem Chorgericht die aus vorigem erklärbaren Übelstände im Tal. Da wurden verlotterte Familien getrennt — Hụshaltugi ụụfg’stï̦tzd — und liederliche Väter zur Teilung mit ihren Kindern gezwungen; mu̦ hed ’ne n Vë̆gt g’gään und sie erst bei Wohlverhalten wieder vogtlos g’machd. Besonders gab man acht, «wie die Weißlin bey Vögten und Pflegern gehallten werdind.» 25 Eines machtvollen Schutzes erfreuten sich Verdinger (Verdingknaben) und Verdinge̥rri (Verdingmädchen), Stumme, «schlecht arbeitselig Kind» — Ggrëëggla, Ggrëëgge̥lleni —, Epileptische — mit dem hi nfallende n Weh Behaftete. 26 Umgekehrt kam eine Barbli Rieder in Gefangenschaft, weil sie «dem buben zuvast bibäbeled — bịpääperled — vnd glimpf gibt und ihn von den Meistern hinväg gezeücht — ’zëëkd — hat, also daß selbiger niemand dienen will.»

Einen erhabenen Gegensatz bildet die Frau, die ihren ehebrecherischen Mann neu annimmt, 27 zu nächtlich schwärmenden Eheweibern; zu «unnützen faulen Täschen», die recht häufig durch verfleeken oder verg’gu̦tzlen vom Hausgut sich heimlich Geld verschaffen; zu wehleidigen Hääpe̥llinen ( S. 266), wa si ch nịịd më̆ge n lịịden; zu nịịd raatsigen Verläumderinnen und Zänkerinnen «mit vnbeschnittenem Maul», 28 die überall «ein vnflat anfangen» — e̥s Tä̆tsch old e n Tä̆tsche̥ta aa nrreisen —. Eine qualifizierte Megäre 29 setzte einer gehaßten Kindbetterin erst mit abscheulichen Schimpfreden zu, goß dann über ihrem Bett auf der Laube ( S. 456) das Nachtgeschirr aus, wälzte ihr große Steine in die Stube, schlug mit der Axt an deren Wände, besudelte ihr die Suppe und versetzte ihr Fausthiebe an den Kopf. Hinwieder hatte ein als «nit witzig» — als e̥n ei nfäältiga Tschĭ̦si, als Lappi, als Tschampel, als Schlaarggi — ungestraft Entlassener 30 seinem Weib «ein Maultäschen geben» ( en Ohrfịịga g’schräpfed, e n Schweigge̥lla oder Schweiga g’choifd, eine Chlăbịịra na ch der Gattug, e n Schmeis oder e n tolla Tä̆tsch a’ṇ Grind; er habe sie a’n Grind ’troffen, ihr ei ns ’zwăned, eini ’zŏgen, eini gsteckd, eini la n g’hịjen oder la n lĭ̦gen, eini aa ng’chleipd). Als Grund gab er an; «sie welle ihme nid schwygen» — sie heigi ’mu̦ gẹng drĭ̦ n z’chăflen u nd z’lăfren, z’tä̆tschen u nd z’knä̆tschen. Der gehörte doch wenigstens nicht zu den «Mannen, die zwar Weiber haben, aber noch Buben sind». 31

Wie in so vielen andern alten Sitten­gerichts­protokollen überrwuchern Paternitäts­affären alle übrigen Verhandlungen. Nicht etwa bloß «böse 632 schampere Bubenmeitli» und «schlimme vnverschamte Gusteni», 32 sondern sonst unbescholtene, aber widerstands­schwache Personen kamen zu Fall als auswärtige Lohnspinnerinnen 33 fï̦r nen Bä̆tzen im Tag — oder in fremden Diensten de̥r (durch) d’s Land ahi, doch wohl selten vor Bäären ụụs. Wenn sie dann, heim befördert, «Kindts lagen», wurden sie g’jĭ̦chted, 34 um den Urheber zum Ammenlohn und zum verlëhnnen (versorgen) des Kindes anzuhalten. Schlimme Folgen hatten — wie überall — die Landmu̦strŭ̦gi 35 der Landvogtei Interlaken auf den Ägerten zwischen Wilderswil und Matten, sowie die Grindelwaldner Mŭ̦stru̦gi und Tri̦lle̥ti aus der Muster-Ei, 36 besonders wenn etwa Tri̦llmeister 37 als Trunkenbolde böses Beispiel gaben. Bitterer Ernst wurde mit Eheversprehen gemacht, die scheinbar ụụfrächt u nd redli ch geschlossen wurden, wohl sogar mit dem Ehepfennig einer Silberchronen, 38 wenn nicht mit der Verheißung eines Tŭ̦bel ( S. 615) oder topplete n Tŭ̦bel als Ehgäld. Die Zitierten mußten, wohl oder übel, «mit einanderen Kilchenrecht halten»; und wenn sie nicht no ch sụụfe̥rri ze’m Tï̦̆rli anhi sịịn (das Kirchhoftor passierten), wurde der Braut d’s Chränzli verboten, wohl gar vom Hoi pt ahag’schrissen. Zudem wurden verfrühte Wochen mit Buße belegt. — Wie leicht in der Tat bisweilen über den wichtigsten Lebensschritt gedacht wurde, beweist der nächtliche Streich zweier als Bursche verkleideter Mädchen, deren eines sich von einer einfältigen Altersgenossin die Ehe versprechen ließ. 39 Der schlechte Witz kostete jede zwei Pfund Buße, aber auch die Düpierte als «manniges» — manne nvolhigs — Wesen ein Pfund.

Manneṇgwand als Weiberanzug mußte aber gelegentlich 40 noch andern Unfug decken: den Bättel. Diesem ging man denn auch, in endlicher Nachachtung der obrigkeitlichen Erlasse, im September 1756 grundsätzlich zu Leibe mittelst der örtlichen Bettelordnung. Vorher erwehrte man sich der Not, wie mu̦ hed chënnen u nd më̆gen. So wurde am 16. Dezember 1676 der Hans Braband zu einem Profos — Proffóis oder Bätteljăger — gemacht. Er soll «alle Tag oder auf’s lengste der ander Tag durch die ganze Thalschaft gehen und achtung geben vf die frömbden und einheimischen Bättler, welche da von Hauß zu Hauß gangen gahn bättlen. Und soll ihme für sein lohn die spänd geben werden und noch 6 Pfund spyß.» Mit der Zeit wuchs 633 sich der Proffois, der zu seinem Ausweis e̥s Bïechli g’fergged heed, zum Polizị̆jer aus, der nunmehr dem Gemeindrat als Weibel dient, und der in letzterer Eigenschaft längere Zeit durch die Witwe eines Polizeidieners ersetzt wurde. Die Armenversorgung aber gestaltete sich so aus, daß die fremden Bettler gewöhnlich (vgl. aber S. 640) so gütlich als es anging zum Tal hinaus komplimentiert wurden, indes den einheimischen — hiesigen — zunächst einmal je ein Tag in der Woche zum bättlen eingeräumt wurde. Bald jedoch geriet man auf den Ausweg, als Almụesen von Haus zu Haus Wäägspịịs einzusammeln und dafür durch polizeilichen Anschlag an jedem Hause den Bettel zu verbieten. Weichherzige Bäuerinnen machten jedoch dies Verbot derart illusorisch, daß der Bettel als Krebsübel der Gemeinde sich in die Fremdenzeiten hinübererbte und nur dank außerordentlicher Energie von Pfarramt und Gemeindsbehörden ( S. 519 f.) so gut wie ganz ausgerottet werden konnte.

Um so vorsorglicher nahmen sich die Behörden von je der verschämten Armen an, wenn auch z. B. die Spende an eine Kindbetterin i. J. 1706: «all Tag 1 Maß Wyn (!) und umb 1 Btz. Brot, sowie 70 Btz. an Anken» usw. 41 nicht so rationell aussieht, wie die Verwendung des zähende n Schoibs (Getreidezehnten) zu Gärsten­chuehinen ( S. 269) für einheimische Arme überhaupt. Einen guten Eindruck machen die fünf Pfund fï̦r i n d’s Baad «zu Wallis» 42 (Viesch, und nach dessen Verschüttung durch den Gletscher: Leuk); ebenso die zwei Kronen an einen dreiundachtzig­jährigen Patienten für seinen «Schnitt, den er noch fürzunehmen Vorhabens seye». 43

Das so äußerst wichtige Kapitel der Schuel bleibt auch von diesem zweiten Bärndütsch-Band ausgeschlossen, weil eine Schulgeschichte Grindelwalds durch andere Hände in Aussicht steht, und weil ein unterbernischer Dialektkreis erst recht den für die Tragweite der Sache erforderlichen Raum bieten wird. Bloß einige Streiflichter mögen hier den Urcharakter der Kichenschule illustrieren. Jedes Kind, das 1669 «alle drei CatechismosFragenbïechle̥ni — samt der Epistel an die Römer» 44 oder 1674 «alle Psalmen Davids» 45 auswendig gelernt hatte, erhielt ein bernisches Psalmenbuech geschenkt. Wie ging das wohl, sobald das bue chstăbnen (buchstabieren) zur Not eingeübt war, über Hals und Kopf an ein ụụswẹndig lehrren, um am Ụụfsä̆get (Examen) mit Ehren bestehen zu können! Als mächtige Errungenschaft galt die Beschaffung von Schulbänken im Jahr 1690, «damit die Kinder auch, können lehren schreiben.» Von setzen (Stilübungen) war natürlich noch keine Rede.

634 Ja wie schel noch unter Pfarrer Ziegler (1834-43), diesem eifrigen Schulmann, schon das bloße Tafelschreiben angesehen wurde, beweist der Sarkasmus einer Mühlebacherin: Ja ja, d’Tăfe̥lla wird tẹich eppa der Wääg ze’m Himmel sëlle n sịịn, und der Griffel der Stab dḁrzue! Eines größern Kredits scheint das Kopfrechnen mit der Gedächtnisstütze der römischen Ziffern sich erfreut zu haben. Diese Chnĕbelzahli waren bis etwa um 1830 in Übung, und man erzählt von einem Fäsler, mit welch erstaunlicher Sicherheit er an Hand dieses Mittels den Alpgenossen ihre Abrechnungen auf den Löffel ( S. 321) genau zugestellt habe. Von der Positions­arithmetik der arabischen Ziffern dagegen wollte dieser Beherrscher des Zahlenreiches nichts wissen. Das ist grad, a ls we nn mu̦ g’schịịde n Lị̈ị̈ten wellti z’schlimma sịịn! meinte er kopfschüttelnd.

Lehrer Roth.

U nb’schueleta, als einer, der gar kei n Lehr g’hä̆ben heed, trat dieser Mann ins Alter der Ụụsgschueleten, der G’waxnen über und überflügelte manch einen Musterschüler. Allein wie viel U ng’lehrti (Schwachsinnige), wa in der Lehr zru̦ggblịịben, gerieten auf die schiefe Ebene, weil an ihresgleichen täglich energisch gearbeitet werden will.

Die Bernerkirche, welche ihre beste Tochter, die Schule, an ihrer Seite zur Selbständigkeit heranwachsen sah, nimmt sich nun eines Verwandtenkindes uneigennützig an: sie steuert der traurigen Welschland­gängerei, welche so vielen jungen Leuten Tod oder Siechtum eingetragen hat. Sie vermittelt auch im Grindelwaldner-Pfarrhaus Stellen im Wältschen (in der französischen Schweiz) fï̦r die, wa weiṇ ga n d’Sprach lehrren.

635 So viele Kompetenzen standen der kirchlichen Gemeindsbehörde als Chorgericht zu. Dasselbe verfügte aber auch über eine äußerst ansehnliche Machtfülle. Zitierte wurden «um ein Sitzgeld angelegt» — sie hei n mị̈eße n Chësten haan —, und Ausbleibende kamen durch den Weibel in Gefangenschaft: i n d’Chĕfi. Es war die Roßstallchĕfi: der zumeist leere Pferdestall des Pfarrhofs. Auf manch einen übte die solenne Verhandlungsart einen tiefen Eindruck. Ein sonst unbescholtener, ja ganz tolla ( S. 151) Maan nahm Rüge und Strafe mit dem Vorsatz hin, är well sịị’r Lä̆be ntaag si ch dra n stoßen oder si ch dra n bsinnen.

Lehrerfamilie Roth.

Andere dagegen gaben «faulen Bescheid»; z. B. sie hätten keineswegs getanzt, sondern «bei einanderen Dorffet und psalmen gyget.» 46 Ein Weib gab vor: «Sy heigen nit recht tantzet; sy heigen nur ein wenig g’sprungen, der geyger heige nit recht können geigen.» 47 Einer hat gemäht, ohne zu wissen, daß es Sonntag sei, «bis es ihm in Sinn kommen; er heige gar ein blödes Haupt» 48 är sịịg schwach i’ṇ Gidanknen. — Andere späßlen und foppen oder geben «unverschampten Bscheid: sie seien nicht schuldig zu antworten». Oder «sie hein gar 636 lätz drab ’taan»; sie haben «sich heftig entschuldigt», d. h. polternd sich rein zu waschen versucht; sie sịị n mid Lugine n choon, sie hei n g’loigned. Kein ehrlicher Zeuge werde gegen sie zu reden wagen; old es sell ’nen epper fï̦rha staan! Der eint («jener», quidam) erklärte: är well so mẹnga Eid tuen, a ls er Haar uf dem Hoi pt heigi. Oder: D’s Wätter sëll n e̥n erschießen! Der Tị̈ị̈fel sëll n e̥ṇ grăd z’lä̆bendem Lịịb u̦f däm Platz nään! 49 und dgl. m.

Allein manch ein derart Pochender hed bald e̥s anders Liedli aa ngstimmd, wenn vor «dargestellter Kundschaft» (Zeugen) die Anklage gegen ihn «erääfe̥rred» oder «wĭ̦derääfe̥rred» wurde. (Der alte Ausdruck hat hinter Mühlebach seine Bedeutung «wiederholen» 50 an die Umdeutung und Umformung rä̆fe̥rren — d’rein reden, widerreden — verloren: Du hest me̥r jetz da nịịd drĭ̦ n z’rä̆fe̥rren! Är hed mer gẹng drĭ̦ n g’rä̆fe̥rred!) Durch Zeugen überführt («überzüget»), «erstummete» er dann wohl; oder er gab vor, ụụfg’reised (aufgewiesen) worden zu sein. Es kam auch vor, daß verläumderische Weiber, sogar einmal 51 «geschweigen» — G’schwịji, Ehefrauen zweier Brüber — einander vor Gericht ihre Schandtaten ausbrachten. Scharfe Bußen, Gefangenschaft, «Herdfall» oder «Bekanntnuß» und Abbitte uf de n Chnewwen, 52 im äußerten Fall Überweisung an den Landvogt warteten dann als Strafe.

Und zwar kehrte das Chorgericht seine Strenge auch gegen eigene Mitglieder, wenn solche «zu unordentlichen Läbwäsen Fürschub thaten.» Es ereigneten sich dabei bisweilen heftige, stürmische Auftritte. Auch das ụụstraagen, ụụstä̆tschen (ausplaudern) aus den Verhandlungen wurde streng geahndet. 53

Eine mächtige Förderung oder aber Schädigung seiner Autorität erfuhr das Chorgericht ụụßna z’Hinderlachen. Wenn jeweils vom neu aufgezogenen «Ehrenvesten, frommen, fürnemmen, fürsichtigen und wyßen Herren, Herr NN., Landvogt zu Interlaken» 54 das Chorgericht neu beeidigt und zugleich erstmals präsidiert wurde, achtete man wohl scharf auf die Proben, ob er e n milta sịịn oder aber d’Rị̈ị̈hi fï̦rha chehrren werde. Jene «Milde» konnte aber in völlige Rechtsverdrehung umschlagen, wenn Landvögte wie Steiger 55 oder Engel 56 sogar schamlosen Verbrechern zur Flucht verhalfen und im gemeinen Volk bald einmal die Rede umging: Mier wein nịị-mmeh vor ịịs’s Chorgricht; 637 mier gaa n lieber vor de n Landvogt! 57 Das waren immerhin flagrante Ausnahmen. In der Regel fanden Widersetzliche oder gar verläumderisch Klagende am Landvogt einen strengen Richter; unwürdige Gemeindsvorsteher wie ein Hansi Gorner ( S. 249) wurden prompt dḁrvo n g’hịjd, und zwei Tage in der Chlosterchĕfi wogen noch etwas mehr als solche in der Roßstallchĕfi zu Grindelwald. Nu̦mmḁn eppḁs hed mu̦ meh g’schĭ̦chchen: gan Bäären i n d’s Blaauhụụs z’choon (ins Korrektionshaus mit hellblauer Sträflingskleidung), oder gar ins Zuchthaus: ins Schăl le nwä́rch, wo d’Schal lenwä́rher ehemals die Halsschälla (im Lötschental noch heute: «die Schalla») oder den Gätzisti̦i̦l als Erkennungszeichen tragen mußten.

So galten, den Landvogt im Rücken, Pfarrer, Vogt und Seckelmeister zumal in Grindelwald als derart starke Autoritätsträger, daß sie laut einer Oberhasler-Ortsneckerei (vgl. S. 596 f.) die Inhaber der drịị hëëchsten Nä̆men sein sollten. Als erster der drei galt also damals der Pfarrer, und zwar seit der Reformation unter der Titulatur Brĕdikánt, entsprechend dem lutherischen «Prediger». Gleich ehrenhaft hieß in Grindelwald bis unlängst die Pfarrfrau d’Frau Bredikánti, was gegenüber der vormaligen, wenn auch noch so herzlich gemeinten Benennung «d’s Pfaarers Wịịbli» als enormer Fortschritt dastund. Ebenso echt protestantisch lautete die Übersetzung des « verbi divini minister» (VDM): «Diener», 58 und bloß ein scheinbarer Gegensatz hiezu ist das weit verbreitete, aus katholischer Zeit stammende «Herr» in dieser speziellen Anwendung (vgl. S. 542). Als noch weder ein Arzt, noch sonst ein Studierter aus der Stadt außer dem Pfarrer im ländlichen Gemeindebann wohnte, war eben letzterer allein der «Herr». In Grindelwald wohnt zwar derselbe nicht im «Herrenhaus», wie bei Hebel und anderswo; wohl aber führt noch heute zum Pfarhụụs hinan der Her re nstu̦tz; die Konfirmanden gaa n ze’m Heerren in den Unterricht und chëme n vom Heerren, wenn sie admittiert werden. Und als so untrennbar vom «Pfarrer» galt auch anderwärts der «Herr», daß es noch 1834 z. B. in Trub in treuherziger Anrede hieß: «Go’ grüeß e wch, Frau Her r Pfarrer!» Was aber alles im Namen einer des Titels würdigen Frau Pfarrer liegen kann, zeigt in ebenso anmutiger Weise ein kürzlich durch die Presse gegangener Disput zweier Kinder. Eine kleine Papistin höhnte: Ihr habt ja nicht einmal eine Jungfrau Maria und eine Mutter Gottes! Darauf blitzschnell die kleine Protestantin: Ja, aber mier hein den n e n Frau Pfaareri und ie̥hr de keini!

638 Der Diskurs könnte sehr wohl der Erholungskolonie des Grindelwaldner Pfarrhauses als einer Fortsetzung der einstigen Fremdenherberge entsprungen sein. Hier suchten seit etwa 1733  59 vornehme und ernste Gebirgsforscher 60 «Losament». Selber als Alpenkundige, z. T. auch als Schriftsteller 61 und als Förderer des Verkehrswesens haben sich einen Namen gemacht die Pfarrer Friedrich Kuhn (in Grindelwald 1759-83), Fried. Lehmann (1805-18), Rud. Müller (1818-34), 62 Sam. Ziegler (1834-43), Rud. Sam. Gerwer (1860-66), Gottfr. Straßer (seit 1879).

In schlichtem Heldentum hat sich für alle Zeiten einen Ehrenplatz in der Geschichte Berns erworben der Pfarrer Johannes Erb (in Grindelwald 1667-70, in Oberburg 1670-1701). 63

Bereits verschiedene Male: in den Jahren 1516, 1534, 1564, 1579, 1611, 1629 waren Seuchen ähnlich dem schwarzen Tod von 1349, aus Italien eingeschleppt, 64 hie Taals choon. Das waren Vorspiele der furchtbaren Pest von 1669, wie deren Nachspiel der Ustertod: der durch Krieger aus Zürich und Aargau nach Meiringen und Grindelwald verpflanzte Flecktyphus von 1680. Der «Landtsterbend», 65 der Stärbet oder d’Schwinda 66 von 1669 war wahrscheinlich sechs Jahre zuvor durch ein mit Baumwolle befrachtetes Schiff aus Algier in Amsterdam und von hier allmählich dem Rhein und der Aare entlang bis ins Oberland verschleppt worden. Taubeneigroße Beulen — Chnŭ̦bla — in den Leisten und besonders gefährlich am Hals und in Uoxen (Achselhöhlen) charakterisierten diese orientalische Beulenpest (Anschwellung und Vereiterung der Lymphdrüsen). Was hierzulande die sonst schon rapide Ansteckung noch förderte, war die Stubenheizung und die Scheu vor frischer Luft während der sehr kalten Monate März und April. Bereits im Februar von Gsteig her eingezogen, ergriff die binnen wenigen Tagen tötliche Krankheit am 15. April an der Schonegg vier Personen in Melcher Jakobs und fünf in Hans Gorners Haus. Ihr erlagen sodann sechs Kinder eines Hans Brawand, fünf Angehörige eines Jakob Grundisen, vier der armen Witwe Barbara Buchser. Anfangs Juni befiel die Pest Itramen und Wärgistal, im August Lauterbrunnen und Frutigen. Das Frutigland verlor 2222 Personen: 639 die Hälfte der Bevölkerung, Lauterbrunnen, wo 21 Haushaltungen ganz ausstarben, 360 Menschen (62%); Oberhasli bei 1300 (über 60%). In Grindelwald starben insgesamt 788 Personen: ungefähr ein Drittel der Seelenzahl. Der 30. April einzig brachte vierundzwanzig Todesfälle, und der Ostersonntag (29. April) führte neunzehn Pferde mit fünfundzwanzig Leichen bei der Kirche zusammen. Die Zahl der Weise nvëgt mußte vermehrt werden, da auch die Hälfte der vierzehn Gerichtssäße dahin gerafft wurde.

In der Studierstube.

Was tat man zur Abwehr? Mit Schafgarben­büscheln verhängte man Fenster und Türen, Breit­wegerich­bünde legte man auf Brust und Achselhöhlen. Ein Brei von vier gebratenen Zwiebeln, zwei Eidottern, Milch, von Sauerteig, Seife, Taubenkot, Skorpionöl und Theriak deckte die Beulen. Theriak auch, sowie Latwergen von Wasser­knoblauch und gepulverte Baldrian­wurzel wurden als schweiß­treibende Mittel eingenommen. Dieser Theriak, eine Latwerge aus Honig, Opium usw., nebst Wermutwein selbst auch von Erb geschätzt und übrigens durch Driakel­chrämer 67 im Land herum verhausiert, galt damals als Ersatz des Mithridat: 68 einer Mischung von 54 meist erhitzenden Substanzen.

640 Außer den elementarsten Schutzmaßregeln aber: Verbot der Leichengeleite und Leichenmähler, Verkehrssperrung (außer für den Gallenmarkt) und Pestwacht außen im Tal, 69 Räucherung der Wohnungen und Reinigung der Gewänder, geschah nichts für rationelle Abwehr, bis die kostbarste Frist verzettelt war. Erst Ende März wurden die Chirurgen Niklaus Tscheer von Bern und Meister Oppliger von Matten im Grindelwaldner Pfarrhaus einquartiert, sodann Dr. Wilhelmi und der Schärer Anderes hingesandt. Diese taten ihr möglichstes — umsonst. Die Abwehr der Seuche, die Möglichkeit gründlicher Heilungen und damit das Zutrauen zu den Helfern war versäumt. Die zwärch angesehenen Ärzte räumten schließlich das trotz bestem Willen für sie verlorne Feld, auf welchem nun die unverschämteste Quaksalberei und sinnloseste Eigenhilfe sich breit machte. Schmutzige Lumpen belegten die gräßlich angefaulten Schenkel eines Melcher Heinz, das Auge eines dreißigjährigen «Knaben» ging durch pure Verwahrlosung verloren. In die überheizten niedern Stuben, wa’s topp ist und ei’m der Aate n gsteid, liefen die Kranken zusammen, um infizierte Gewänder als Erbgut zu teilen und über die Obrigkeit zu schimpfen. Solche Widerspenstigkeit, die sich übrigens auch in andern verseuchten Gegenden — am wenigsten in Hasli — und zwar selbst unter Vorgesetzten breit machte, deckte sich dann noch gar mit dem religiösen Motiv der Ergebung in Gottes unerforschlichen Ratschluß und unvermeindliche Schickung, mit einem verkehrt aufgefaßten Mut zum Sterben 70 und mit mißdeuteten Kanzelworten Erbs. Der hatte allerdings im calvinistischen Geiste seiner Zeit gepredigt: «die ansteckend Seüch der Pestilenz wird von Gott geregierd, und diejenigen Örter, welche von selbiger söllen angetastet werden, sind von ihm bezeichnet». Allein der bei all seiner seltenen Gelahrtheit so tief mitten im Leben stehende Mann hatte auch gesagt: «Wir Menschen sind jedoch, schuldig, muthwillige und vorsätzliche Gefährdung zu vermeiden und die Heilmittel zu gebrauchen, so lange Gott sie segnet.» Der Mensch kann jedoch nur verstehen, was er bei verwaltender Gemütsverfassung und Willensrichtung verstehen will; und diese Seelenstimmung war die von Landvogt Gerhard Rohr namens seiner Regierung scharf gezüchtigte Willenlosigkeit hier, Steckköpfigkeit dort.

«Adler» und Kirche vor 1870.

Nach einer Lithographie von Cicéri.

Das war die jammervolle, zur Verzweiflung treibende, nirgends eine Handhabe zum Angriff bietende Sachlage, in deren Mitte nun Erb — ein kleiner Moses — seine ganze Größe entfaltete. Oft genug zwar mochte auch ihn der Jammer tatlos machen, aus dem heraus er am 641 15. April im Ton eines Jeremias schrieb: «Ach, daß ich Wassers genug in meinem Haupte hätte, den leidigen Zustand meiner lieben Zuhörer zu beweinen! Ach, daß ich auch Fäderen genug hätte, Euch selbigen umbstendlich anzuzeigen!» Alles schien auch für ihn verloren, als die Pest ihn selber für sechs Wochen darniederstreckte, 71 ihm sein einziges Söhnchen raubte und eine Reihe Amtsbrüder zur Rechten und Linken wegraffte. Dann kam, nachdem ihn «der Genedige Gott von der pestilentzischen Kranckheit widerumb befreyet und auff freyen Fuß gestellet», 72 eine Periode drückender Geldschulden infolge seiner Aufopferung. Allein dieserhalb tröstete ihn die Regierung mit einem freundlichen Ermunterungs­schreiben und Verheißung der nächsten besseren Pfrund; von der Krankheit aber heilten ihn der Mut und die Energie, womit er vom Arzt an sich das Gedeihlichste tun ließ. Für kurze Zeit nur noch (bis 14. Juli) vom Vikari Lontschi unterstützt, verrichtete jetzt Erb aufs neue Wunder der Hingebung und Ausdauer, Geschicklichkeit und Entbehrungskraft. In der Talschaft von seltener Weitläufigkeit, noch vermehrt durch damals ständig bewohnte Vorsasse und erschwert durch äußerst schlechte oder gänzlich mangelnde Wege, schien er bei seinen Kranken überall zugleich zu sein. Mit immer neuem heiligem Eifer, mit ebenso liebevollem wie unerschrockenem Ernste lebte er seinem Amt. 73

Grindelwald zählte auch seine «Bekenner» im unverflachten Sinn des Wortes «Konfession». Der Einführer der Reformation, Hans Holzmann, wurde das Opfer fanatisierter reicher Grindelwaldner. 74 Die Aufstiftung derselben kam von Oberwallis und Unterwalden, wo man auch in Bernerlanden die nï̦w Lehr hed wellen bŏdigen. Die am Michelstage (8. Mai) 75 1528 versuchte Vertreibung gelang z’grächtem am 27. September 76 : mid Schịịtren hei n s’ n en uber d’Herrschaft 77 ụụs g’jăgd. Verheerung und Plünderung Grindelwalds durch stadtbernische Miliz 78 und Enthauptung eines Rädelsführers straften Verführer und Verführte hart, ebneten aber auch dem Nachfolger Holzmanns, Johannes Löuw, den Boden rasch. Nachmals in Scherzligen und bis zu seinem Tod (1574) in Gsteig b. I. wirkend, amtete er in Grindelwald ruhig bis 1533  79 und fand Anklang sowohl mit seinem «Wegweiser» für den Konfirmanden­unterricht, wie mit der Übersetzung des Blutstengels «aus der hohen Sprach ins Teitsche». 80 Echte «Bekenner» waren auch die drei todesmutigen Grindelwaldner, welche 642 im Glaubenskrieg von 1712 sich dem Konfessionszwang des Wallis durch die gefährliche Flucht über den Vieschergrat ( S. 588) entzogen. Die Zählung des Jahres 1900 mit dem Ergebnis von 3323 evangelisch Reformierten und 46 Römisch-Katholischen weist denn auch heute auf eine starke kirchliche Einheit, in welcher methodistische, täuferische 81 oder namenlos geheime 82 Entfremdungs­versuche sich bloß vorübergehend lää n g’spï̦rren.

An das Jahr 1528 erinnert noch die für den frühern sonntäglichen Vorläser auf der Orgellaube liegende Bĭ̦bli. Ihre erste Vorgängerin mußte mittelst einer Kette vor Wegschleppung geschützt werden, was die Oberhasler zum Gegenstand einer ihrer Ortsneckereien (vgl. S. 637) zu machen pflegten. Die Grindelwaldner antworteten dann etwa: Grad ḁ lsó is’, u nd sust tääten ï̦ ns sḁ d’Hăsler stä̆hlen! Auf die Schätzung der Bibel deutet manche umständlich solenne Eigentumszustellung und Eintragung aus der Familienchronik, auf ihre Kenntnis manch eine frappant witzige Zitationsart. Den Beispielen aus «Lützelflüh» 83 reihen wir hier bloß an: Är wollt um Rahel dienen (der brave Knecht wirbt um die begehrenswerte Bauerntochter); und das ist recht, wenn es nur nicht dereinst zum Schwiegervater heißt: was dịịn ist, ist mịịn, u nd was mịịn ist, geid di ch nịịd aan! Daß es daneben mit der Bibelkunde nicht überall erstklassig bestellt ist, zeigt die Ausflucht jenes Sonderlings, der beim Gewahrwerden des herannahenden Pfarrers die Bibel in der Hast d’s under ụụf (verkehrt) aufgeschlagen auf den Tisch hingelegt hatte: Verziehd, Herr Pfarrer, i ch u nd d’s Mărjĭ̦ sịịn drum linggi!

Auch diese Entschuldigung war wohl im Augenblick heruntergesagt: das ist g’gange n wie d’s Unser. Es würde uns dies auf das Kapitel der Erbauungs­schriften führen, 84 wenn hier mehr Neues anzubringen wäre, als etwa der lufthangend Brief oder Wenkenburgbrief. Su̦m Lị̈ị̈t hein n en abgschrĭ̦bna oder ’trï̦ckta eingerahmt — ịị ng’fasse̥ta — an der Wand hängen, damit er das Haus vor Wasser und Feuer, sonderlich vor Blitzschlag schütze: daß d’s Wätter nid ịị nschlääj. Der ursprüngliche Zweck, die Sonntagsheiligung zu empfehlen, 85 ist auch hier vergessen.

 
1  Ergänze: Mal.   2   Ch. 1675.   3  1679 17/1.   4  1675 3/12.   5  1668 22/5.   6  1739.   7  1747 4/2.   8   Reg. 97.   9   Ch. häufig.   10  Z. B. 1716. 1745.   11  Auf Grund der vom Staatsarchiv Bern uns gütigst zugestellten Abschrift aus dem Regionenbuch von 1738 ff. Band IV, Rubrik «Amt Interlaken, Gericht Grindelwald».   12   Ch. 1668 22/5.   13  1760 29/5.   14  1763 8/8.   15  Intensivbildung zu ahd. hlosên = losen (hören) und gr. klyo (höre), wozu «Klient» (Höriger, Schutzbefohlener, Verteidigter, im Handel «versorgter» Kunde).   16   Ch. 1677 7/12.   17  1681 4/2.   18  1684 10/9.   19  1671 und ö.   20  1668 6/11.   21   Goms 89. 101.   22  Ebd. 101.   23  1669 6/8; 23/7.   24   GlM. 54; vgl. S. 618 hievor.   25  1670.   26  1674 23/1.   27  1715 12/10.   28  1673.   29  1688 20/1.   30  1675.   31  1681 13/5.   32  1690 14/11.   33  Z. B. 1758.   34  Zu mhd. ( WB. 1, 512 ff.) gihe, jach, jâhen, gejëhen, jehen = sagen, ja sagen ( Kluge 177), bekennen, gehört sowohl einfaches gicht (Aussage) und gichten im Doppelsinn von «bekennen» und «bekennen machen», als auch zusammengesetztes begichte, woraus bîchte, «Beichte» und «beichten» geworden ist.   35  Z. B. 1744.   36  F 3.   37  Z. B. 1737 11/3; 1745 27/5.   38  1676 15/9.   39  1699 18/8.   40  1688.   41  1766 17/9.   42  1675 30/7.   43  1676 28/1.   44  1669 22/1.   45  1674 21/8.   46  1680 5/10.   47  1671 22/9.   48  1684 24/9.   49  1684 24/9.   50  Ahd. avar, mhd. aver, afer, aber ( WB. 1, 72) ist 1. abermals, 2. anderseits, dagegen; avarôn, averen, äveren, wideräveren ist wiederholen, äverunge: Wiederholung.   51  1715.   52  1668.   53  1677 27/7.   54  1669 3/12 und ö.   55  1791 2/11; vgl. S. 510.   56  1683 18/10; 1684 25/4.   57  1684 16/12.   58   Tfb. 16 ff.   59  Unter Joh. Heinr. Fröhlich (1733-56); vgl. Sterchi im Oberl. Volksbl.; schwz. Beobachter 1844, S. 27, nach einer Chronik von 1750.   60  So am 17. Juli 1814 Friedrich Wilhelm III. von Preußen: Wyß 637. Vgl. im übrigen: Altm. 16; Meiners Briefe 2, 41; Bourrit 2, 86 (1781); König 27 (1814); Wyß 626 (1817).   61  Siehe im Quellenregister.   62  Auch als Schmetterlings­forscher: Naturw. 2, 69.   63  Vgl. Bern. Biographien V, von Pfr. Bähler; die Pest im Oberland i. J. 1669, von Staatsarchivar Dr. Türler. (Oberl. Volksblatt, 1893; separat: Bern).   64  Prof. Valentin im GlM. 35 f.   65   Blätter 2, 231.   66   Wyß 856: «der Schwinden».   67  Vgl. Lf. 460 («Dreiax»).   68  Nach dem König Mithridates Eupator von Pontus.   69   GlM. 19.   70  «So muß man die Bitterkeit des Todes vertreiben!» (König Agag in 1. Sam, 15, 32.)   71   Ch. 1669 9/7. Die Manuale aus dieser Zeit hinterlassen einen unvergeßlichen Eindruck.   72   Ch. 1669 9/7.   73   Blösch 1, 472; Blätter a. a. O.; Bern. Biogr. 5, 272 ff.   74   Müller.   75   GlM. 166.   76  Stettler 2, 23.   77  E 2.   78   Müller.   79   Sterchi.   80   Cronegg im GlM. 166. Nachforschungen nach beiden Schriften verliefen resultatlos.   81   Ch. 1695 30/10.   82   Ch. 1783 23/5; 1742 9/2.   83  610.   84  Vgl. Lf. 607 f.   85  Vgl. Dr. Zahler in Blätter 2, 195-201.  
 

Heilsorte und heiliger Ort.

«Hier ist ein Schatz, den niemand zu bezahlen vermag, heilsam für alle Siechtümer des Leibes und der Seele. Hier ist die Kirche zum Paradies!» So rief eine Stimme des Himmels über einem Wunderbrunnen, neben welchem der heilige Michael den Bauplatz des Kirchleins von Einigen verzeigt hatte. Wie froh waren über solche Weisung die Bauleute des Herrn Arnold von Strettlingen, die ihm außerhalb seiner Burg eine Leutkirche bauen sollten, denen aber durch geheime Gewalt jede Nacht die Fundamente verschüttet wurden! 1

Dieser letztere Sagenzug kehrt wie so manchen Orts (z. B. in Bern und Gottstatt), auch in Grindelwald wieder. Um hier ein Gotteshaus zu haben, fing man im Chilchboden 2 zu bauen an. Allein jede Nacht wurde das am Tag zustande Gebrachte von unbekannter Hand abgebrochen. Nun probierte man es auf der Chilchhaalten. 3 Allein auch da fanden die Bauleute jeden Morgen das Begonnene zertrooleds. Endlich nahm man seine Zuflucht zum bekannten Orakel vom Ox, dem man ein Bri̦ttli vor die Augen oder — nach anderer Version — ein Hëlzli (Baumstammstück) an den Leib gebunden. Derart zum blinden oder sonst gehemmten Wähler einer heiligen Stätte gemacht, las das von Natur so pfadfinderische Tier herrenloses, sumpfiges Weiden- und Erlengebüsch aus, dessen Grundwasser das Gebäude zu einem ständigen Sorgenkinde machte. Der Grindel­waldnerwitz verfehlt denn auch nicht, überhaupt übelgewählte Bauplätze durch Oxen bestimmt sein zu lassen. Damit wird freilich dem ursprünglichen Sinn des Mythus 4 arg zugesetzt. Kunstsinnig dagegen symbolisierten die Bauleute der ersten Kirche den Baugrund mit ehernen Salamandern an Türschlössern und Riegeln. 5 Eine ähnliche Sage knüpft sich an die Entstehung der Kirche von St. Stephan als der angeblich ältesten des Simmentals. 6

Phantasie und Überlieferung betätigen sich auch damit, älteste Spuren der Ansiedlung mit solchen des Gottesdienstes zu bereichern. Z’Schwarzigen Hịịs’ren 6a soll ein Frịịthof sich gebreitet haben; und Anzeichen eines ebensolchen z’Gassen erblickt man in einem ebenen Platze, dessen hohes umd üppiges Gras von keiner Kuh geätzt, noch weniger jemals zum Lager gewählt werde. Glocken aber liegen auf den 644 Gründen des Burgseewli 7 und des einstigen Gewässers, welches z’Amtsseewwen am Wetterhorn sich in der Ausdehnung des Hagelsees gebreitet habe. Am Burgbïel bei Mättenbärg aber, erzählt die Chronik, 8 ist «die Chilha ym 1096 yahr wägen des gletschers und Wassergefahr abgebrochen und vf den platz wo sei stehet Ein Kapela vnd beinhaus gebauen worden.»

Mit sachlich begründeten Vermutungen bereinigt sich die mündliche Überlieferung, das hölzerne Kirchlein, welches der Lausanner Bischof Amadeus (1144-58) dem noch jungen Gotteshaus Interlaken als Filiale erbaute, habe z’Ịịschboden am Wetterhorn gestanden. 9 Sowohl wegen Gefährdung durch Lawinen, als wegen Nichtgenügens für die wachsende Bevölkerungszahl wurde dies hölzerne Kirchlein im äußersten Vorstoß des Lausanner-Bistums im Jahr 1180 durch einen größern Steinbau ersetzt. 10 Es geschah dies unter Bischof Roger (1178-1212) wohl auf die Bitte des Klosters Interlaken. Diesem ward das Gebäude denn auch durch Versetzung auf den jetzigen Kirchplatz näher gerückt. Der heiligen Jungfrau wurde auch es — gleich dem Kloster — gewidmet. Da Grindelwald fortan mit den ersten Kirchen des Archidiakonats Köniz 11 in einer Reihe stand, ließ sich das Kloster verschiedene Mal (1245, 1340, 1341) 12 seinen Besitz sorgfältig bestätigen. Dafür mußte es sich aber auch angelegen sein lassen, die Kirche den primitiven Einrichtungen der kleinern und ärmern Landkirchlein zu entheben. Als 1453 Abgeordnete des Bischofs im Könizer Archidiakonat eine gründliche Visitation vornahmen, veranlaßte auch Grindelwald eine lange Reihe kategorischer Forderungen von Verbesserungen. 13 Der Raum gestattet uns ein einziges Beispiel: Der Frịthof scheint, unabgezäunt, der Gemeinweide offen gestanden zu haben. Die Bevölkerung war vielleicht der Meinung eines noch neuern Grindelwaldners, der anfänglich einen Beitrag an ein neues Friedhoftor mit der Motivierung verweigerte: Die wa i̦nna sịịn, chënnen ni̦d ụụsa, u nd die wa ụụsa sịịn, bigähren nịịd 645 inhi. Nun mußte der Kirchhof aber doch umfriedet und an den vier Ecken durch vier Kreuze abgegrenzt werden. 1668 wurden die Fenster erweitert, 1675 ließ man d’Chilha butzen (säubern) und bemalen. 1676 gab es neue Chorstühle, und der Maler Michel Blum von Bern mußte neuerdings die Kirche «butzen, daß Holzwerch im Chor mit öhlfarb anstreichen steinfarb, den Himmel oder soller blauw mit gählen sternen drin, die lysten roht, daß übrige maurwerk aber sauber gipsen.» Dafür empfing er «ein 100 H brief vs dem kilchengutt, 20 Kronen an gelt, 3 Thaler Trinkgeld und zwen 15 H käsen.» 14 1671 garnierten Abendmahlskanne, Brotplatte und ein der eigenen Notiz wert erachtetes Handzwä̆he̥lli den Taufstein. Gegenwärtig ist, mit einem Kostenaufwand der Gemeinde von 14,000 Franken, die gründliche Neubedachung fertig geworden und wird die kunstgerechte Neubemalung der Decke durch Münsterbaumeister Indermühle in Bern an die Hand genommen.

Von 1784-89 datiert der jetzige Pfarrhof, wogegen die Tuffsteine des alten Pfrundhauses Material zum ehemaligen Schuel- und Posthụụs abgaben. Die Pfruendmatti, das ehemalige Pfrundgut, verlor 1896 ihre letzten größern Bestandteile durch Versteigerung der inndristen Matten und des Walhiborts.

Das Jahr 1793 hatte en nï̦wwi Chilha auf dem alten Platz gebracht. Damit behielten auch alte Ortsnamen wie hinder der Chilhen, 15 Chilchbrï̦gg 16 und Chilchbŏden 17 ihre Geltung. Am 1. August feierte man den ersten Gottesdienst im neuen Gebäude ohne Tür und Fenster und ohne de n Chanzel, 18 der doch auch im Alltagsleben eine 646 große Rolle spielt. Sogar Dinge, die heute in den Amtsanzeiger gehören und durch den Weibel verlesen werden, wurden ehemals ab dem Chanzel bekannt gemacht. Umgekehrt wählt ein Chänze̥lli als Felsblock aus der Eigerwand heraus; ein hübscher Kegel oder Steinblock erhebt sich als Chanzel hinder der Brï̦gg und uf deṇ Gĭ̦gliwẹngen unterhalb Wĭ̦tegg, als Chanzelhŭ̦bel neben der Bodmi; und zur Faulhorngruppe gehört die Brienzer Chanzlenalp.

Die ungünstige Lage des Bauterrains dokumentierte bereits 1818 der vormalige Chilchtu̦re̥n mit seiner Abweichung vom Seihel um beiläufig anderthalb Meter (4½’). 19 Er wurde denn auch 1870 abgebrochen und 1875 durch Bottini neu errichtet. Zugleich wurde die von 1768 datierende Turmuhr neu ersetzt, und d’s nï̦w Chilhezịịt geid scharmant. Auch in moralischer Beziehung sagt es manch einem, wie spaat daß ’s sịịgi: «was die Glocke geschlagen habe». Wirklich besorgt nur eine Glocke den Stundenschlag: d’Viertla bleiben unangezeigt, es viertled ni̦i̦d. Die Landbevölkerung würde dadurch nur irregeführt. Ihren Bedürfnissen ist besser gedient durch eine Einteilung des Nachmittags in die Hälften vor Väsper und na ch Väsper; es väspred nämlich im Winter um drei, im Sommer um vier Uhr. Während dies die kleinste Glocke verrichtet, wird seit 1668 mit der größten z’Mittág g’lị̈ị̈ted; die mittlere jedoch dient als Sterbeglocke. Die letztere hält der Grindelwaldner in besonderen Ehren, wie sie denn auch i. J. 1894 in das neue, auf a c f gestimmte dreiglockige G’lị̈ị̈t hinübergenommen wurde. Daß ihr etwas herber und stark schwebender Ton von dem eigentümlich zarten Schmelz der Rüetschi’schen Gusse sich abhebt, fällt nur dem sehr musikalisch Veranlagten auf, wenn es nach dem landesüblichen ersten und andre n Zeihen (dem «d’s Wị̆si lị̈ị̈ten» 20 ) z’säme n lịịted, zum Gottesdienst ịị nlị̈ị̈ted. Auch in weltlichen Angelegenheiten darf ja das Ohr nicht allzu empfindlich auf lauter reine Harmonie gestimmt sein, wenn nach Erörterung eines Projektes man zum guten Schluß mit dem Choste np’hunkt ịị nlị̈ị̈ted und gewisse, sich benachteiligt fühlende Ortsteile finden, mu̦ tïej alls nu̦mmḁn an die groß Glogga heihen.

Zum vormaligen Geläut gehörte 21 das Petronälle n­gglëggli, kurz: Rälle ngglëggli. Das bloß dreißig Kilo wiegende Glöcklein stimmte aber mit den beiden andern Kirchenglocken nicht, und sein helles und rasches Anschlagen wurde mit der Nachahmung — dem antren647 «Geismilch! Geismilch!» verspottet. 22 Es sah sich daher allermeist zum Schweigen verurteilt, bis die Engländer es in ihre vormalige Kapelle hinübernahmen. Mit dieser ging es im Brand vom 18. August 1892 zugrunde — ein ehrwürdiges Altertumsstück 23 und letzter Zeuge eines stimmungsvollen Stücks Kultusgeschichte. (Dem Schutt enthoben sind im Pfarrhaus noch der Klöppel und ein handflächengroßes, halbgeschmolzenes Stück des Glöckleins aufbewahrt.) Als eine der ältern Kirchenglocken des Alpengeländes wird es aus der Wende des 14./15. Jahrhunderts stammen.

Keine Rede kann sein von einer Jahrzahl «1044», welche man ehemals aus dem unten am Schlagring stehenden Umschriftschluß lott herauslesen wollte. Die Buchstaben mögen vielmehr Wortanfänge eines Spruches sein, etwa: laudet omnipotentem terra tota. (Es lobe den Allmächtigen die ganze Erde. 24 ) Eine Jahrzahl zu vermuten, legte sich durch den Umstand nahe, daß die vier Zeichen den Schluß einer vollständigen Umschrift bilden. Diese lautet: O S(ancta) Peternela ora pro nobis. 25 Der Name liest sich neben «Peternela», auch «Petronilla», 26 «Petronel» (1642), «St. Petronella» (1577) 27 und seither im Volksmund: Pẹtrŏnä́lla. 28 Die Legende kennt aber drei 648 Heilige dieses Namens. Die des 15. Juni ist Petronella a Vela aus Sizilien (gestorben etwas nach 1100) 29 und ward als spezielle Schutzheilige der Alpenhirten da, wo die Alpfahrt ebenfalls alljährlich auf den 15. Juni entfällt, 30 gefeiert. Die vornehm feine, so elegisch anmutende Legende 31 über ihre Person trat dabei in Hintergrund gegenüber dem Klang ihres Namens, der so vielsagend an «Petrus» (vgl. nur schon den «Petersgrat») erinnerte. Leicht verschmolz sich daher auch die Petronella des 15. Juni mit der des 31. Mai unseres Kalenders und vollzug sich die Verknüpfung mit der Person des Apostelfürsten. Petronella wurde zur geistlichen und schließlich zur leiblichen Tochter des Petrus erhoben. Wie der im Stillen des Fiebers 32 eine seiner Heilkräfte bestätigte, so gilt dem Hirten ja auch das Gletscherwasser ( S. 56) und «Gletscher» ( S. 62) selber als Brand und Fieber stillend. 33 Wie aber der Fels ( petra) den so wohltätigen Gletscher spendet, so läßt er auch Steinschläge verheerend über Hirt und Herde herniedersausen, und doppelt dringlich rief man hiergegen die Petronella um Schutz an. 34

Nicht ohne lebhaft bewußten Sinn daher pflanzte man an die beiden entgegengesetzten Enden dieser einen Eisregion des Vieschergletschers (Titerten und Grindelwald) je einen Gnadenort hin für die Gletscherhirten und für die Wanderer über den Vieschergrat ( S. 588). Keine Talkirche auch vermochte sie um ihre selbständige Bedeutung zu bringen; nur die Übermacht der Elemente selbst diktierte ihnen die Frist ihres Bestehens. Am Vieschergletscher oberhalb Titerten barg die Kapelle ein Petronellen­glöcklein mit gleicher Inschrift und von gleichem Tone wie das der Petronellen­kapelle in der Nällenbale̥m, kürzer: in der Băle̥m oder im Nälle nschopf über dem Zungenende des untern Grindelwald­gletschers. Ähnliche Wegweisung und ähnlichen Trost in den Gefahren der Wildnis empfing der Wanderer an der Furka, und so auch im Tirol; 35 und es frägt sich noch, wie weit neben dem Oberwallis auch das Tessin am Import des Petronellenkults beteiligt war. 36

Nun ist auch das Petronellen­glöcklein von Titerten nicht mehr. Es kam schließlich noch in eine Petronellen­kapelle des Viescherbades zu hangen und wurde, nach des letztern Verschüttung durch den Gletscher, eingeschmolzen. 37 Grindelwalds Kapelle aber wurde nach 1706  38 durch einen 649 der starken Gletscherstöße zerstört, und seither ist die Bale̥m ( S. 17) unter der roten Fluh zu einem Ablagerungsplatz profansten Gemengsels geworden. Welch anderes Situationsbild boten die Zeiten, da der Schaf- und Ziegenhirt von der Bänisegg jetzt die hellen Töne des Glöckleins mit jauchzenden Lebenszeichen aus seiner Einsamkeit zu überbieten suchte, jetzt aber vor einem gefährlichen Weidewechsel in bittender Stellung sich nach der Richtung jener Töne hinunterwandte:

  O schütze mich
  Und leite mich,
Du hehre Petronelle!
  Das Wort erklang;
  Vom Himmel drang
Des heitern Mutes Quelle.
  Und Gott zum Preis
  Durch Schnee und Eis
Zu rascher Gemslein Sitzen
  Erhob sich kühn
  Vom Alpengrün
Der Hirt nach Berges Spitzen. 39

 
1   Strettl. XL.   2  E 3.   3  E 2.   4  Vgl. über den totemistischen Tierkult: Chantepie 1, 71 f.   5   Wyß 617.   6   Rothenbach. Älter ist aber vermutlich Zweisimmen, wie auch Wimmis und Spiez älter sind als Einigen, welches Eulogius Kiburgers dichterische Phantasie zur Musterkirche nicht bloß von Spiez, sondern all der freundlichen «Hüterinnen des Thunersees» ( JG. Jacob 2, 119) zu erheben unternahm. (Nach Prof. Türler.)   6a  W. 3. 4.   7   ÄFG. XLVII; BOB. 84.   8   GlM. 166.   9  Die Lage der heutigen Pfarrkirche (G 3; W 6) unterhalb des Iisch und des Iischzuun (G 2) verleitete auswärtige Schriftsteller (seit Stettler 8, 4), sie mit dem Iischboden (J 1; W 3) zu verwechseln, etwa so, wie man in ihr auch den Chilchboden ( S. 643) suchen wollte, der neben der Chilchbrigg (E 3) sich hinbreite. Man verwunderte sich dann begreiflich über den so raschen Ersatz des Gebäudes von 1144-58 durch das von 1180, welches eben den Platz der heutigen Kirche einnahm. Über die sagenhafte Entstehung solcher Heiligtümer — auch der Petronellen­kapelle ( S. 647 f.) — vgl. Rahns Statistik schwz. Kunstdenkmäler im Anz. f. schwz. Altertumskunde IV, 214.   10   Font. 1, 466 f.; Sol. Wochenbl. 1829, 557.   11  Es waren dies: Kunitz, Berno, Interlacus, Gesteige, Frutingen, Erlenbach, Ansoltingen, Turnden, Belpo und eben Grindelwald ( Font. 5, 487).   12   Font. 2, 258; 6, 510. 570.   13   AhV. 1, 251 ff. mit Kommentar.   14   Ch. 1676 18/8.   15  G 3.   16  E 3.   17  E 3.   18   Der Chanzel ist direkt entlehnt aus mlat. cancellus (Gitterchen) als Verkleinerung von lat. cancer: Krebs und Krebs-ähnliches Geländer. Der klassische Pluralis tantum «cancelli» (Gitterstücke) kam durch die Reichenauer Bibelglossen des 8. Jhd. in weiblicher Einzahl als cancella und als «die» Kanzel ins Schriftdeutsche.   19   Wyß 617.   20  Das Wisi = die «Weisung», l’avertissement.   21   Wyß 616.   22   Brand 60. Etwa so, wie die Glocken der Städte am Mittelrhein ihr tiefes und langsames vi-num bo-num brummen, die Glöcklein der darüber liegenden Bergdörfchen aber ihr «Äppelpäppel! Äppelpäppel!» darein rufen sollen.   23  Als solches gewürdigt von Hagen im SdB. 1880, 170 ff.; Straßer in Sänger 219-225 und Brand 52 ff., wo das Glöcklein auf dem Titelumschlag abgebildet ist.   24   GlM. 152 nach Kirchmeyer Howald in Bern; ZdöA. 1891; SAC. 1880. 1892.   25   Wyß 616 cf. Errata; ÄFG. XLIX.   26  Petronilla von Greierz 1277 neben Perroneta 1493: Genealogisches Handbuch, Beilage zum schwz. heraldischen Archiv (im Entstehen begriffen); vgl. Martyrologium Usuardi (Venet. 1745) 306; Acta sanctorum Maji, ( Venet. 1739) 6, 69 ff. «Petronilla» im Sterberegister von Zermatt 1578-80.   27   Schöpf 113 b.   28  Als bloße Namens­verwechslung betrachten gewiegte Historiker die Setzung des Namens «Sempronn» auf vier Karten des 17./18. Jhd. (Vischer 1680, Homann 1732, Lotter 1740, Tillemon 1746; vgl. Cool. in Blätter 2, 235; GlM. 102.) Die Vertauschung der Namen wäre danach auf gleiche Linie zu stellen mit der Hinstellung der Kapelle an den Mettenberg statt an den Eiger, wie sie (unbelehrt durch Rebm. 487) einem Scheuchzer (Karte von 1712 und Notiz von 1723), Altmann (1751), Herrliberg (1754) und selbst noch einem «Wanderbild» (81/82, 32) begegnet ist.   29  Vgl. Altm. 56 f.   30   Tschudi 513; vgl. unsere S. 318.   31  Vgl. Brand 54.   32  Marc. 1, 30 f.   33  Näheres über diese Beziehung: Grun. 1, 84; Wyß 665 f.; Brand 54.   34  Vgl. Altm. 55-57.   35   Wyß 665; Jahn KB. 324.   36   B. Heim 1902, 239.   37   Wyß 665 ff.; GlM. 115. 130; ZdöA. und SAC. 1880. 1892.   38  Die Vermutungen in Jahn KB. 323 f.; Wyß 661; ÄFG. L; GlM. 130 werden rektifiziert durch die Einzeichnung der Petronellenkapelle in ein Marchbuch von 1706 durch den Geometer Samuel Bodmer. (Staatsarchivar Prof. Türler.)   39   Wyß 665.  
 

Abendmahlskanne aus Grindelwald.

Die Gravierung zeigt Österreichs Wappen: im roten Schild die weiße Binde, auf dem Helm den Pfauenstoß. Bis vor kurzem war dies das Wappen Grindelwalds; daß das Tal das volle Wappen seines alten Herrn, des Feindes der Eidgenossen, noch sehr lange führte, nachdem es bernisch geworden, bezeugt auch ein Glasgemälde im hist. Museum zu Bern, das unter obigem Wappen die Inschrift zeigt: Die Thalschafft Grindelwald Im 1663 Jahr.

Zu beiden Seiten des Helmes steht: GRINDEL WALD;
unter dem Schild: 1707.


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