Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Die Sonne stieg höher, und die Luft trug von dem nächsten Dorf das leise Bimmeln der Glocke herüber. «Die erste Mahlzeit ist spärlich genug ausgefallen», sagte Anton zu seinem Kameraden, «die Kartoffeln sind in der Asche gebraten; auch Fleisch und Speck sind zu Ende, die Köchin kann das Mehl nicht mehr verbacken, es fehlt wieder an Wasser.»

«Solange wir die Milchkuh im Stall haben», erwiderte Fink, «besitzen wir immer noch einen Schatz, den wir dem hungrigen Volk vorzeigen können. Dann bleiben noch die Mäuse des Schlosses und zuletzt unsere Stiefel. Wer in diesem Lande verurteilt war, bisweilen Beefsteak zu essen, der kann Stiefelleder für kein zähes Gericht halten.»

Der Förster unterbrach das Gespräch mit der Meldung: «Ein einzelner Reiter kommt vom Wirtschaftshof auf das Schloß zu, hinter ihm geht ein Frauenzimmer; ich wette, es ist die Rebekka.»

Der Reiter näherte sich, ein weißes Taschentuch schwenkend, der Tür in der Vorhalle, er hielt neben den verkohlten Trümmern des Erntewagens und sah nach den Fenstern des Oberstocks. Es war der Parlamentär vom Tage zuvor.

«Wir wollen nicht so unhöflich sein, den Herrn warten zu lassen», sagte Fink, schob den Riegel zurück und trat unbewaffnet auf die Schwelle. Der Pole grüßte schweigend, Fink lüftete seine Mütze.

«Ich habe Ihnen gestern abend gesagt», begann der Reiter, «daß ich heute das Vergnügen haben würde, Sie wiederzusehen.»

«Ei», antwortete Fink, «Sie selbst waren der Herr, der uns den Rauch verursachte. Es war schade um den Erntewagen.»

«Sie haben gestern Ihre Leute verhindert, auf mich zu feuern», fuhr der Pole in deutscher Sprache mit hartem Akzent fort, «ich bin Ihnen dankbar dafür und möchte Ihnen meine Erkenntlichkeit beweisen. Wie ich höre, sind Damen in diesem Hause, das Mädchen bringt ihnen Milch. Wir wissen, daß man hier im Schloß kein Wasser hat, und ich wünsche nicht, daß die Damen durch unsern Streit zu Entbehrungen genötigt werden.»

«Du Racker», murmelte der Förster.

«Wenn Sie mir erlauben, Ihnen für die Milch einige Flaschen Wein aus unserem Keller zurückzugeben, so nehme ich Ihr Geschenk mit Dank an», erwiderte Fink. «Ich setze voraus, daß Ihnen in der Schenke diese Flüssigkeit ebenfalls nicht im Überfluß zu Gebote stehen wird.»

«Es ist gut», sagte der Pole lächelnd. Rebekka eilte mit ihrem Krug nach der Pforte des Hofraums, gab die Milch ab und empfing durch den brummenden Förster die Flaschen mit Wein. Der Pole aber fuhr fort: «Wenn Sie auch mit Wein versehen sind, so kann dieser doch nicht das Wasser ersetzen, Ihre Garnison ist zahlreich, und wir hören, daß Sie viele Frauen und Kinder im Hause haben.»

«Ich werde es für kein Unglück halten», erwiderte Fink, «wenn die Frauen und Kinder einige Tage mit uns Männern Wein trinken, bis Sie uns den Gefallen erweisen, um den ich Sie schon gestern ersuchte, dies Gut und den Brunnen drüben zu verlassen.»

«Hoffen Sie nicht darauf, mein Herr», sagte der Pole ernst, «wir werden jede Gewalt anwenden, Sie zu entwaffnen; wir wissen jetzt, daß Sie keine Artillerie haben, und es ist uns jede Stunde möglich, den Eingang in dies Haus zu erzwingen. Sie haben sich aber als tapfere Männer gehalten, und wir wünschen nicht weiter zu gehen, als wir müssen.»

«Vorsichtig und verständig», versetzte Fink beistimmend.

«Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag, der Ihr Ehrgefühl nicht verletzen wird. Sie haben auf keinen Entsatz zu hoffen. Zwischen Ihrem Militär und diesem Dorf steht ein starkes Korps unserer Truppen, ein Zusammenstoß beider Armeen ist in den nächsten Tagen einige Meilen von hier zu erwarten, und Ihre Kommandeure sind deshalb außerstande, einzelne Korps zu entsenden. Ich sage Ihnen keine Neuigkeit, denn Sie wissen das so gut als wir selbst. Und so verbürge ich Ihnen und allen, welche in diesem Hause sind, bei meinem Ehrenwort freien Abzug, wenn Sie Ihre Waffen und das Schloß übergeben. Wir sind bereit, Sie und die Damen durch eine Eskorte in jeder Richtung, welche Sie wünschen, so weit zu begleiten, als wir das Terrain behaupten.»

Fink versetzte ernsthafter, als er bis dahin gewesen: «Darf ich fragen, aus wessen Munde das Ehrenwort kommt, das mir soeben gegeben wurde?»

«Oberst Zlotowsky», erklärte der Reiter, sich leicht verneigend.

«Ihr Vorschlag, mein Herr», entgegnete Fink, «verpflichtet uns zu Dank. Ich setze keinen Zweifel in die Aufrichtigkeit Ihres Anerbietens und will auch annehmen, daß Ihr Einfluß auf die Männer, welche Sie begleiten, groß genug ist, um die Bedingungen aufrechtzuerhalten. Da ich aber nicht selbst des Hauses Herr bin, so muß ich diesem Ihre Vorschläge mitteilen.»

«Ich warte», sagte der Pole, ritt auf eine Entfernung von dreißig Schritt zurück und hielt der Tür gegenüber still.

Fink schloß die Tür und sagte zu Anton: «Schnell zum Freiherrn! Was ist deine Meinung?»

«Aushalten», versetzte Anton.

Sie trafen den Freiherrn in seinem Zimmer, den Kopf in seine Hände gestützt, mit verstörtem Gesicht, ein Bild des Leidens und nervöser Unruhe. Fink trug ihm das Anerbieten des Polen vor und bat um seine Entscheidung.

Der Freiherr erwiderte: «Ich habe bis jetzt vielleicht mehr gelitten als irgendeiner der Braven, welche in diesem Hause ihr Leben gewagt haben. Es ist ein furchtbares Gefühl, hilflos dazusitzen, wo die Ehre gebietet, in der vordersten Reihe zu stehen. Aber eben deshalb habe ich kein Recht, Ihnen Vorschriften zu machen. Wer außerstande ist zu kämpfen, hat auch kein Recht, zu bestimmen, wann der Kampf aufhören soll. Ich habe ja kaum das Recht, Ihnen meine Ansicht zu sagen, weil ich fürchte, daß sie für Ihren hochherzigen Sinn bestimmend sein würde. Außerdem kenne ich Unglücklicher nicht die Leute, welche mich verteidigen, und habe kein Urteil über ihre Stimmung und über ihre Kraft. Ich überlasse Ihnen alles und lege das Schicksal der Meinen vertrauend in Ihre Hand. Der Himmel möge Ihnen vergelten, was Sie für mich tun. Nicht für mich, um Gottes willen nicht für mich, das Opfer wäre zu groß», rief der erregte Mann, erhob seine gefalteten Hände und starrte mit den glanzlosen Augen in die Höhe. «Denken Sie an nichts als an die Sache, welche wir verteidigen.»

«Wenn Sie uns ein so hohes Vertrauen schenken», sagte Fink mit ritterlicher Haltung, «so sind wir entschlossen, Ihr Schloß zu halten, solange wir noch eine schwache Hoffnung auf Entsatz haben. Unterdes sind ernste Zufälle möglich, die Weigerung unserer Leute, sich ferner zu schlagen, oder das gewaltsame Eindringen der Feinde.»

«Meine Frau und Tochter bitten wie ich, daß Sie in dieser Stunde auf ihr Wohl keine Rücksicht nehmen. Gehen Sie, meine Herren», rief der Freiherr, seine Arme ausstreckend, «die Ehre eines alten Soldaten liegt in Ihrer Hand.»

Beide Männer verneigten sich tief vor dem Blinden und verließen das Zimmer. «Es ist doch Ehre in den Leuten», sagte Fink auf dem Wege, mit dem Kopfe nickend. Er öffnete die Tür, der Offizier ritt heran.

«Der Freiherr von Rothsattel dankt Ihnen für Ihr Anerbieten, er ist entschlossen, sein Haus und das Eigentum derer, welche sich ihm anvertraut haben, gegen Ihre Angriffe zu verteidigen bis zum Äußersten. Wir nehmen Ihren Vorschlag nicht an.»

«So tragen Sie die Folgen», rief der Reiter zurück, «und die Verantwortung für alles, was jetzt geschehen muß.»

«Ich übernehme die Verantwortung», sagte Fink. «An Sie aber noch eine Bitte. Es sind außer den Frauen und Kindern der Landleute zwei Damen in diesem Schloß, die Gemahlin und die Tochter des Freiherrn von Rothsattel; wenn ein Zufall Ihnen doch Gelegenheit geben sollte, die Räume dieses Hauses zu betreten, so empfehle ich die Wehrlosen Ihrem ritterlichen Schutz.»

«Ich bin ein Pole!» versetzte der Reiter stolz, sich auf seinem Pferde erhebend. Er nahm den Hut ab und ritt in kurzem Galopp nach dem Wirtschaftshofe zurück.

«Er sieht aus wie ein kühner Bursch», sagte Fink sich umwendend zu den Leuten, welche aus der Wachtstube herzugeeilt waren. «Aber, meine Männer, wenn man die Wahl hat, ob man sich verlassen soll auf die Versprechungen eines Feindes oder auf dies kleine Rohr von Eisen, so bin ich allemal der Meinung, daß man sich am besten dem vertraut, was man in der Hand hält.» Er schüttelte sein Gewehr. «Der Pole verspricht uns freien Abzug, weil er weiß, daß in ein paar Stunden seine Bande vor unsern Soldaten auseinanderlaufen wird. Wir wären für ihn ein guter Bissen, an die dreißig Gewehre! Und wenn die Reiter kämen und uns nicht in dem Hause fänden, zu dem wir sie gerufen, sondern dies Gesindel mit seinen Krötenspießen, sie würden uns ein schönes Donnerwetter nachschicken, und wir hätten den Schimpf für immer.»

«Ob er es ehrlich gemeint hat?» fragte einer der Leute zögernd.

Fink faßte den Mann vertraulich an der Klappe seines Rockes: «Ich glaube, daß er es ehrlich meint, mein Junge, aber ich frage euch, wie weit reicht bei diesem Volk der Gehorsam? Wir wären noch nicht hinter der Waldecke dort unten, so käm' ein anderer Haufe über uns, und die Weiber und eure Sachen würden vor unsern Augen mißhandelt. Und deswegen, rechne ich, tun wir am besten, wenn wir ihnen die Zähne zeigen.»

Lebhafte Beistimmung der Hörer folgte, und einige Hoch auf die jungen Herren im Schlosse wurden ausgebracht.

«Wir danken», sagte Fink, «und jetzt alle auf Posten, ihr Männer, denn es kann wohl kommen, daß sie sich wieder blutige Köpfe holen. – Das hält sie auf eine Stunde hin», fuhr er zu Anton gewandt fort. «Ich glaube nicht an einen Angriff bei Tage, aber auf Posten stehen ist besser für sie als die Köpfe zusammenstecken. Bei alledem ist quer, daß die Leute diese Verhandlung angehört haben.»

Auch der strenge Dienst, den Fink jetzt einrichtete, vermochte nicht die Entmutigung aufzuhalten, welche allmählich, je weiter die Sonne am Himmel stieg, über die kleine Besatzung kam. Die Worte des Polen waren von vielen gehört worden, auch die Weiber hatten neugierig ihre Tür geöffnet und sich in die Halle gedrängt. Leise, nach und nach fiel die Furcht in die Herzen, und ansteckend wie eine Krankheit erfaßte sie einen nach dem andern. In der Frauenstube brach sie aus. Plötzlich empfanden einzelne eine große Sehnsucht nach Wasser, sie klagten über Durst, zuerst schüchtern, dann lauter, sie drängten sich an der Tür der Küche zusammen und begannen laut zu schluchzen. Nicht lange, so schrien alle Kinder nach Wasser, und viele, die unter andern Umständen nicht an Trinken gedacht hätten, fühlten sich unsäglich elend. Anton ließ die letzten Flaschen Wein aus dem Keller holen, zerschnitt das letzte Brot, tauchte jedem einzelnen einige Bissen in den Wein ein, bis sie ganz durchweicht waren, und verteilte sie mit der ernsthaften Versicherung, dies sei das beste Mittel gegen Durst; wenn man das in den Mund stecke, so sei man einen ganzen Tag lang nicht imstande, Wasser zu trinken, und wenn man Geld dafür bekomme. Das half auf eine Weile, aber die Angst fand andere Türen, durch welche sie einschlich. Manche überlegten, was sie denn zu verlieren hätten, wenn sie ein altes Gewehr abgäben und dafür die Freiheit erhielten und das Recht, überall hinzugeh[*]en, wohin sie wollten. Diese Ansicht wurde vorläufig von dem Förster bekämpft, der sich in die Mitte der Wachtstube stellte und entschlossen erwiderte: «Ich will Euch sagen, Gottlieb Fitzner, und Euch, Ihr dicker Bökel, daß das Weggeben des Gewehrs für uns alle eine Kleinigkeit ist, es ist nur der Übelstand dabei, daß der von euch, der auf diesen niederträchtigen Gedanken käme, ein ganz gemeiner feiger Schuft wäre, vor dem ich alle Tage ausspucken würde, sooft ich ihn träfe.» Darauf gaben Fitzner und Bökel dem Förster eifrig recht, und Bökel erklärte, er werde es mit jedem solchen Kerl ebenso machen wie der Förster. Und auch diese Gefahr war beseitigt. Aber die abgelösten Wachen blieben in unruhiger Unterhaltung. Die Streitkräfte des Schlosses wurden mit denen des Feindes verglichen; endlich wurde die geringe Stärke des Pfahlwerks im Hofe der herrschende Gegenstand einer furchtsamen Kritik. Es war klar, daß dort der nächste Angriff erfolgen würde, und auch die Beherzten nahmen an, daß der Bohlenzaun nur geringen Widerstand leisten könnte. Sogar der treue Schmied schüttelte mit der Hand an dem Zaun und fand keinen Gefallen an der Art, wie er zusammengenagelt war. In den Mittagsstunden waren diese Anfälle von Zaghaftigkeit noch nicht gefährlich, denn der größte Teil der Männer erwartete, das Gewehr in der Hand, jeden Augenblick den Anmarsch des Feindes. Als sich aber die Sonne von ihrer Höhe neigte, ohne daß ein Angriff erfolgte und ohne daß der Posten auf dem Turme den Entsatz meldete, da wirkten Tatlosigkeit und Abspannung zusammen, das Leiden allgemein zu machen. Die Mittagskost war ungenügend, Kartoffeln mit verkohlter Rinde und etwas Salz dazu. Natürlich fingen die Leute wieder an zu dursten, wieder kamen die Frauen jammernd zu Anton und klagten, sein Mittel habe nur auf kurze Zeit geholfen. Und auch unter den Männern flog die Angst um Hunger und Durst von einem Pfeiler zum andern, aus der Wachtstube in den Hof bis hinauf in den Turm. Anton hatte die doppelte Ration Branntwein ausgeteilt, auch das half nicht bei allen. Die Männer wurden nicht aufsässig, es war zuviel gute Art in ihnen, sie wurden nur kleinlaut und schwächer. Fink sah mit verächtlichem Lächeln auf diese Symptome eines Zustandes, der seinem elastischen Geist und seinen stählernen Nerven unbegreiflich war. Aber Anton, den alle mit Bitten und Klagen überliefen, fühlte die ganze Verlegenheit dieser Stunden. Etwas mußte geschehen, um gründlich zu helfen, oder alles war verloren. So trat er in den Hof, entschlossen, die Kuh zu opfern. Er stellte sich vor die Milchkuh, klopfte sie auf den Hals. «Liese, armes Tier, du mußt jetzt daran.» Als er sie am Strick herauszog, fiel sein Blick auf die leere Wassertonne, und ihn überkam ein glücklicher Gedanke. Die Erhebung des Bodens über das Wasser des Baches betrug nur wenige Fuß, die ganze Gegend war quellenreich, es war wahrscheinlich, daß man in geringer Tiefe Wasser finden würde. Es war für die Besatzung eine leichte Sache, ein Brunnenloch auszugraben. Wenn man die ausgegrabene Erde an das Pfahlwerk stampfte, so wurde dessen Festigkeit beträchtlich vermehrt. Und was die Hauptsache war, die Arbeit setzte alle müßigen Hände in Bewegung, sie konnte stunden-, ja tagelang fortgesetzt werden. Aus früheren Versuchen wußte er, daß das Wasser um das Schloß schlammig und in gewöhnlicher Zeit nicht zu gebrauchen war, aber darauf kam es heut nicht an. Anton sah nach der Sonne, es war keine Minute zu verlieren.


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