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39

Durch eine Seitenpforte gelangten sie ins Haus, ließen ein paar nüchtern als Bibliothek eingerichtete Zimmer hinter sich, dann standen sie in einem weiten, kühlen und frischen Raum, in dem es flimmerte und leise gluckste.

Zwei große, vieleckige Wasserbecken waren in seiner Mitte in den Boden eingelassen, zwischen ihnen befand sich die Anlage zu einem Springbrunnen, der aber jetzt nicht sprang. Mit allerhand Stellagen und kleinen Kästen war die eine Längswand abwechselungsreich besetzt; die andere jedoch, und auf sie fiel sogleich der Blick, wurde ganz eingenommen von erhöhten Glasbecken, neun an der Zahl, in denen es vielfarben schimmerte und durch die ein gebrochener Glanz von Meer und Sonne zu kommen schien.

»Mancherlei Tiere sehen Sie hier,« sagte Professor Kostomarow, und sie blieben irgendwo stehen, »Fische, Muscheln, Schnecken, kleine Krebse, Schlangensterne, alles Mögliche, – alle recht merkwürdig und interessant, wenn man ein wenig versucht, ihre Lebensgewohnheiten kennen zu lernen. Wir bekommen ja auch mitunter Besuch von Fremden, die dann hier herumstehen und hineinschauen und sich eigentlich langweilen und wenig begreifen. Aber viel Besuch bekommen wir nicht. Es ist wahrscheinlich zu amüsant an der Küste. Und außerdem – mit den großen Anstalten, mit der in Neapel zum Beispiel, kann sich unser Haus natürlich nicht vergleichen. Früher war es einmal ein Verwaltungsgebäude unserer russischen Regierung, als noch die Kohlenstation für die Flotte hier existierte. Nun, das ist langweilig, was ich da erzähle …«

»Oh gar nicht,« sagte Matthias artig.

»Ich wollte nur sagen: die Fremden haben eigentlich recht, wenn sie sich nicht eben in Scharen herbeidrängen. Manche von unsern jungen Herren, die fleißig arbeiten, ärgern sich sogar, wenn doch jemand kommt. Sie sollten nur hören, Herr Matthias, wie mein Assistent Jegornow die Fremden kopiert, besonders die Damen: › Ah, Gaston, regardez donc les jolies couleurs. Comme c'est délicat, ce gentil vert-là.‹« Herr Kostomarow rundete den Mund und sprach so niedlich er nur konnte, aber dann ließ er es und sagte lächelnd: »Das ist nichts, ich habe kein Talent, Jegornow müssen Sie hören.« Matthias lachte ein wenig. Er dachte an das Paar im Speisewagen des Expreß. Wie lange war das schon her.

»Dies hier ist ein schönes Becken, nicht wahr?« sagte Herr Kostomarow. »Große Aktinien, seltene Arten zum Teil. Sie sehen doch ganz aus wie Blumen, alle die Geschöpfe, die hier an dem Felsstück haften und so sanft ihre Arme bewegen. Seenelken, Seerosen, Seeanemonen … hübsche Namen. Aber sie leben nicht wie die Blumen. Sehr gefräßig sind sie, niemals bekommen sie genug. Und die Blütenarme sind Fangarme. Nun, das wissen Sie wahrscheinlich alles schon … Aber wozu, glauben Sie, Herr Matthias, sind die nun alle auf der Welt? Könnte die Welt nicht ganz gut ohne sie bestehen? Aber sie besinnen sich alle gar nicht darüber …«

Wieviel er spricht, um mich zu trösten, dachte Matthias dankbar. Und tröstet er mich nicht wirklich schon ein wenig …

»Und wie hängen sie alle an ihrem Dasein,« fuhr der Professor im Weiterschreiten fort, »glauben Sie nur, die lieben ihr Leben, und es fällt ihnen nicht ein, zu überlegen, ob sie es auch verdienen …«

»Ja, solche Tiere …« sagte Matthias und blickte träumend hinein in die seltsame Welt.

»Sehen Sie einmal, was hier kommt, ja links vor dem größeren Aufbau … der Krebs, diese dunkelgrüne, flache Krabbe da. Sehen Sie, was der kleine Kerl macht?«

»Hält er nicht etwas in die Höhe mit seinen hinteren Beinen …«

»Ganz recht. Jawohl. Dorippe heißt er, komische Gewohnheiten hat diese Art. Da hält er nun so ein krummes Stück Holz über sich – es gehört übrigens kein solches schwarzes Stück Holz in das Becken, Matthias, aber wir haben jetzt niemand, der so recht für unsere Tiere sorgt, – und geht tagelang mit diesem Schirm spazieren und überlegt sich nicht, daß er gar nicht mehr im freien Meere ist, wo man gefressen wird, sondern in angenehmer, ausgesuchter, friedlicher Gesellschaft. Es ist ihm wichtig, daß es nicht gefressen wird, dem Krebschen; merken Sie es, Matthias …?«

Oh wie schön, wollte Matthias rufen. Er sah ein violettes, völlig durchsichtiges, glockenförmiges Geschöpf mit ganz leisen, süßen, rhythmischen Bewegungen daherschaukeln … Aber er rief nicht, in Erinnerung an den Assistenten, der die begeisterten Französinnen so sehr verachtete. Er hob die Augen zu dem Professor auf und begegnete seinem Blick. Ihm wurde es warm ums Herz. Ja, die Begegnung dieses Morgens war die sonderbarste und schönste von allen, die er an den Kreuzwegen seines Lebens gehabt hatte; sie begann ihn mit einer eigentümlichen Zuversicht zu erfüllen. War er in dieser, mit unbekannten Wesen angefüllten, fremden Halle nicht wie ein Kind an der Hand seines Vaters …

In diesem Augenblicke nahm ihn Herr Kostomarow wirklich von Neuem bei der Hand.

»Ich sehe, mein Junge,« sagte er mit warmem Ton, »daß Sie sich zerstreuen bei unsern Tieren. Ich freue mich. Sagen Sie, verstehen Sie es, daß man solchen armen, unbewußten Geschöpfen Wohlwollen schenken kann, daß man sie sogar lieben kann?«

Matthias nickte lächelnd.

»Das ist gut, das ist sehr gut … Und es ist nicht so häufig, Matthias. Sogar unter den Gelehrten ist es eher selten. Für die meisten ist so ein Tier eigentlich nichts Besonderes. Ich habe aber nicht gefunden, daß das die besten Gelehrten sind …«

»Die Tiere werden doch oft sogar zerschnitten … auseinandergenommen, nicht wahr?« sagte Matthias.

»Das werden sie. Das muß wohl auch geschehen. Aber es gibt Unterschiede … Übrigens rede ich nicht nur von den Gelehrten. Wir hatten hier einen Wärter im Hause, einen gewandten jungen Kerl, der allerlei verstand und auch mit den Fremden gut umzugehen wußte. Aber vor vierzehn Tagen mußten wir ihn entlassen. Er liebte seine Tiere wirklich ein bißchen zu wenig. Eines Tages kamen wir dahinter, daß er förmliche Gladiatorenspiele mit ihnen aufführte …«

»Hetzte er sie aufeinander?« fragte Matthias gespannt, und sein Herz fing an zu klopfen. »War das möglich? Ich habe geglaubt …« und er suchte nach Worten, »der Mensch könnte sich diesen Geschöpfen gar nicht verständlich machen und keine Wirkung auf sie ausüben? So schien es mir …«

»So … haben Sie darüber nachgedacht? Nein, er brachte nur aus den verschiedenen Becken Tiere zueinander, die sich feind sind und hatte seine Freude an der Zerstörung. Da waren zum Beispiel irgendwo in einem abgesonderten Behältnis so ein paar flinke kleine Räuber – Schleimfische nennt man sie, glaube ich, im Deutschen – die sich damit beschäftigen, schwächeren Tieren die Augen auszureißen … aus Leckerei, wollen wir hoffen, und nicht aus Bosheit … Das hatte der Mensch irgendwo gehört oder gelesen und brachte nun diese abscheulichen kleinen Gourmands zu ihren Opfern. Nun, und solche Taten hatte er mehr auf dem Gewissen. Da jagten wir ihn schließlich fort.«

»Oh pfui, wirklich,« sagte Matthias, und seine Augen waren dunkel vor Entrüstung.

»Ja, nicht wahr … Nun fehlt es uns einstweilen an einem Pfleger. Meine Assistenten tun das Nötigste, aber sie haben auch sonst ihre Arbeit. Und im Übrigen sind von allen möglichen Universitäten junge Gäste bei uns, die zwei oder drei Monate bleiben, um zu lernen. Denen können wir es auch nicht zumuten. Da wird jetzt manches versäumt.«

»Ist es denn schwer, die Tiere zu pflegen?«

»Schwer – nein, aber es gehört Sorgfalt dazu, gerade bei uns. Wir haben wenig Geld hier auf der Station, und die altmodische Einrichtung ist nicht so bequem zu handhaben wie die teuern neuen Apparate. Da ist zum Beispiel die Frage der Durchlüftung … Ein deutscher Erfinder hat einen vortrefflichen Apparat konstruiert, der gar keine Mühe macht, und der außerdem sogar noch eine Art Flut und Ebbe in den Bassins hervorbringt. Aber den können wir uns nicht leisten. Er ist eben viel zu teuer. Wir müssen uns immer noch auf die alte Art behelfen. Sehen Sie, Matthias, so …«

Und er schlüpfte unter einem der Bassins hindurch, erkletterte dort hinten eine Leiter oder einen Trittschemel und machte sich mit einem Metallhahn zu schaffen, der ein wenig über dem Wasserspiegel angebracht war. Ein dünner, scharfer Strahl schoß plötzlich aus der Leitung, traf eine Röhre, die im Becken lehnte und durchfuhr sie quirlend …

»Sehen Sie, Matthias,« rief der Professor, von dem nur der Kopf mit dem schwarzen, runden Hute sichtbar war, »jetzt reißt das Wasser ein wenig Luft mit sich, die da unten wieder herauskommt und unsern Tieren etwas zum Atmen gibt … Übrigens ist es auch Zeit, die Vorhänge vorzuziehen. Manche von den Herrschaften fühlen sich nicht wohl, wenn ihr Wasser zu warm wird …«

Und er kletterte mit einem kleinen Stöhnen von seinem Schemel herunter und verhüllte drüben die Fenster gegen die kräftig einfallende Sonne.

»Wenn es zu hell ist in den Bassins, sieht man auch bald kein Tier mehr vor wuchernden Algen,« sagte er, als er wieder zum Vorschein kam. »Aber kommen Sie, Matthias, wir schwatzen noch ein bißchen …«

Und sie nahmen Platz auf einer Steinbank, die in der Mitte des Raumes angebracht war, einem der eingesenkten Becken zugewendet. Im glasreinen Wasser zuckte und schimmerte es von hundert Fischen.

Herr Kostomarow war noch ein wenig außer Atem von seinen Handgriffen. »Nun, Matthias,« sagte er mit etwas abgerissener und dennoch sanfter Sprechweise, »haben Sie es wieder einmal gesehen, daß Geschöpfe auf diesem Planeten mit Ihnen zusammen existieren, die gar nichts wert sind in Ihrem Sinne, und die doch nicht daran denken, auf das Dasein zu verzichten … Nun das sind alte Sachen … Aber glauben Sie zum Beispiel, um bei einem andern Ende anzufangen, daß ein Geschöpf, wie ich, ich selbst, der ein alter Professor mit einer Brille ist, und sozusagen der Herr über alle diese Krebse und Quallen und Fische, daß ich notwendig bin auf Erden, daß es ohne mich nicht ginge …«

»Oh, Herr Professor …«

»Langsam … Sehen Sie einmal: vor langer Zeit, vor vielen Jahren, habe ich auch geglaubt, man müsse sein Recht auf das Leben so mit einem Schlage beweisen, mit Posaunen gewissermaßen, mit einem Tusch. Nebenbei – sagen Sie mir, Matthias, was wollten denn Sie ausführen, was ist denn Ihnen mißglückt, auf welcher Posaune wollten Sie blasen?«

Ohne jedes Bedenken erwiderte Matthias: »Ich wollte einen Verbrecher töten, einen vornehmen Mann, einen Unterdrücker. Aber ich habe es nicht tun können.«

Hierauf antwortete der Russe nichts. »Mit einem Schlage,« fuhr er fort, »wollte ich es beweisen, wie notwendig ich sei. Ich war noch ein Student, da begann ich ein großes, allgemeines Werk zu schreiben, so etwas über das Wesen der Natur, über den Kern der Geschöpfe und Gesetze. Natürlich wußte ich noch sehr wenig, so gut wie nichts, aber ich wollte sehr viel. Ich war wirklich des Glaubens, ich könnte den Menschen Zusammenhänge zeigen zwischen Dingen, die mir einzeln fast alle unbekannt waren. Schöne Nächte waren es damals in Heidelberg. Ich wohnte in einem Gartenhause, und der Duft der Bäume und Blumen kam zu mir herein. Schöne Nächte … mehr ist nicht davon geblieben. Nun bin ich also ein alter Professor und schreibe freilich Bücher. Aber wissen Sie worüber, Matthias? Nicht mehr über die Wesen der Erde im Allgemeinen, auch nicht über das Tierreich im Allgemeinen, nicht einmal über einzelne Gruppen oder Arten von Tieren, sondern ich wähle mir von den kleinen Geschöpfen hier um uns her irgendeines aus, ein ganz bestimmtes, einen stacheligen Seeigel vielleicht, oder auch einen Seestern …«

»Einen Seestern?«

»Ja, Ophidiaster oder Astrospekten oder Sonnenstern … allen hat man hübsche Namen gegeben. Aber auch da schreibe ich noch nicht über das ganze Tier, Matthias, sondern ich untersuche irgend etwas an ihm, etwa die Art seiner Ernährung oder seine Fortpflanzung oder wie es sich bewegt …«

»Ja,« sagte Matthias eifrig, »das ist merkwürdig, wie sie sich bewegen, die vorderen Zacken in die Höhe gekrümmt …«

»Haben Sie das einmal beobachtet … Ja, dergleichen Dinge beschreibe ich nun, damit verbringt solch ein Mensch wie ich sein Leben, und nicht ich allein, mit mir hier arbeiten ja Andere – jetzt könnten die Herren übrigens aufgestanden sein, damit wir unser Frühstück bekämen! – und Stationen, wie die unsrige, gibt es mehr, größere, berühmtere, in andern Ländern, in allen Weltteilen … und Wissenschaften, wie die unsere, gibt es mehr, nicht wahr? Und jeder von uns allen tut so für sich sein kleines Werk. Wenig, wenig ist geschafft, wenn ein Menschenleben vorbei ist, aber ein Schrittchen ist doch getan …«

Der Professor schwieg.

»Ein Schritt in der Wissenschaft …« sagte Matthias nachsinnend.

»Sie wollen fragen, Matthias, wofür es denn gut sei, das Schrittchen, wohin sie denn schließlich führen sollen, alle die zehntausend Schritte …« Der Professor richtete sich in die Höhe, nahm seine Brille ab und blickte Matthias mit seinen kurzsichtigen, guten Augen ins Gesicht. Der errötete. Übrigens saß er, wie draußen, im langen Ledermantel da, den Kragen aufgeschlagen.

»Ich will es Ihnen sagen, wohin sie führen. Sie führen zur Erkenntnis, Matthias, und Erkenntnis macht gut. Denn der Mensch kann ja nur das wahrhaft lieben, was er kennt … Mit allem aber, was wir über diese geringen und verborgenen Wesen erfahren, erfahren wir auch etwas über die anderen und sogar über uns selbst. Ich könnte es Ihnen beweisen … doch vielleicht ist es besser, Sie glauben es mir, oder Sie fühlen es ohne Beweis … Vielleicht würden Sie lachen, Matthias, wenn man Ihnen sagte, der und der Fisch, vielleicht der kleine Regenbogenfisch, der da eben auftaucht, dieser kleine Kerl mit seinem gezackten Orangeband an der Seite, mit seinem blauen Fleck am Kiemen, mit seinem schwarzen Fleck auf der Achsel, mit seinem violetten Fleck auf der Rückenflosse, – er sei eigentlich ein hübscher kleiner Bruder von uns Beiden …«

»Nein,« sagte Matthias, »darüber würde ich nicht lachen.«

»Matthias,« sagte der Professor mit etwas veränderter Stimme, »würden Sie wohl bei uns bleiben wollen und unsere Meertiere pflegen? Es ist nicht schwer …«

 


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