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30

Die gelbe, allzuneue Reisetasche in der Hand trat er am späten Abend in die Halle hinaus. Vor der Tafel dachte er: ›Mailand ist schöner als Milano. Mailand …‹ Doch es fuhr ein eisiger Wind durch den Bahnhof.

Matthias überschritt die Gleise und trat unter den zur Stadt führenden Ausgang. Er vermochte sich nicht von der Vorstellung zu befreien, daß, war auch der Bahnhof unwirtlich, doch die Stadt selber – Mailand, beim ersten Blick etwas vom Frühling haben müsse. Aber ein nordischer Novemberwind fiel ihn auf dem trostlosen Riesenplatze heulend an. Eine schlecht beleuchtete Öde … Matthias ging fröstelnd zurück und fand den Speiseraum. Mehrere Stunden lang hatte er zu warten …

Da er sonst nicht viel zu nennen wußte, so bestellte er sich in seiner Ecke, stammelnd, ein Kotelett und verzehrte es, ohne zu bemerken, wie schlecht es zubereitet war … Wie sollte er dem Kellner den nächsten wichtigeren Wunsch verständlich machen? Schließlich fiel es ihm ein, Französisch zu sprechen. Dort unten würde er ja den ganzen Tag Französisch zu sprechen haben. Den ganzen Tag? Er hatte mit niemand ein Wort zu wechseln …

» De quoi écrire, s'il vous plaît.«

Der Kellner verbeugte sich tief vor dem eleganten jungen Herrn, eilte und kam mit dem Schreibzeug zurück. Matthias blickte an sich hinunter, erstaunt über den Respekt, der ihm in fremder Umgebung erzeigt wurde. Seine Augen suchten am Kleiderhaken den weichen Hut, den dunklen Herbstmantel; eine Ecke des silbergrauen Seidenfutters war umgeschlagen und sichtbar. Gut; es gehörte zu seiner Aufgabe, In eleganter Umgebung nicht abzustechen.

Seine Aufgabe … seine Aufgabe … Das Wort ließ ihn nicht los, unter der Hand veränderte es den Sinn. Ach, elegant oder nicht, noch immer lief er in seinem Schülerjäckchen vom vorigen Jahr herum. Aber nicht lange mehr …

Der weite Raum war mäßig besetzt. Matthias zunächst unter der großen Uhr an der Schmalwand nahm eine englische Familie, Vater, Mutter und zwei lange Söhne, schweigend ihre Mahlzeit ein. Ein kleiner, struppiger Bahnbeamter kam plötzlich schnellen Schrittes durch die Mitteltür, machte Halt, klingelte und rief eine Reihe von Namen aus, doch so, daß es klang, als sänge er ein einziges langes Wort. Er verschwand.

Matthias beugte sich über das unsaubere Löschblatt, schob den Bogen zurecht und begann in seiner noch schülerhaften, ein wenig dünnen, schiefliegenden Handschrift den Brief …

Kurze Sätze kamen, wie sie das Volk in seinen Briefen schreibt. Und nach jedem von ihnen ruhte er aus, in einer Haltung, als sei er müde geworden. Es wurde ein ungelenker kleiner Brief, ungelenk und kalt vor allem deshalb, weil ihm weder das Ziel seiner Reise noch auch Lenas Gesicht klar vor Augen waren. Er schrieb ins Leere hinein.

Seine liebende Qual war ganz vergangen, hatte weichen müssen, seitdem ihn ein dumpfer Wille vorwärts trieb. Es war, als habe Lena den Ort gewechselt und breite ihm nun, aber aus dem Nebel heraus, in fragwürdiger Gestalt, vom Reiseziel die Arme entgegen … Dieser Brief, der ihr in Worten, zu ungeschickt um anzudeuten, die Tat ankündigte, er war unnütz, Matthias schrieb ihn nur in einer Empfindung des Herkömmlichen. Hatte er nicht vor langer Zeit – vor Monaten? – wann? – in einer Fuselkneipe einen ganz ähnlichen Brief an seinen Vater geschrieben, überzeugt davon, wie heute, daß er ins Leere redete und daß seine Worte den Vater nicht erreichen konnten …

Matthias saß da vor seinem festgerammten Marmortischchen im trüb erleuchteten Saal, wie in dickem Nebel … Sorgfältig befeuchtete er die blaue Freimarke, brachte sie sorgfältig an und verschloß das Kuvert. Während er die Adresse schrieb, kam ihm ein neuer Zweifel. Hatte er denn überhaupt die Wahrheit geschrieben?

So rasch stehen die Buchstaben da … ein wenig Tinte. Aber seine Tat, die von ihm abhing, – bewies irgendetwas, daß sie geschehen würde? Niemand als er hatte hier etwas zu wollen, zu beschließen. Und Beweise gab es nicht. Freilich, er saß in dieser Nacht auf einem fremden Bahnhof, bereit, eine weite Reise fortzusetzen. Aber so Viele reisten … Türen gingen auf, Gäste erschienen, von beladenen Trägern gefolgt, Leute, die hier auf späte Nachtzüge warten wollten, ganz wie er. Unterschied er sich derart von ihnen, wie sein Brief es behauptete?

Dieser Brief da, der vor ihm lag, frankiert und mit der Adresse versehen – mochte seine Bestimmung ungewiß sein – er war noch das einzig Wirkliche und Feste. Was galt ein Entschluß, der nur im Gehirn lebte und so schwach lebte, der künstlich erhalten werden mußte! Diese Zeilen von seiner Hand, sie waren doch nun eine Sache der äußeren Welt, sie standen doch da als faßbare Zeugen seines Willens … Eine Ahnung von der ewigen Abgeschiedenheit alles Geistigen streifte Matthias.

Er hatte wirklich mit der Lust zu kämpfen, den Umschlag zu öffnen, das Geschriebene von Neuem zu überlesen. Er widerstand hauptsächlich, weil er die Postmarke nicht verloren geben mochte, der Instinkt sparsamer Bauern machte sich schüchtern Bahn in ihm. Übrigens war sein Verlangen ja lächerlich. Hatte er denn an sich selber geschrieben? Vielleicht … Gedanken mancher Art streiften mit dem Flügel seine Schläfe, machten ihn blinzeln und waren davon. Recht unberaten und verlassen saß er da in seiner Ecke.

Aber völlig dem Ungewissen preisgegeben war er ja nicht! Mit einem Lächeln und hastig nahm er aus der Innentasche seines Jacketts den Dolch und zog ihn am elfenbeinernen Griff aus der weichen, grünledernen Scheide. Nun lag die Waffe quer über dem weißen Briefumschlag und gab einen Schimmer von Gewißheit.

Was da dunkel schimmerte, war mehr als Stahl, war auch Rümelins ermahnendes Wort – ausgesprochen dort, weit da hinten in der Helle, hinter tausend dunklen Äckern. Gut war es, dachte Matthias, daß gleich einer zur Hand war, als Rümelin von einem Dolche sprach. Einen Revolver kaufte man sich beim Waffenhändler, wo aber kaufte man in der Eile einen guten Dolch …

Lächelnd blickte er auf sein Beweisstück nieder. Aber der bläuliche Schein der Klinge erlosch, denn ein Schatten fiel über den Tisch. Der Kellner stand da, beugte sich vor, flüsterte erschrocken und aufgeregt hinter der Hand und wies auf die Waffe. Zu wiederholten Malen verstand Matthias das Wort prison, ausgesprochen mit einem sehr gerollten R und einem unvollkommenen Nasallaut. Eilig schob er Leder und Stahl zusammen und verbarg sein Eigentum an der Brust. Der Kellner verbeugte sich zustimmend, wedelte mit seinem Tuche und gab das Licht frei.

Ich muß ihn sehr belohnen, sagte Matthias zu sich selbst, und er bat um die Rechnung. Offenkundig hatte Gefahr gedroht. Es war ihm, als habe er zum Stoße ausgeholt, und als sei ihm Einer in den Arm gefallen. Mit Recht freilich … denn noch war es zu früh. Aber sein Abenteuer begann.

Matthias legte Geld auf das Tischchen, und an dem tief sich Verbeugenden schritt er vorbei nach dem Ausgang. Aber mitten im Saal, unter dem großen, trübbrennenden Lüster, blieb er stehen, gehemmt.

Sein Abenteuer! Hatte er nicht von seinem Abenteuer zu sich gesprochen? Oh, aber dann stand es wirklich so, daß er nicht wußte, was zu tun er im Begriff war …

Er sollte töten! Es galt mit diesen seinen Händen ein ganzes beleidigtes und zertretenes Volk zu rächen für ungeheuere, unmenschliche Greueltaten. Er stand unter der Pforte zu einer großen Handlung! War niemand da, es ihm ins Ohr zu donnern?

Gemach aber, Schritt vor Schritt! Er konnte gleichwohl nicht rasen und um sich schlagen, nur um sich wachend, wissend zu erhalten. Schritt vor Schritt! Zunächst einmal befand er sich hier auf einem ganz alltäglichen Bahnhof und erwartete seinen Zug. Er würde sogar noch eine Stunde zu warten haben.

Dies wußte er; dennoch stellte er sich draußen, nachdem er seinen Brief losgeworden, geduldig in der verlassenen, zugigen Halle auf. Er stand und hielt seine schwere Handtasche am ledernen Griff. Spät erst fiel ihm ein, daß er sie niedersetzen könne. Mit der Sorgfalt des kleinen Mannes, der nichts verderben möchte, prüfte er erst die Steinfliesen auf ihre Reinlichkeit …

Stille herrschte. Selten zischte eine Lokomotive, die, in dem weiten Raum verloren, sinnlos hin und her zu rücken schien. Der Zeiger der großen Uhr, unter welcher Matthias durch Zufall stand, sprang von einer Minute zur andern mit einem deutlichen Knacken. Aus einer Tür in Matthias' Rücken tickte von Zeit zu Zeit ein telegraphischer Apparat. Dann wurde es lebendiger; langsam fuhr schließlich der Zug ein.

Es war ein vornehmer und sehr teurer Zug, dessen überall niedergezogene Vorhänge ihm ein abweisendes Gesicht verliehen. Männer in brauner Livree und schwarzen Handschuhen stiegen von den Plattformen. Matthias lief, die gelbe Tasche in der Hand, vor den stummen Wagen auf und ab, eingeschüchtert, aber bereit sich in ein Schicksal tragen zu lassen.

 


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