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17

Die sommerlichen Wochen, die folgten, waren gewiß die besten in Matthias' Leben. Es schien, als erfülle er zum ersten Mal den Zweck, um dessentwillen er in die Welt gekommen sei: zu dienen, mit Freude zu dienen.

Von dem Augenblick an, da sie beide im Angesicht des Meeres auf ihrer Veranda frühstückten, war Lena zu erfreuen, ihr den schönen Tag schöner zu machen, seine einzige Sorge. Nichts fehlte zu ihrer Bequemlichkeit, Matthias zeigte sich umsichtig und ergeben, wie einer jener chinesischen Diener, von denen die Reisenden erzählen. Übrigens war Lena keine verwöhnte Frau, sehr gut hätte sie sich ohne fremde Sorgfalt zurechtgefunden. Und so empfand sie viel weniger die Wohltat der ungezählten Handreichungen und kleinen Gänge, als daß sie seinen stets regen Willen selber, seine nimmermüde Aufmerksamkeit fühlte und genoß. Matthias war alles Andere als laut oder ungeschickt; dennoch war ihr vor seinen Blicken, vor seiner Bereitschaft mitunter ähnlich zu Mute, wie vor den jungen Jagdhunden, die einen toll aus Diensteifer umspringen und nicht im Stande sind, auch nur das Geringste zu vollführen.

Aber, mochte er sie zeitweilig entzücken so wie ein primitives Wesen entzückt, das hinderte nicht, daß ihre große Meinung von ihm sich erhielt, ja verstärkte. Schwieg er zumeist oder stand nur mit wenigen Worten Rede, sie wußte ihn dennoch nahe. Sie lernte vor ihm ihre Rollen, und er hörte mit Ehrerbietung zu. Sie erörterte mit ihm die Korrespondenz, vor allem jenen Teil, der ihre humanitären Bemühungen anging; sie breitete das Für und Wider vor seinem stummen schönen Antlitz aus, derart lebendig, daß sich mitunter selbst der Tonfall ihrer Stimme dramatisch spaltete.

So kam er zu mancherlei Einsichten. Die Untergründe der Großstadt, in die er während jener ersten Tage mit verschleierten Augen einen flüchtigen Blick getan hatte, wurden ihm deutlich erkennbar: er sah die Männer, roh durch überharte Kämpfe, krank durch armselige Laster; er sah die Mütter, die vor Not keine guten Mütter mehr sein konnten, und die an ihrer kranken Lunge starben; er sah die Knäuel von blassen Kindern, die hoffnungslos aufwuchsen und Hoffnungslosigkeit weiter in die Zeit trugen. Er saß stumm, und langsam arbeitete seine Phantasie, und über das einzelne Elend hinaus war es, als legte sich das Gewicht des allgemeinen Weltleidens auf seine Seele.

Später dann an manchen Abenden kam es vor, daß es ihm enge wurde in seiner schweigenden Zurückhaltung. Er sprang auf und schritt mit gewaltsam bezwungenen Gliedern, die Arme steif, die Hände geballt, in dem getäfelten Zimmer auf und ab, den Blick durch die Verandatür hinaus auf das dunkelströmende Meer geheftet, und zürnte. Warum mußte er sein, dieser Kampf aller mit allen, war es nicht natürlicher, war es nicht einfacher, das Gute zu wollen … Und wenn nicht dies, wenn es wirklich Seelen gab, deren natürliche Flutung anders war, warum befahlen sie sich nicht Freundsein und Gutsein? War es wirklich nötig, dergleichen erst von den Kanzeln zu predigen, unter Androhung von Strafen zu verlangen?

Ganz besonders wühlten Matthias die Berichte einer Vereinigung auf, der Frau Gontard angehörte, einer wohltätigen Gesellschaft, die es zur Aufgabe hatte, entlassenen Sträflingen das Weiterleben zu erleichtern. Wie, nicht genug also, daß diese elenden Geschöpfe ihre Mängel – nicht von ihnen verschuldete Mängel – hinter Mauern abzubüßen hatten, man vertrat ihnen hernach noch den Weg in die Sonne! Und wer, wer? Leute, die niemals versucht worden waren! Man mußte jeden Fabrikherrn, der solche Männer zurückwies, einmal zur Probe ein wenig einsperren, damit er es verlernte, nachträglich noch Justiz zu üben … Matthias erinnerte sich undeutlich an Gelesenes. Er verallgemeinerte …

»Weißt du denn, wie es manche Zuchthausdirektoren machen, Lena, weißt du es? Sie gönnen den armen Menschen noch nicht einmal den Raum ihrer Zelle … Wenn Einer einmal ungeduldig wird und ein Wort zu viel sagt, nur ein kleines Wort, so lassen sie über eine Ecke ein Gitter ziehen, so daß er noch ein winziges Dreieck hat, um sich zu bewegen, ja! Und damit er sich nicht setzen kann, auch nicht auf den Wasserkrug setzen, so geben sie ihm einen, der oben am Rande mit spitzigen Stacheln besetzt ist …«

Gerade auf dieses Bild kam Matthias oft zurück, es schien ihn zu verfolgen. Dabei ging ihn das Leiden der Gefangenen nicht weiter an, nie hatte er mit Bewußtsein einen Verbrecher gesehen. Aber nach dieser Richtung, nach der Seite der Empörung über das Grausame und Böse flossen die Wellen seines Herzens, und jeder Sturm, der sie stärker dorthin peitschte, war ihm recht. Er vermochte Tränen zu vergießen über das Los, welches vor zweihundert oder dreihundert Jahren die Wahnsinnigen in den Narrentürmen zu erdulden hatten; er weinte über diese Armen, die vielleicht nicht unglücklicher waren, als ihre Brüder es heute sind, und die mit ihren zerrissenen Gedanken alle seit so langer Zeit schon schlafen.

Frau Gontard war weit davon entfernt, solche übrigens nicht häufige Ergießungen ohne Maß zu mißbilligen. Für sie war der junge schöne Freund, war das ursprüngliche und reine Menschentum, das sich hier empörte, ein hohes, edles Schauspiel. Mehr als ein Schauspiel. Ihre zusammengesetzte Seele, in der zu allen Augenblicken jeder Vorgang beaufsichtigt wurde – sie war willig, in diesen Strudel wie in ein heilendes Bad zu tauchen. Frau Gontard sah das Gesicht der Duse vor sich, dies bleiche Gesicht, in dem sich mehr als ein persönliches, in dem sich das Leiden der ganzen Welt auszudrücken schien. Ja, je tiefer und unbedingter Einer zu leiden vermochte, desto näher war er daran, ein wahrhafter Künstler zu sein … Die Meinung befestigte sich in ihr, daß in Matthias etwas Heiliges und Heiligendes sei, und Augenblicke kamen, da sie ihn nicht mehr zärtlich nur und dankbar, sondern mit Inbrunst anblickte.

Nur als ein äußeres Zeichen galt es ihr noch, daß er so schön war. Er war, in all seiner Jugend und Naivität, ein Führer, der sie zur Wirklichkeit führen konnte. Hoffnungen erstanden. Von diesem ungehemmten und starken Strom hieß es sich treiben lassen, und sie, die von Anbeginn Schiffbrüchige, würde dereinst Boden unter ihren Füßen fühlen …

Jene, die einzig der Ehrgeiz leitet, werden die höchsten Ziele eines Ehrgeizes doch niemals erreichen. Es galt, gut zu werden, ganz wahrhaft gut, und damit vielleicht auch eine Künstlerin, die mit Recht eine Welt bezwänge. Gab es nicht bisher eine Stelle in ihrem Herzen, wo ihr alle die Gequälten und Unglücklichen, für die sie sich einsetzte, recht gleichgültig waren? Diese Stelle gab es. Bei den entlassenen Strafgefangenen wie bei den Arbeiterfrauen, bei den streikenden Bergleuten wie bei den armen Kindern, die in den Kellern des Großstadtnordens froren und hungerten. Sie gestand sich einmal – aber dies mußte und dies würde sich nun ändern – daß ihr in Wahrheit nur die Leiden einer einzigen Menschenart ganz nahe gingen: die ihrer Glaubensgefährten, ihrer Rassegenossen. Ja, der Schmerz, den sie bei gewissen, oft so fürchterlichen Berichten aus Rumänien, aus Südrußland empfand, der war wirklicher Schmerz, und um hier zu helfen, um hier vom Druck einer böswilligen Regierung, eines dumpfen oder wilden Wirtsvolkes zu erlösen, dafür hätte sie Blut und Fleisch wohl hingeben mögen. Aber sie wußte, daß es daran nicht genug sei. Sie wußte, daß sie hier, um ein Weniges sich erweiternd, nur sich selber liebte, für sich selber Blut und Fleisch hinzugeben bereit war. Wie für Jene, so galt es für Alle zu empfinden. Mochte Matthias immerhin schwärmen, mochte er unweise, unwissend brennen, – an der Flamme, die aus seinen Augen und aus seinen stammelnden Worten schlug, sollte ihre eigene Klugheit und letzte Umwallung schmelzen.

Wohl war es damals eine Art von Liebe, was sie für diesen Knaben empfand.

 


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