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Fieberhaft eifrig machte sich Matthias zu eigen, was in den Zeitungen über die russischen Ereignisse berichtet wurde. Er hielt es zu solchem Zwecke sogar in den Kaffeehäusern aus, die ihm mit ihrer verdorbenen Luft und ihrer elenden Musik sonst verhaßt waren. Aber die Berichte schienen ihm ungenügend, sie waren ihm zu knapp, zu allgemein, zu politisch. Erschütternde, ja grauenhafte Einzelheiten wären ihm recht gewesen, die ihm das Mitleid und den Zorn in stärkeren Fluten zugeführt hätten. Doch was er so von den Szenen des Entsetzens erfuhr, die sich dort, in den Dörfern besonders des einen südrussischen Gouvernements abspielten, auch dies Wenige genügte, um sein Blut in Bewegung zu halten.
Auch er litt nun. Und gern hätte er in seiner Einsamkeit Kasteiung und Marter auf sich genommen, um denen dort zu helfen. Aber er war zu erwachsen, um an jenen einstigen Entbehrungen noch sein Genügen zu haben, ja er schämte sich, daß er früher einmal so töricht gewesen war zu glauben, es sei fruchtbares Märtyrerwerk, spärlich zu essen und rauh zu schlafen.
Es war wenig gewesen, nichts … Aber war es wirklich besser, völlig untätig in einem hübschen, weißmöblierten Pensionszimmer zu sitzen, zwischen der elektrischen Tischlampe, dem Nickelhahn für warmes Wasser und der Glocke für die Dienerschaft … Matthias besaß wenig ironisches Vermögen, aber er besaß die Fähigkeit zur Zerknirschung, und wilder Zerknirschung gab er sich hin.
Nicht immer freilich, nicht völlig war er ohne Trost und Licht. Es genügt, daß einer leidet, so vermochte er in gewissen Augenblicken zu denken – ja, dies genügt. Wenn wirklich der Schmerz, wenn Scham und Mitleid lebendig und heiß durch ein Herz fließen und es ganz erfüllen, dann ist's nicht weniger als hätten sie dies Herz zu Taten oder zu körperlichen Qualen geführt. Alle Märtyrer waren im Irrtum, sie waren Narren, oder sie waren halbwahr und halbgläubig und mußten sich vor sich selber beweisen. Jawohl, es genügt wirklich, wenn einer, gleich mir, auf einem hübsch weißlackierten Rohrstuhl in seinem Zimmer sitzt und ein so maßloses Weh empfindet …
Aber dies ging rasch vorbei wie ein Augenblinken, und sogleich wußte er nichts mehr davon.
Eigentümlich hatte sich in Lenas Hause seine äußere Stellung verändert. Die Besucher empfanden, ohne sich wohl Rechenschaft davon abzulegen, daß jetzt ein gleichgültig Geduldeter zwischen ihnen saß. Solange Frau Gontard ihn geliebt hatte, war ihr Ansehen mächtig genug gewesen, um Matthias einen Halt zu bieten; von ihm aus brauchte es nichts dazu. Nun war er eine losgelassene Marionette, die hinstürzt. Keinem fiel es mehr ein, sich im Gespräch auch einmal zu diesem stummen jungen Menschen hinzuwenden. Mit genauer Not reichte man ihm die Hand, abgekehrten Gesichts sogar, wenn es sich just ergab.
Dies kränkte ihn nicht, kaum daß er es bemerkte. Ja, als eines Tags der schöne Ernesty die Unachtung so weit trieb, ihm zu sagen: »Ach mein Bester, gehen Sie doch einmal hinaus an meinen Überrock, mit Seal-Otterkragen der, ich habe mein Cigarrenetui vergessen,« stand er mechanisch auf, um den Befehl auszuführen. Und erst unter der Zimmertür kam ihm der Gedanke, daß diese Aufforderung in ihrem Hause eine Ungezogenheit Lena gegenüber bedeute; sich selbst zog er nicht in Rechnung. Er schloß die Türe wieder, ging zurück und setzte sich mit nachdenklichem Gesicht auf seinen Stuhl.
Kein Zweifel, daß ihm wenige Wochen zuvor ein solch schiefer Zustand noch unerträglich gewesen wäre. Tag um Tag wiederholten sich ja, nur weit realer, die Peinlichkeiten jener Teestunde dort überm Meer. Aber er war inzwischen in eine Tiefe des Leids und der Selbstmißachtung hinabgeglitten, wo sein Herz der äußeren Anlässe entraten konnte … So spürte er in seiner Qual nicht Nadelstich noch Schlag.
Hätte er aber auch jeden gespürt, es würde ihn nicht gehindert haben, sich mehr als zuvor unter Frau Gontards Gästen zu zeigen. Denn es waren die russischen Geschehnisse, von denen hier, ausschließlich beinahe, geredet ward, und er vernahm Deutlicheres als aus den Zeitungen.
Er lauschte mit ganzer Seele, heißen Willens sich zu empören, nicht allein weil er dunkel wußte, in solcher Empörung liege eine Rechtfertigung seines mißführten Lebens: darum besonders, weil hier der Weg zu führen schien, auf dem er sich Lena wieder annähern könnte …
Immer tauchte in den Gesprächen, denen er beiwohnte, der Name des »Generals« auf, der Name des Gouverneurs jener Provinz – als der des letzten Urhebers aller Greuel. Als der eines Elenden, der auch in den Jahren des Mißwachses, der Teuerung, von seiner erpresserischen Strenge nicht abließ; der, wenn sich die arme, dumpfe, mißhandelte Bevölkerung aufzulehnen drohte, ihren Zorn nicht besänftigte, sondern zu bestialischer Wut anfachen ließ – mit der Zielrichtung auf Jene, die sich nicht wehren durften, die nicht viel mehr galten als rechtloses Vieh, die zu verfolgen, die auszutilgen noch ein frommes Werk war, die zu schädigen und zu morden noch reiche Beute eintrug: die Juden.
»Es wird niemals besser werden,« wurde wieder und wieder gesagt, »solange der dort ist – Kiprjanoff.«
»So Gott will,« sprach wohl ein Anderer dagegen, »wird er bald Flügeladjutant beim Zaren oder Hausminister …«
Unter denen, die sich so vernehmen ließen, waren Leute, die niemals zuvor hier gesehen worden waren, und bei ihren nachmittäglichen Zusammenkünften handelte es sich um helfende Taten: um eine Kollekte, eine Versammlung, um einen Vortrag, ein Konzert …
Jener Doktor Straßburger fand sich des Öftern ein, der damals Frau Gontard die erste Nachricht überbracht hatte, ein dünner, nervöser Gelehrter; irgendwelche ausgestorbenen oder aussterbenden Sprachen waren seine Sache. Leider wurde er leicht verlegen, überhastete sich dann, geriet sogar ins Stottern und war alles in allem kein gemütlicher Zimmergenosse. Aber Matthias sah hinter den Brillengläsern die milden und tiefen Augen und wußte, was er zu denken hatte. Es wurde ihm von Doktor Straßburger keineswegs mehr Beachtung zuteil als von den Anderen.
Am nachdenklichsten stimmten Matthias einige bleiche, stets in Schwarz gekleidete Männer, die aus jenen bedrohten Strichen selbst herstammten. Sie hatten sich vor Jahren miteinander in die deutsche Hauptstadt geflüchtet und brachten nun hier, der Mehrzahl nach in irgendeiner rituellen Beschäftigung, ihr Leben hin. Einige von ihnen trugen Bärte, einige aber erschienen stets frisch rasiert bei Frau Gontard, mit eigentümlich verwundeten Wangen: an ihren Leib durfte kein Messer kommen, und so ließen sie, was die Schere nicht fortnahm, durch rauhen Bimsstein entfernen. Diese Männer erzählten höchst leidenschaftlich, mit gewaltigem Aufwand an Gesten, in gedehnten und weichen Nasallauten. Ohrenbetäubend war es, wenn sich mehrere von ihnen gleichzeitig einfanden; denn leicht gerieten sie ins Streiten, vergaßen ganz die Umgebung und hielten sich, ohne aufhören zu können, in wehleidigen oder auftrumpfenden, übrigens unverständlichen Worten ihre Irrtümer vor. Doch auch vor ihnen spürte Matthias, daß man sie lieben dürfe.
Mit Unlust sah er, wie sich zu diesen armen Hergewanderten manche der gesicherten, wohlhabenden Helfer verhielten. Hauptsächlich einigen Damen, die stets ein wenig zu laut, zu familiär und zu elegant erschienen, war er abgeneigt. Er sah spöttische Blicke des Einverständnisses hin und her gehen, Blicke, die vor Jenen eine Kluft aufrissen: mit euch haben wir nichts zu tun, bedeutete das gewiß, obwohl wir euch in Gottes Namen beistehen wollen … Aber Matthias irrte, er glaubte boshafte Kälte zu sehen, dort, wo nichts war als weiberhafte Aufgeblasenheit.
Rümelin erschien selten in diesen Wochen; es zeigte sich, daß er als Einziger sein Betragen gegen Matthias nicht verändert hatte. Er behandelte ihn wie in jener ersten Zeit völlig als Gleichstehenden, mit einer redlichen Höflichkeit, die umso eindrucksvoller war, als sie kein Lächeln hatte.
Aber nicht daran wuchs Matthias' Verehrung, sondern angesichts der gütigen und vornehmen Art, die er Rümelin den bleichen, sonderbaren Gästen gegenüber bewahren sah, jenen nicht unmittelbar sympathischen, überlebhaften und ungepflegten Angehörigen des zurückgebliebenen Teils einer Rasse, die ihm fremd war. Er hatte für eine festliche Veranstaltung sein Mitwirken verheißen, die man zu Gunsten der Verfolgten plante: ohne Entgelt würde er eine Stunde lang sich vom Vortragspulte hören lassen, und bei dem Zauber, den sein Name ausübte, bedeutete dies einen Gewinn von Tausenden.
Wenige Tage fehlten. Rümelin war gekommen, um noch einiges Äußere zu bereden; vielleicht weil er eine allzu zahlreiche Gesellschaft vorfand, verweilte er nur kurz. Er verabschiedete sich von Frau Gontard, dann trat er zu Matthias und bot ihm die kühle und feste Hand, und Matthias fühlte, daß er sich von dieser Hand, ja vom ersten Wort eines solchen Mannes, zu jedem Tun getrost würde führen lassen. Er empfand eine schmerzliche Ehrfurcht, die ihn daran hinderte, zu Rümelin aufzusehen; und um seinen Blick zu vermeiden, verneigte er sich tief.