Anatole France
Thais
Anatole France

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Viertes Kapitel.

Nahe daran, vor Hunger, Durst und Entkräftung zu sterben und im Ungewissen, ob ihm Gott noch immer 205 fern sei, entdeckte Paphnucius auf seinem Wege eine stumme Stadt, die sich nach rechts und links ausdehnte und sich im Purpur des Horizontes verlor. Die in großen Abständen voneinander und nach einem Muster erbauten Häuser glichen in halber Höhe durchschnittenen Pyramiden. Es waren Gräber. Ihre Türen waren ausgebrochen und im Schatten der Säle sah man die Augen von Hyänen und Wölfen leuchten, welche hier ihre Jungen nährten, während von den Räubern geplünderte und von den Tieren angefressene Leichen auf der Schwelle lagen. Nachdem Paphnucius diese Gräberstadt durchschritten, fiel er gänzlich ermattet vor einem Grabmal nieder, das sich fern den andern an einer von Palmen umgebenen Quelle erhob. Dieses Grabmal war reich geziert, und da die Türe fehlte, sah man von außen in eine bemalte Kammer hinein, wo Schlangen nisteten.

»Das soll«, so seufzte er, »meine auserwählte Stätte, das Allerheiligste meiner Reue und Buße sein.«

Er schlich sich hinein, verjagte mit Fußtritten die Reptilien und blieb achtzehn Stunden lang auf dem Fußboden niedergebeugt. Hierauf ging er zur Quelle, um aus der hohlen Hand zu trinken, und pflückte Datteln und einige Lotusschoten, deren Körner er aß. Da er diese Art zu leben für gut hielt, machte er sie sich zur Regel. Vom Morgen bis zum Abend erhob er nicht einmal seine Stirne vom steinernen Boden.

Als er eines Tages in dieser Weise dalag, hörte er eine Stimme sagen:

»Sieh diese Bilder an, um dich zu unterrichten!«

206 Nachdem er das Haupt erhoben, erblickte er an den Wänden der Grabkammer Malereien, welche anmutige Szenen aus dem täglichen Leben darstellten. Es war eine sehr alte Arbeit von wunderbarer Genauigkeit. Man sah da Köche, welche ins Feuer bliesen, so daß ihre Wangen stark aufgetrieben waren. Andere rupften Gänse oder ließen große Stücke Schaffleisch in Kesseln kochen. In einem andern Bilde brachte ein Jäger auf seinen Schultern eine pfeildurchbohrte Gazelle nach Hause. Hier waren Bauern mit der Aussaat, dem Mähen, der Ernte beschäftigt. Dort tanzten Frauen unter dem Klang der Violen, Flöten und Harfen. Ein junges Mädchen spielte auf der Theorbe. Die Lotosblume glänzte in ihrem feingeflochtenen, schwarzen Haar, und ihr durchsichtiges Kleid ließ die reinen Formen ihres Körpers erkennen. Ihre Brust und ihr Mund waren Blumenknospen vergleichbar. Ihr schönes Auge sah man von vorn, obschon ihr Gesicht im Profil stand. Ihre Gestalt war reizend. Nachdem Paphnucius sie betrachtet hatte, schlug er die Augen nieder und antwortete der Stimme:

»Warum befiehlst du mir, diese Bilder zu betrachten? Sie stellen ohne Zweifel das Erdenleben des Götzendieners dar, dessen Körper hier unter meinen Füßen von einem schwarzen Basaltsarg umschlossen auf dem Boden eines Schachtes ruht. Sie rufen das Leben eines Toten in Erinnerung und sind trotz ihrer lebhaften Farben die Schatten eines Schatten. Das Leben eines Toten! O eitler Tand! . . .«

»Er ist tot, aber er hat gelebt,« fuhr die Stimme 207 fort, »und du, du wirst sterben und wirst nicht gelebt haben.«

Von diesem Tage an fand Paphnucius keinen Augenblick der Ruhe mehr. Die Stimme sprach ohne Unterlaß zu ihm. Die Theorbenspielerin starrte ihn mit ihrem langbewimperten Auge an. Auch sie begann zu sprechen:

»Siehe, ich bin geheimnisvoll und schön. Liebe mich! Befriedige in meinen Armen den Liebesdurst, der dich quält! Was hilft es dir, dich vor mir zu fürchten? Du kannst mir nicht entrinnen. Ich bin die Schönheit des Weibes. Wohin willst du vor mir fliehen, o Tor? Du wirst mein Bild im Glanze der Blumen und in der Anmut der Palmen, im Fluge der Tauben, im Sprung der Gazellen, in des Baches Wellen, im weichen Lichte des Mondes, und, wenn du die Augen schließest, in dir selbst wiederfinden. Tausend Jahre sind es her, daß der Mann, der hier in Streifen eingebunden in einem schwarzen Steinbette schläft, mich an sein Herz gedrückt hat. Tausend Jahre sind es her, daß er den letzten Kuß meines Mundes empfangen hat, und noch jetzt wird sein Schlummer von ihm durchduftet. Du kennst mich wohl, Paphnucius. Warum hast du mich nicht sogleich wiedererkannt? Ich bin eine der zahlreichen Verkörperungen der Thaïs. Du bist ein gelehrter, in der Kenntnis der Dinge weit vorgedrungener Mönch. Du bist gereist, und auf Reisen lernt man am meisten. Oft bringt ein Tag, den man draußen verlebt, mehr Neues, als zehn Jahre, während deren man zu Hause bleibt. Du hast nun bereits gehört, daß 208 Thaïs ehemals unter dem Namen Helena in Argos gelebt hat. Im hunderttorigen Theben hatte sie eine zweite Existenz. Und Thaïs von Theben, das war ich. Wie hast du das nicht gleich erraten? Ich habe im Leben mein gutes Teil der Sünden der Welt auf mich genommen und auch heute noch, da ich nur noch als Schatten lebe, bin ich sehr wohl fähig, deine Sünden auf mich zu nehmen, geliebter Mönch. Weshalb wunderst du dich? Es war ja doch gewiß, daß du überall, wohin du gehen würdest, Thaïs wiederfinden solltest.«

Er warf sich mit der Stirne auf die Steinplatte und schrie vor Entsetzen. Und jede Nacht löste sich die Theorbenspielerin von der Wand ab, nahte sich ihm und redete mit heller, von frischem Hauch durchwehter Stimme. Und da der heilige Mann den Versuchungen, denen sie ihn aussetzte, widerstand, sagte sie zu ihm:

»Liebe mich! Gib nach, mein Freund! Solange du widerstehst, werde ich dich quälen. Du weißt nicht, wie groß die Beharrlichkeit einer Toten ist. Ich werde, wenn es nötig ist, deinen Tod abwarten. Da ich Magierin bin, werde ich deinem leblosen Körper einen Geist einhauchen können, der ihn aufs neue belebt und mir das nicht verweigern wird, was ich nun von dir vergeblich verlange. Denke, Paphnucius, an die Eigentümlichkeit deiner Lage, wenn deine erlöste Seele vom Himmel herab ihren eigenen Körper sich der Sünde überliefern sehen wird! Gott, der versprochen hat, dir diesen Körper nach dem letzten Gericht und der Erfüllung der Zeiten zurückzugeben, würde dann selbst in 209 großer Verlegenheit sein. Wie kann er eine Menschengestalt, die vom Teufel bewohnt und von einer Hexe behütet wird, in die himmlische Glorie einführen? Du hast nicht an diese Schwierigkeit gedacht. Gott vielleicht auch nicht. Er ist, unter uns gesagt, nicht sehr schlau. Die erste beste Magierin täuscht ihn ohne Mühe, und hätte er weder den Donner noch die Wassergüsse des Himmels, so würden ihn die kleinen Bauernbuben am Bart zupfen. Er hat sicher nicht soviel Witz wie die alte Schlange, seine Gegnerin. Sie ist eine seltene Künstlerin. Ich bin nur deshalb schön, weil sie selbst mich geschmückt hat. Sie hat mich gelehrt, meine Haare zu flechten und mir rosige Finger und achatfarbene Nägel zu machen. Du hast sie zu sehr verkannt. Als du deinen Wohnsitz in diesem Grabmal aufschlugest, hast du die darin wohnenden Schlangen mit Fußtritten verjagt, ohne dich darum zu kümmern, ob sie vielleicht zu der Familie der alten Schlange gehörten, und du hast ihre Eier zerdrückt. Ich fürchte, armer Freund, du bist da in eine schlimme Patsche geraten. Man hatte dir doch im voraus gesagt, daß sie sich auf Musik und Liebeskünste verstehe. Was hast du getan? Du bist nun mit der Wissenschaft und der Schönheit verfeindet. Du bist vollständig elend und Jahve kommt dir nicht zu Hilfe. Es ist auch wenig wahrscheinlich, daß er es je tun wird. Da er so groß wie das All ist, kann er sich aus Raummangel nicht rühren, und wenn er, so unmöglich es ist, trotzdem eine Bewegung machte, würde die ganze Schöpfung zerschellen. Mein schöner Einsiedler, gib mir einen Kuß!«

210 Paphnucius kannte wohl die durch magische Künste hervorgebrachten Wunder. In seiner großen Unruhe sagte er sich:

›Vielleicht weiß der unter meinen Füßen begrabene Tote die in dem nicht fern von hier in einem Königsgrabe verborgenen Geheimbuche geschriebenen Worte. Kraft der Kenntnis dieser Worte nehmen die Toten die Formen des Lebens wieder an und sehen das Sonnenlicht und das Lächeln der Frauen.‹

Was er fürchtete, war, daß die Theorbenspielerin und der Tote sich, wie zu ihren Lebzeiten, vereinigen könnten und er sehen müßte, wie sie sich umarmten. Er glaubte bisweilen das leise Geräusch von Küssen zu vernehmen.

Er wurde nun ganz und gar verwirrt; von Gott verlassen, fürchtete er sich ebensosehr vor seinen Gedanken wie vor seinen Gefühlen. Als er eines Abends nach seiner Gewohnheit mit der Stirne auf dem Boden lag, sagte zu ihm eine unbekannte Stimme:

»Paphnucius, es gibt auf der Erde mehr Völker, als du meinst, und wenn ich dir zeigte, was ich gesehen, würdest du vor Entsetzen sterben. Es gibt Menschen, die auf der Stirn ein einziges Auge haben. Es gibt Menschen, die nur ein Bein haben und sich hüpfend fortbewegen. Es gibt Menschen, die ihr Geschlecht wechseln und aus Männern Frauen werden. Es gibt Baummenschen, die Wurzeln in die Erde treiben. Und es gibt Menschen ohne Kopf, die auf der Brust zwei Augen, eine Nase und einen Mund tragen. Glaubst du aufrichtig, daß Jesus Christus für das Heil dieser Menschen gestorben sei?«

211 Ein anderes Mal hatte er ein Gesicht. Er sah in hellem Licht eine breite Straße, Bäche und Gärten. Auf der Straße galoppierten Aristobulus und Chäreas auf ihren syrischen Pferden, und die freudige Erregung des Rittes rötete den beiden jungen Männern die Wangen. Unter einer Säulenhalle deklamierte Kallikrates Verse. Befriedigter Stolz zitterte in seiner Stimme und schimmerte in seinen Augen. Im Garten pflückte Zenothemis goldene Äpfel und liebkoste eine Schlange mit himmelblauen Flügeln. In weißem Gewand und mit einer funkelnden Stirnbinde auf dem Haupte saß Hermodorus sinnend unter einer heiligen Persea. Dieser Baum trug statt der Blumen kleine Köpfe reinen Profils, welche, wie die der altägyptischen Göttinnen, mit Geiern oder Sperbern oder mit einer glänzenden Mondscheibe geschmückt waren. Nikias studierte an einer Himmelskugel die harmonische Bewegung der Gestirne.

Dann nahte sich dem Mönch eine verschleierte Frau mit einem Myrtenzweige in der Hand und sagte zu ihm:

»Siehe, die einen suchen die ewige Schönheit und bringen so die Unendlichkeit in ihr kurzes Dasein. Die anderen leben ohne hohe Gedanken. Aber schon dadurch, daß sie sich der schönen Natur hingeben, sind sie glücklich und schön und, indem sie ihr Leben einfach dahingleiten lassen, geben sie dem höchsten Schöpfer der Dinge seine Ehre. Denn der Mensch ist ein schöner Hymnus Gottes. Sie denken alle, daß das Glück unschuldig und die Freude erlaubt sei. Paphnucius, wenn sie nun doch recht hätten, was für ein blöder Tor wärest du!«

212 Und das Gesicht verschwand.

So wurde Paphnucius ohne Unterlaß körperlich und geistig heimgesucht. Satan ließ ihm keinen Augenblick Ruhe. Dieses verlassene Grabmal war stärker bevölkert als der Marktplatz einer großen Stadt. Die Dämonen ließen schallendes Hohngelächter hören, und Millionen von Larven, Empusen und Lemuren vollbrachten hier scheinbar alle Arbeiten des Lebens. Wenn er abends zur Quelle ging, tanzten Satyrn und Fauninnen in bunter Reihe um ihn her und zogen ihn in ihren unkeuschen Tanz. Die Dämonen fürchteten ihn nicht mehr. Sie überhäuften ihn mit Spöttereien, unzüchtigen Schimpfworten und Schlägen. Eines Tages raubte ihm ein Teufel, der nicht größer war als sein Arm, den Strick, womit er seine Lenden gürtete.

Er dachte bei sich:

»Gedanke, wohin hast du mich geführt?«

Und er beschloß, mit seinen Händen zu arbeiten, um seinem Geiste die Ruhe zu verschaffen, deren er bedurfte. Bei der Quelle wuchsen breitblättrige Bananenbüsche unter dem Schatten der Palmen. Er schnitt einige Stengel ab und trug sie in das Grabmal. Dort hechelte er sie unter einem Stein, bis sie in Fasern zerfielen, wie er das bei den Seildrehern gesehen hatte. Denn er hatte sich vorgenommen, sich an Stelle des vom Teufel gestohlenen Stricks einen neuen zu verfertigen. Die Dämonen fanden daran wenig Gefallen. Sie hörten mit ihrem tollen Treiben auf, und selbst die Theorbenspielerin verzichtete auf ihre Magie und blieb ruhig an ihrer bemalten Mauer. Indem Paphnucius die 213 Bananenstengel hechelte, stärkte er seinen Mut und seinen Glauben.

›Mit der Hilfe des Himmels,‹ so sagte er sich, ›werde ich das Fleisch bezähmen. Was die Seele betrifft, so hat sie die Hoffnung immer bewahrt. Vergebens möchten die Teufel und diese verdammte Hexe mir Zweifel über das Wesen Gottes einflößen. Ich werde ihnen mit den Worten des Apostels Johannes antworten: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war Gott." Daran glaube ich fest, und wenn das, was ich glaube, widersinnig ist, so glaube ich um so fester daran. Ja, noch besser gesagt, es muß widersinnig sein, sonst würde ich es nicht glauben, sondern wissen. Was man weiß, gibt einem jedoch das Leben nicht, der Glaube allein macht selig.‹

Er setzte die gelösten Fasern der Sonne und dem Morgentau aus und wendete sie jeden Tag sorgfältig um, damit sie nicht faulten. Mit Freude fühlte er dabei, daß die Einfalt der Kindheit wieder in ihm erwachte. Nachdem er seinen Strick gedreht hatte, schnitt er Schilf, um Decken und Körbe zu flechten. Die Totenkammer glich der Werkstatt eines Korbflechters, und Paphnucius fand leicht den Übergang von der Arbeit zum Gebet. Aber Gott war ihm noch immer ungnädig, denn eines Nachts wurde er von einer Stimme geweckt, die ihn vor Schrecken erstarren ließ. Er erriet ihre Herkunft. Es war die des Toten. Die Stimme ließ einen kurzen Zuruf in leichtem Geflüster hören:

»Helena, Helena, komm, bade dich mit mir! Komm schnell!«

214 Eine Frau, deren Mund das Ohr des Mönches streifte, antwortete:

»Mein Freund, ich kann mich nicht erheben: ein Mann liegt auf mir.

Plötzlich merkte Paphnucius, daß seine Wange auf der Brust einer Frau ruhte. Er erkannte die Theorbenspielerin, die, zur Hälfte befreit, ihre Brust hob. Da umarmte er voll Verzweiflung den blühenden balsamischen Körper und schrie, von Sehnsucht nach der Verdammnis ergriffen:

»Bleibe, bleib, mein Himmel!«

Aber sie stand bereits auf der Schwelle, und die Mondesstrahlen versilberten ihr Lachen.

»Warum sollte ich bleiben?« sagte sie. »Der Schatten eines Schatten genügt einem Liebhaber von so lebhafter Einbildungskraft. Du hast übrigens bereits gesündigt. Was bedarfst du mehr?«

Paphnucius weinte in die Nacht hinaus, und als der Morgen kam, flüsterte er ein Gebet in sanftem Klageton:

›Jesus, mein Jesus, warum verläßt du mich? Du siehst, in welcher Gefahr ich schwebe. Komm, hilf mir, süßer Heiland! Da dein Vater mich nicht mehr liebt, mich nicht mehr erhört, bedenke, daß ich nur noch dich habe. Zwischen ihm und mir ist kein Verkehr möglich; ich kann ihn nicht verstehen, und er kann mich nicht bedauern. Aber du, du bist von einem Weibe geboren, und darum baue ich auf dich. Erinnere dich, daß du Mensch warst! Ich flehe dich an, nicht weil du Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott von wahrem Gotte 215 bist, sondern weil du arm und schwach auf dieser Erde lebtest, wo ich leide, weil Satan dein Fleisch versuchen wollte, weil der Schweiß des Todeskampfes deine Stirne netzte. Dein Menschentum bete ich an, mein Jesus, mein Bruder Jesus!‹

Nachdem er händeringend also gebetet, erschütterte ein furchtbares Gelächter die Wände des Grabmals und die Stimme, die auch auf der Spitze der Säule erklungen war, sprach höhnend:

»Dieses Gebet ist des Breviers des Ketzers Marcus würdig. Paphnucius ist Arianer geworden! Paphnucius ist Arianer!«

Wie vom Blitze getroffen, sank der Mönch bewußtlos zu Boden.



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