Anatole France
Thais
Anatole France

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Zweites Kapitel.

Als Thaïs eines Tages härter als gewöhnlich von ihrer Mutter geschlagen worden war und in trotziger Unbeweglichkeit vor der Haustüre kauerte, blieb eine alte Frau vor ihr stehen, betrachtete sie schweigend eine Zeitlang und rief dann aus:

»O die holde Blüte, o das schöne Kind! Glücklich der Vater, der dich gezeugt, und die Mutter, die dich geboren hat!«

Thaïs blieb stumm und senkte ihre Blicke zu Boden. Ihre Augenlider waren gerötet. Man sah, daß sie geweint hatte.

»Mein weißes Veilchen,« fuhr die Alte fort, »ist deine Mutter nicht glücklich, eine kleine Göttin, wie dich, genährt zu haben, und freut sich dein Vater nicht von ganzem Herzen bei deinem Anblick?«

Darauf antwortete das Kind, wie zu sich selbst sprechend:

»Mein Vater ist ein gefüllter Weinschlauch und meine Mutter ein hungriger Blutegel.«

78 Die Alte blickte nach rechts und links, ob man sie sehe. Dann sagte sie mit schmeichlerischer Stimme:

»Süße Hyazinthenblüte, herrliches Götterkind, komm mit mir und du wirst nur zu tanzen und zu lächeln brauchen, um fröhlich zu leben. Ich werde dich mit Honigkuchen nähren, und mein Sohn, mein eigener Sohn, wird dich wie seinen Augapfel lieben. Mein Sohn ist schön, er ist jung, und hat am Kinn nur einen leichten Bart. Seine Haut ist zart und er ist, wie man sagt, ein Milchschweinchen von Acharne.«

Thaïs antwortete:

»Ich will mit dir gehen.«

Und sie erhob sich und folgte der Alten zur Stadt hinaus.

Diese Frau hieß Möroë. Sie führte junge Mädchen und junge Knaben, die sie im Tanzen unterrichtete und dann den Reichen zum Auftreten bei Gastmählern vermietete, von Land zu Lande.

Da sie voraussah, daß Thaïs bald zur schönsten der Frauen werden würde, brachte sie ihr mit Rutenhieben die Musik und das Versmaß bei und bearbeitete ihre göttlichen Beine mit Lederriemen, wenn sie sich beim Klange der Kithara nicht im Takte hoben und senkten.

Ihr Sohn, eine elende Mißgeburt ohne Alter noch Geschlecht, mißhandelte das Kind, in welchem er das ganze weibliche Geschlecht mit seinem Hasse verfolgte, soviel er konnte. Als Nebenbuhler der Tänzerinnen, deren Grazie er nacheiferte, lehrte er Thaïs die Kunst, in den Pantomimen durch den Gesichtsausdruck und 79 Haltung und Bewegung des Körpers alle menschlichen Gefühle und besonders leidenschaftliche Liebe zu heucheln. Er gab ihr mit Abscheu die Ratschläge eines geschickten Lehrers. Aber aus Eifersucht auf seine Schülerin zerkratzte er ihr die Wangen, kniff sie in den Arm oder stach sie nach der Art boshafter Mädchen von hinten mit Stecknadeln, sobald er zu lebhaft empfand, daß sie für die Wollust der Männer geboren war. Dank seinem Unterricht wurde sie in kurzer Zeit eine vorzügliche Musikantin, Mimin und Tänzerin. Die Bosheit ihrer Lehrer überraschte sie nicht. Die unwürdige Behandlung erschien ihr als etwas ganz Natürliches. Sie empfand sogar eine gewisse Achtung für die Alte, weil sie musikkundig war und griechischen Wein trank. – In Antiochia, wo sie Aufenthalt genommen, fing Möroë zuerst an, ihre Schülerin als Flötenspielerin und Tänzerin den reichen Kaufleuten der Stadt zu vermieten, wenn sie Feste gaben. Thaïs tanzte und gefiel. Die reichsten Bankiers führten sie nach der Tafel mit sich in die Gebüsche am Orontes und sie gab sich ihnen preis, ohne zu wissen, was Liebe sei. Als sie aber eines nachts vor den vornehmsten jungen Leuten der Stadt getanzt hatte, näherte sich ihr, im Glanze der Jugend und voll glühenden Verlangens, der Sohn des Prokonsuls und sprach zu ihr mit einer Stimme, die von Küssen feucht zu sein schien:

»O daß ich doch der Kranz wäre, der dein Haar schmückt, Thaïs, das Gewand, das deinen reizenden Körper einschließt, die Sandale, die deinen Fuß schützt! Ich will aber, daß du mich, wie eine Sandale, mit 80 Füßen tretest. Ich will, daß meine Liebkosungen dein Gewand und dein Kranz seien. Komm, schönes Kind, komm in mein Haus und vergessen wir die Welt!«

Sie sah ihn an, während er sprach, und erkannte, daß er schön war. Plötzlich aber fühlte sie kalten Schweiß auf der Stirne, sie erbleichte und schwankte, eine Wolke lagerte sich auf ihre Augenlider. Er bat sie nach einmal, aber sie weigerte sich, ihm zu folgen. Umsonst warf er ihr glühende Blicke zu und sprach leidenschaftliche Worte; als er sie in die Arme nehmen und mit sich fortziehen wollte, stieß sie ihn hart zurück. Er verlegte sich hierauf aufs Flehen und ließ sie seine Tränen sehen. Aber von einer neuen, unbekannten und unbesiegbaren Kraft besessen, leistete sie Widerstand.

»Welche Torheit!« sagten die Gäste. »Lollius ist vornehmen Geschlechts, schön und reich und nun verschmäht ihn eine Flötenspielerin!«

Lollius mußte allein nach Hause zurückkehren, während der Nacht aber wuchs seine Liebe bis zur Leidenschaft. Am frühen Morgen ging er bleich und mit roten Augen zum Hause der Flötenspielerin und bekränzte ihre Türe mit Blumen. Thaïs fuhr jedoch, von unbestimmter Angst erfaßt, fort, Lollius zu meiden, sah ihn aber unaufhörlich im Geiste. Sie litt und konnte sich ihr Leiden nicht erklären. Sie fragte sich, warum sie so verändert sei und woher ihre Melancholie komme. Sie wies auch alle übrigen Liebhaber zurück, da sie ihr Entsetzen einflößten. Sie wollte das Tageslicht nicht mehr sehen und blieb den ganzen Tag auf ihrem Bette liegen, vergrub das Antlitz in die Kissen 81 und schluchzte. Lollius aber wußte sich Zugang zu ihr zu verschaffen und kam öfters, um das böse Kind anzuflehn und es dann zu verwünschen. Sie fürchtete ihn jedoch nach wie vor, wie eine Jungfrau, und sagte immer wieder:

»Ich will nicht, ich will nicht!«

Nach vierzehn Tagen endlich gab sie ihm nach und entdeckte, daß sie ihn liebte. Sie folgte ihm in sein Haus und verließ ihn nicht mehr. Es war ein köstliches Dasein. Sie blieben tagelang eingeschlossen, blickten sich in die Augen und sagten sich Worte, die man sonst nur den Kindern sagt. Des Abends ergingen sie sich an den einsamen Ufern des Orontes und verloren sich in den Lorbeerhainen. Manchmal standen sie mit der Sonne auf, um an den Abhängen des Berges Silpicus Hyazinthen zu pflücken. Sie tranken aus dem gleichen Becher, und wenn sie eine Traubenbeere an den Mund führte, nahm er sie ihr mit den Zähnen von ihren Lippen weg.

Aber Möroë kam zu Lollius und forderte Thaïs mit großem Geschrei zurück.

»Meine Tochter,« so rief sie, »meine Tochter entreißt man mir, meine duftende Blüte, mein Herzblatt! . . .«

Lollius gab ihr eine große Summe Geldes und schickte sie fort. Als sie aber wiederkam und noch einige Gold-Statere verlangte, ließ sie der junge Mann einkerkern, und da die Richter mehrere Verbrechen entdeckten, die sie begangen hatte, wurde sie zum Tode verurteilt und den wilden Tieren vorgeworfen.

82 Thaïs liebte den Lollius mit der ganzen Glut der Einbildungskraft und erlebte alle Überraschungen der Unschuld. Sie sagte ihm in voller Aufrichtigkeit des Herzens: »Ich habe nie jemand anderem als dir angehört.«

Lollius antwortete ihr: »Du gleichst keiner anderen Frau.«

Dieser Zauber dauerte sechs Monate und wurde an einem einzigen Tage gebrochen. Thaïs fühlte sich plötzlich einsam und gleichgültig. Sie erkannte Lollius nicht wieder, sie dachte bei sich:

»Wer hat ihn mir in einem Augenblick so verändert? Woher kommt es, daß er jetzt allen andern Männern ähnlich sieht und nicht mehr sich selbst gleicht?«

Sie verließ Lollius daher mit dem geheimen Wunsche, ihn in einem andern zu suchen, da sie ihn in seiner eigenen Person nicht wiederfand. Sie dachte sich auch, es sei weniger traurig, mit jemand zu leben, den sie nicht liebe, als mit jemand, den sie nicht mehr liebe. Sie zeigte sich in der Gesellschaft reicher Müßiggänger an den heiligen Festen, wo man Chöre nackter Jungfrauen in den Tempeln tanzen und Scharen von Buhlerinnen den Orontes durchschwimmen sah. Sie nahm an allen diesen Vergnügen, welche die elegante und ungeheuerliche Stadt offen darbot, teil. Besonders fleißig besuchte sie die Theater, wo geschickte Mimen, die aus allen Ländern kamen, den reichen Beifall einer schaulustigen Menge einheimsten.

Sie beobachtete die Mimen genau, auch die Tänzer und Schauspieler und besonders die Frauen, welche in 83 den Tragödien die in sterbliche Jünglinge verliebten Göttinnen und die von den Göttern geliebten Frauen darstellten. Als sie die geheimen Künste, mit denen diese Weiber die Menge bezauberten, in Erfahrung gebracht hatte, sagte sie sich, daß sie, da sie soviel schöner sei, auch um soviel besser spielen würde als jene. Sie ging daher zum Führer einer Mimentruppe und bat ihn, sie in dieselbe aufzunehmen. Dank ihrer Schönheit und den Lehren der alten Möroë wurde ihr Wunsch sofort erfüllt, und sie betrat in der Rolle der Cirke die Bühne.

Anfangs gefiel sie jedoch nicht besonders, weil sie noch keine Erfahrung hatte und auch, weil die Zuschauer nicht durch lange Lobsprüche zur Bewunderung angestachelt worden waren. Aber nach einigen Monaten bescheidener Versuche brach ihre Schönheit auf der Bühne dergestalt durch, daß die ganze Stadt in Bewegung geriet. Ganz Antiochia drängte sich ins Theater. Die kaiserlichen Beamten und die Ersten der Bürgerschaft begaben sich, von der Macht der öffentlichen Meinung getrieben, ebenfalls dahin. Die Lastträger, die Straßenkehrer und die Hafenarbeiter sparten sich das Geld für das Theater am Munde ab. Die Dichter besangen Thaïs in Distichen, und bärtige Philosophen deklamierten in den Bädern und Turnhallen gegen sie. Wenn sie in ihrer Sänfte vorübergetragen wurde, so wandten die Priester der Christen das Gesicht ab. Die Schwelle ihres Hauses war mit Blumen bekränzt und oft von Blut gerötet. Sie erhielt von ihren Anbetern das Gold nicht mehr zugezählt, sondern in Scheffeln 84 zugemessen, und alle Schätze, welche sparsame Greise angehäuft hatten, schwanden wie Flüsse zu ihren Füßen. Ihr Geist war ruhig und heiter. Sie freute sich in friedlichem Stolze der öffentlichen Gunst und der Güte der Götter, und, da sie von aller Welt geliebt wurde, liebte sie sich auch selbst.

Nachdem sie sich so mehrere Jahre der Bewunderung und der Liebe der Antiochier erfreut hatte, wandelte sie der Wunsch an, Alexandrien wiederzusehn und jener Stadt ihren Ruhm zu zeigen, wo sie als Kind in Elend und Schande, hungrig und mager, wie eine Heuschrecke, auf den staubigen Straßen gelungert hatte. Die goldene Stadt empfing sie mit Freuden und überschüttete sie mit neuen Reichtümern. So oft sie in den Spielen erschien, feierte sie einen Triumph. Zahllos zogen ihr Bewunderer und Liebhaber zu. Sie empfing sie gleichgültig, denn sie hatte endlich die Hoffnung aufgegeben, den wahren Lollius wiederzufinden.



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