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Ein Kapitel vom alten Schadow
Ihr wolltet lebend nicht einander weichen,
Im Tode hat nun jeder seine Krone; Verbrüdert mögt ihr euch die Hände reichen. |
Platen |
Auf dem Plateau des Teltow, ziemlich halben Weges zwischen Trebbin und Zossen, liegt das Dörfchen Saalow. Elsbruch, Kiefernwald und sandige Höhen fassen es ein, und die letzteren, die den grotesken Namen der »Höllenberge« führen, bilden neben einem benachbarten See, der »Sprotter Lache«, so ziemlich die ganze Poesie des Orts.
Wir kommen von Großbeeren her, haben eben das Dorf Schünow passiert, und zwischen Wald und Bruchland unsern Weg verfolgend, erreichen wir zuletzt eine kurze Maulbeerbaumallee, die bis an den Eingang des Dörfchens führt, dem unsre heutige Wanderung gilt. Eben Saalow. Eine Kirche fehlt, ein Herrenhaus auch, und ein paar Dutzend Häuser und Gehöfte, sauber gehalten und meist mit Ziegeln gedeckt, bilden die Dorfstraße, die sich alsbald platzartig erweitert. In der Mitte dieses Platzes dehnt sich der übliche Wassertümpel, ohne den geringsten Anspruch auf die sinnige Bezeichnung »Auge der Landschaft«. Die Schwalben unterm Sims und das Storchnest auf dem Dache sorgen für die nötige Dorfgemütlichkeit, die Hähne krähen, der Balken am Ziehbrunnen steigt auf und ab, und über den Pfuhl hin schnattert und segelt das Entenvolk in komischer Gravität.
So ist Dorf Saalow jetzt, schlicht und einfach genug; aber doch ein Platz voll einladender Heiterkeit, verglichen mit dem, was es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war, wo der, der es zufällig passierte, nur Strohdächer sah, alte Strohdächer, die längst zu Moosdächern geworden waren. Unter einem derselben wohnte der Dorfschneider, Hans Schadow mit Namen, der, trotzdem er schon in die Jahre ging und viel Anhang und Vetterschaft im Dorfe hatte, doch noch immer ledigen Standes war. Als ihm aber endlich das Alleinsein nicht länger mehr gefallen wollte, gefiel ihm auch Saalow selbst nicht mehr, und er gab es auf, um zunächst nach dem benachbarten Zossen und dann von Zossen aus nach Berlin zu ziehn. Da fand er, was er suchte, verheiratete sich gerad in demselben Winter 63, wo der Krieg auf die Neige ging, und nahm eine kleine Wohnung in der Lindenstraße, nicht weit vom Halleschen Tore.
Sieben Jahre sind seitdem vergangen, und wir treten heut in die Werkstatt des ehemalig saalowschen und nunmehro berlinischen Schneidermeisters ein. An dem Zuschneidetische, dessen weit vorspringende Holzplatte bis in die Mitte des Zimmers reicht, steht ein knochiger und breitschultriger Mann, dessen Figur eher an Hammer und Amboß als an Nadel und Schere gemahnt und blickt auf das vor ihm ausgerollte Stück Tuch. Er hält zugleich auch ein Stück Kreide zwischen Daumen und Zeigefinger, und wie ein Baumeister, der seinen Plan entwirft und die Distancen absteckt, tupft er bald hierhin, bald dorthin auf das ausgerollte Tuchstück, mustert die weißen Tüpfelchen und zieht dann, zwischen ebendiesen Punkten, die geraden und die geschweiften Linien, je nachdem es Schoß oder Rückenstück erfordert. Ringsum völlige Stille; der Zeisig im Bauer singt weder, noch springt er auf den Sprossen auf und ab, selbst die Fliegen gönnen sich Ruh, und nur aus dem halbdunklen Ofenwinkel hervor klingt es und schrammt es leise, wie wenn jemand geschäftig mit einem Griffel über die Schiefertafel fährt. Und dem ist auch so. Auf der niedrigen Ofenbank hockt ein sechsjähriger Blondkopf, und die beiden Beinchen wie ein schräges Pult vor sich, tupft er, ganz nach Art des Vaters, allerhand Tüpfelchen auf die Tafel und zieht dann, zwischen den Punkten, die geraden und die geschweiften Linien. Aber diese Linien und Punkte beziehen sich nicht auf Schoß und nicht auf Rückenstück, sondern auf das Gesicht des Vaters, dessen markiertes Profil er in aller Deutlichkeit vor sich hat. Den vorspringenden Stirnbuckel, die römisch geschwungene Nase, den tiefen Mundwinkel, alles hat er getroffen – und einen Augenblick haftet der freudig erregte Blick des Knaben an dem von ihm geschaffenen Bilde. Plötzlich aber klingt es »Gottfried« vom Arbeitstische her, das Klappern eines Deckelkruges begleitet den strengen Ruf des Vaters, und im selben Moment, als fühl er sich auf einem Unrecht ertappt, fährt die Hand des Knaben rasch über Tafel und Zeichnung hin. Und nun erst springt er auf und nimmt den Krug, den ihm der Vater entgegenhält.
Das war im Sommer 1770.
Und siehe da, rasch wechseln Zeit und Ort: statt der siebziger Jahre des vorigen, liegen die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts vor uns, und statt in die kleine Schneiderstube blicken wir in den großen Aktsaal der Berliner Akademie. Die Schüler sind bereits versammelt, und jedes einzelnen Ernst und Aufmerksamkeit ist eine gesteigerte, denn der »Alte« ist eben eingetreten, um nach dem Rechten zu sehen. Dieser »Alte«, ein Achtziger schon, aber immer noch ein Mann aus dem Vollen, schreitet langsam von Platz zu Platz, und nur dann und wann bleibt er stehen und blickt musternd über die Schulter der Zeichnenden. »Det is jut«, sagt er dem einen und klopft ihm, als Zoll der Anerkennung, mit seiner mächtigen Hand auf den Kopf. »Det is nischt«, sagt er zu dem andern und geht weiter. Ein dritter müht sich eben, den Umriß einer menschlichen Figur auf dem Papiere festzuhalten, aber die Linien sind nicht sicher gezogen, und die Proportionen sind falsch. Der Alte heißt ihn aufstehen, nimmt seinerseits Platz auf dem leer gewordenen Stuhl und sagt dann lakonisch: »Nu paß uff. Ich mach det so.« Dabei nimmt er des Schülers Kreidestift, tupft Punkte mit fester Hand auf das graue, grobkörnige Zeichenpapier, und während er diese Punkte mittelst sicher gezogener Linien untereinander verbindet, brummt er vor sich hin: »Det hab ich von meinen Vater. Der war 'n Schneider.«
Gottfried Schadow, der Schneiderssohn, ist Gottfried Schadow, der Akademiedirektor, geworden, ein berühmter Mann, ein Name, der Klang hat von einem Ende Europas bis zum andern. Derselbe Gottfried, der dienstfertig aufsprang, wenn der strenge Vater mit dem Deckelkruge klappte, derselbe Gottfried ist jetzt seinerseits ein strenger Hausherr geworden, vielleicht nicht strenger als der Vater, aber mächtiger und gefürchteter. Sein Haus ist die Akademie, darin waltet er als König und Herr und hat seine Macht längst als einen unerschütterlichen rocher de bronze stabiliert. Die Zeiten, wo er Beispiele statuieren mußte, liegen hinter ihm, und nach Art eines alt und milde gewordenen Autokraten spielt er nur noch mit dem Zügel seiner Herrschaft. Aller Abzeichen seiner Würde, jedes repräsentativen Flitters hat er sich längst entkleidet; er regiert durch sich selbst, kraft seiner Kraft. Ob das Sacktuch, das er aus seinem taschenreichen Rocke zieht, von Kattun ist oder von Seide; ob er riesige Filzschuhe trägt oder kalblederne Stiefel (in die, der Ballen und Zehen halber, immer große Löcher geschnitten sind); ob er hochdeutsch spricht oder in einem Berliner Platt – es kümmert ihn nicht und kümmert andre nicht, denn weder er noch andre vergessen es, daß er »der alte Schadow« ist. Herrschergewohnheit und das Bewußtsein völliger Überlegenheit haben seinem Auftreten längst jede Spur von Scheu genommen, und was er denkt und fühlt, das spricht er aus. Sein Wille ist Gesetz; seine Laune nicht minder. Eine kleine Szene mag schildern, wie er das Zepter führt.
Es ist eine Abendsitzung. Der akademische Senat hat sich versammelt: berühmte Maler und Bildhauer; keiner fehlt. Der Saal ist hell erleuchtet und das Licht fällt auf die schönen Blechenschen Zeichnungen, die ringsum an den Ständern und Wandschirmen befestigt sind. Am obern Ende des Ovaltisches aber, dessen grüne Decke mit vielen hundert Goldnägelchen an der Tischplatte befestigt ist sitzt der alte Schadow, die Arme bequem auf die Seitenpolster eines Lehnstuhls gelegt, während seine Füße in hohen Pelzstiefeln stecken und ein mächtiger grüner Augenschirm uns die obere Hälfte seines Gesichtes verbirgt. Es ist heut ein wichtiger Tag: Annahme neuer Schüler, und am entgegengesetzten Saalende steht Professor Stabfuß und kontrolliert alle sich zur Aufnahme Meldenden. Wessen Zeugnisse nicht in Ordnung sind, wer zu jung ist oder zu alt, wird unerbittlich zurückgewiesen, und heitre und verblüffte Gesichter wechseln untereinander ab. Da tritt ein junges Bürschchen ein, ein echtes Berliner Kind, dessen kraus aufrecht stehendes Haar gegen alle Ängstlichkeit in der Welt zu protestieren scheint. Am besten, ich stell ihn vor: Richard Lucae, später selber ein Direktor (der Bauakademie).
Die Sicherheit seines Auftretens, auf daß nichts verschwiegen werde, hat freilich noch seine besonderen Gründe: Der alte Schadow ist Hausfreund bei des blonden Krauskopfs Eltern, und kein Geburtstag ist seit funfzehn Jahren vergangen, wo nicht die Mutter des eben Eingetretenen, eine heitre thüringische Frau, dem »Herrn Nachbar und Gevatter« einen Quarkfladen als Geburtstagsgeschenk übermittelt hätte. Das Berliner Kind kennt natürlich die Welt; die Macht der Connexion ist ihm kein Geheimnis mehr, und auf Professor Stabfuß' wiederholte Frage nach Zeugnissen und allerhand andern Papieren erklärt er mit äußerster Unbefangenheit, daß er weder Zeugnisse noch andere Papiere habe. Die Ruhe, mit der diese Erklärung abgegeben wird, hat etwas Provokatorisches, und Stabfuß beginnt seinem Ärger Luft zu machen. Richard Lucae repliziert ebenso, der Lärm wird immer größer, und der alte Schadow, dessen schläfrig scheinender Aufmerksamkeit in Wahrheit nichts entgangen ist, ruft endlich über den Tisch hin: »Wat is denn los?«
Statt aber eine direkte Antwort zu geben, tritt der Professor vom andern Saalende her an den Alten heran, zeigt auf das Jüngelchen, das ihm gefolgt ist, und sagt in gereiztestem Tone: »Herr Direktor, hier ist einer von den Lucaes nebenan; er will in die Gipsklasse; aber nichts ist in Ordnung.«
»So, so«, brummelt der Alte, hebt den Augenschirm halb in die Höh, mustert den jungen Aspiranten der Gipsklasse und sagt dann: »I, det is ja Richard.«
Der Angeredete verbeugt sich zustimmend.
»Höre, Richard, sage doch Muttern, der letzte Kuchen war wieder sehr gut. Aber vergiß 't nich.« In der Regel wurde dieser Dank brieflich abgestattet, und ein paar dieser Dankesbriefe liegen mir vor: »Berlin, 17. April 1843. Meine vortreffliche Frau Gevatterin. Ihr wahrscheinlich mit eigenen Händen gebackener Osterfladen hat mich um so unerwarteter angenehm überrascht als ich annehmen konnte, daß Sie mich altes Exemplar vergessen hätten. Ich kann weite Wege nicht mehr mit Annehmlichkeit machen, und Besuche werden mir schwer, weil ich immer eine lästige Begleitung dabei nötig habe; sonst käm ich, Ihnen persönlich meinen Dank zu bringen. Von dem Kuchen habe ich nichts abgegeben und soeben das letzte Stück zum zweiten Frühstück genossen. Grüßen Sie von mir alles um sich herum. Ihnen einen Rest vergnügter Feiertage wünschend, verbleibe Ihr alter getreuer Gevatter J. G. Schadow, Direktor.« Und zwei Jahre später: »Berlin, 29. Mai 1845. Meine Frau Nachbarin, Gevatterin und Freundin hat meiner wieder gedacht und nach alter Sitte mir um diese Jahreszeit wieder einen Quarkfladen gebacken. War diesmal vorzüglich! Auch hab ich anderen wenig davon abgegeben, gestern abend das letzte davon verzehrt und bin heute mit dem gebührenden Dankgefühl erwacht. Hierbei ist mir wieder lebhaft in Erinnerung gekommen Ihre Mutter, die auch eine so angenehme Erscheinung war. Das häusliche Glück sei stets mit und bei Ihnen! Zu fernerem Wohlwollen empfiehlt sich Ihnen Ihr alter ergebner Freund J. G. Schadow, Direktor.«
Die Professoren, längst an Intermezzos dieser und ähnlicher Art gewöhnt, lächeln behaglich vor sich hin, wie wenn sie sagen wollten: »ganz im Stil des Alten«, und nur Stabfuß beißt sich auf die Lippen, denn er ahnt, daß seinem Ansehn eine neue große Niederlage bevorstehe.
»Na, Richard«, fährt der Alte fort. »Du wist also in de Gipsklasse?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Haste denn ooch Lust?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Hast ooch schon gezeechnet?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Na, denn zeechne mal 'n Ohr; aber aus 'n Kopp. Stabfuß, gehen Se mal Papier her un 'n Bleistift.«
Der Angeredete gehorcht mit süßsaurem Gesicht.
»So. Na, nu setzt de dir hier an 'n Disch un zeechenst.« Unser junger Aspirant tut wie befohlen, zeichnet ein Ohr und überreicht es dem neben ihm stehenden Stabfuß. Dieser, in begreiflicherweise höchst kritischer Laune, beginnt zu mäkeln, aber seine Geschicke vollziehen sich unabwendlich.
»Geben Se mal her«, unterbricht ihn der Alte, klappt den grünen Schirm abermals in die Höh, befühlt und bekuckt das Papier von allen vier Seiten und sagt dann: »Stabfuß, bedenken Se – aus 'n Kopp. Det Ohr is jut. Schreiben Se 'n man in.«
Und so kam Richard Lucae in die Gipsklasse.
Und so war der alte Schadow, setzen wir hinzu. Ein Zwiespalt ging durch sein Leben: Griechentum und Märkertum hielten sich das Gleichgewicht oder verbanden sich zu einem wunderbar humoristischen Gemisch. Wenn er in den Saal tapste oder das Taschentuch zog (was viel öfter geschah, als schön war), war er ganz der Sohn seines Vaters aus Dorf Saalow, wenn er den Stift in die Hand nahm, war er das Kind einer glücklicheren Zone. Mark Brandenburg und Athen erschienen abwechselnd als seine Heimat. Sein Körper und seine Seele lebten miteinander wie Venus und Vulkan. Diese Zwiespältigkeit wurde zuletzt sein Stolz, und er machte das Beste draus, was sich draus machen ließ, ein Original. Und wirklich, immer nur solche Derbheitsgestalten sind bei unserm Volke populär geworden: der Alte Dessauer, Friedrich der Große, Blücher. Auch unser großer Kanzler gehört hierher. Alles Patente wird beargwohnt oder ist einfach lächerlich.
Das ganze Auftreten Schadows erinnerte vielfach an die Meister des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Er war ein Peter Vischer ins Märkisch-Berlinische übersetzt und hielt noch aufs Handwerk, immer davon ausgehend, daß es besser sei, das Handwerk zur Kunst als die Kunst zum Handwerk zu machen. Von Bürgersinn und Bürgertrotz war ihm ein gerüttelt und geschüttelt Maß geworden, und gegenüber modernen Künstlerprätensionen hielt er's ganz mit der alten Schule, die sich mehr ums Sein als ums Scheinen kümmerte. Das Schwierige des bloßen, äußerlichen Machen-Könnens betonte er gern, und in ähnlicher Weise, wie Ludwig Tieck zu sagen pflegte: »Es ist immerhin eine Arbeit, einen dreibändigen Roman zu schreiben, gleichviel ob er gut oder schlecht ist«, so sagte auch Schadow, wenn Skizzen über Gebühr und auf Kosten ausgeführter Arbeiten gelobt wurden: »Papier is weech, aber Steen is hart.«
In einem gewissen Zusammenhange mit diesem Betonen des Handwerklichen in der Kunst war es auch, daß er mit Vorliebe zitierte: »Der Arbeiter ist seines Lohnes wert«, und sich jedesmal ärgerte, wenn einem Künstler zugemutet wurde, vom himmlischen Lichte leben zu sollen. Er forderte für den Maler und Bildhauer, wie für jeden andern Menschen, das tägliche Brot und bekannte sich sogar zu dem in der Kunst vielleicht anfechtbaren Satze, daß sich Art und Wert der Arbeit nach dem Lohn zu bestimmen habe. Sein gemünztes Wort in solchem Falle war: »Kuppern bezahlt, kuppern gemalt.«