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Drittes Kapitel.
Eines Toten letzter Wille

Das erste, was Carsdale auf diese Mitteilung hin tat, war, daß er die Tür zu dem Zimmer schloß, in dem Griffkin und eine junge Stenotypistin bei ihrer Arbeit saßen. Verblüfft sah er die Sekretärin an.

»Was, hier – schon eine Stunde nach ihres Vaters Tod!« rief er aus.

»Ich sagte dir, daß sie so gerissen ist, wie du. Sie muß Winch sofort angerufen und hierhergebracht haben. Aber – warum?«

Carsdale zuckte zuerst die Achseln und breitete dann die Hände aus.

»Mag es der Himmel wissen – ich nicht«, antwortete er. »Es sieht direkt unpassend aus. Vielleicht sucht sie bestimmte Papiere, das Testament. Außerdem weißt du ja, daß Leverton seine besonderen Geschäfte hatte, wie ich die meinen. Ich kann sie nicht hindern, ihres Vaters Privatbüro zu betreten.«

»Nein, zumal sie schon drin ist«, sagte Frau Walsingham. »Und außerdem ist die Tür abgeschlossen. Griffkin hörte, wie sie gleich hinter sich zuriegelten.«

Carsdale erschrak.

»Die Tür – verschlossen!« rief er aus. »Lieber Gott, was bedeutet das? Das klingt geheimnisvoll.«

»Meiner Ansicht nach bedeutet das, daß sie und Winch Levertons Schreibtisch und Geldschrank durchsuchen«, sagte Frau Walsingham und sah ihn fest an. »Wie denkst du darüber?«

Aber Carsdale zuckte nur abermals die Achseln und lächelte rätselhaft. Er wandte sich zu dem Schreibtisch hinter ihm, faltete Richard Shrewsburys Brief sorgfältig zusammen und legte ihn in seine Brieftasche.

»Ich habe schon gesagt, daß es mich nichts angeht, was sie und Winch in Levertons Privatzimmer machen. Aber was wichtiger ist – wie denkst du über den Jungen?«

»Daß es wichtig wäre, ihn jung zu erhalten«, sagte Frau Walsingham kurz. »Er gehört zu den Menschen, die schnell die Eierschalen abstreifen. Er ist kein Dummkopf, Hans – nur grün und unerfahren. Sei vorsichtig und geh nicht zu scharf vor.«

»Nein, nein. Ich denke, ich sehe meinen Weg. Aber nun diese beiden in Levertons Zimmer. Das beste ist, wir gehen an unsere Arbeit. Sie sollen den Eindruck haben, als liefe alles die alte Bahn. Ich werde meine Tür offen lassen, damit ich merke, wenn sie herauskommen. Ich gäbe etwas darum zu wissen, warum sie da sind.«

Frau Walsingham antwortete nicht. Sie nahm einige Schriftstücke und ging in ihr Zimmer. Carsdale folgte ihr bis zu dem Vorzimmer, gab der Stenotypistin einige Anweisungen und ließ dann seine Tür geöffnet.

Er wußte – und noch ein paar Leute wußten es auch –, daß seine geschäftlichen Beziehungen zu Leverton eigentümlicher Art waren. Es bestand eigentlich kein gesetzliches Teilhaberverhältnis zwischen ihnen. Zwar standen ihre Namen nebeneinander auf der Liste der Mieter, die im unteren Hausflur hing, auch fand man sie auf dem Messingschild, das die große Bürotür zierte. In Wirklichkeit aber waren sie nur Kompagnons gewesen, wenn es ihnen beliebte. Sie teilten sich in die Miete und die Bürounkosten. Sie bezahlten abwechselnd die Dienste von Frau Walsingham, Fräulein Rouseby, der Stenotypistin, und von Griffkin, dem Laufjungen. Manche Geschäfte machten sie gemeinsam, manche mit dritten zusammen. Aber daneben bearbeitete auch jeder seine eigenen Sachen. Jeder hatte seine besonderen Geheimnisse.

Für Leute, die mit dem Betrieb nur oberflächlich bekannt waren, war die eigentliche Natur der Geschäfte, mit denen Leverton & Carsdale sich abgaben, ein Rätsel. Alle Arten sonderbarer Gäste benutzten den Fahrstuhl, der zu den Büros von Leverton & Carsdale führte. Die einen hatten vergnügte und hoffnungsvolle Gesichter, auch wenn sie schon seit einem Jahr in Geschäftsverbindung standen. Manche fingen schon nach wenigen Wochen an mit den Zähnen zu knirschen und Flüche auszustoßen. Mancher deutete an, daß man seltsame Geschichten von der Firma erzählen könne, aber der Strom der Klienten nahm nicht ab. Und wieder andere gaben zu verstehen, daß niemand besser mit den geheimen Fäden des gesamten Geschäftsbetriebes Bescheid wüßte als Frau Walsingham, die Vertraute beider Chefs.

Aber Carsdale wußte, wie gesagt, daß Leverton seine Geheimnisse gehabt hatte, wie er selbst, und überlegte, während er so wartete, ob des Toten Tochter um eines solchen willen gekommen sein mochte. Vor Franziska Leverton hatte er eine tiefe und geheime Furcht. Er wußte, daß sie mehr als klug war, und er fühlte instinktiv, daß sie ihm nicht über den Weg traute. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er die Wohnung in Maida Vale besucht hatte, in der Leverton mit seinem einzigen Kind lebte, hatte er mehr als einmal gespürt, wie das Mädchen ihn mit den ernsten, festen Augen sonderbar beobachtete, und er hatte es empfunden, daß mehr kaufmännische Fähigkeiten in ihr steckten, als Leverton selbst je besessen hatte. Andere Leute sahen in Franziska nichts als ein hübsches junges Ding von neunzehn Jahren, das vergnügt, lebhaft und unterhaltsam war. Carsdale allein wußte, daß ihm gegenüber ihre grauen Augen hart wurden, ihr Kinn angriffslustig, daß sie ihm immer bis in sein Inneres zu blicken schien. Er war überzeugt, daß sie ihm nicht mehr traute, als etwa einem Wolf, der in einen Schafstall eingedrungen war.

»Ich gäbe was drum, wüßte ich, warum sie gekommen sind«, wiederholte Carsdale nach zehn Minuten. Ungeduldig ging er in das Vorzimmer, schickte Fräulein Rouseby zu Frau Walsingham mit einem Auftrag, der sie dort festhielt, jagte Griffkin zur Post und säuberte so das Feld, auf dem er Franziska Leverton und ihren Notar treffen wollte. Seine Laune hatte sich verschlechtert. Das Verriegeln der Tür verletzte seinen Stolz. Er faßte es als eine Art von Kriegserklärung von Franziskas Seite auf.

Endlich öffnete sich die Tür, und das Mädchen erschien mit einer Aktenmappe. Carsdales Augen hasteten von Levertons Tochter zu dem Notar. Auch er trug eine etwas größere Aktentasche. Und Carsdale wußte nun, daß sie Levertons Papiere durchsucht hatten und einige davon wegtrugen.

Er kannte Franziska zur Genüge, um zu wissen, daß er bei ihr nicht gewinnen konnte, wenn er Bedauern über des Vaters Tod heuchelte. Und da er durchaus nicht feige war, packte er den Stier bei den Hörnern.

»Es ist nicht gerade höflich von Ihnen, mein Fräulein, hierherzukommen und sich mit Mr. Winch in jenem Zimmer einzuschließen. Es hätte Sie auch so niemand gestört.«

Franziska Leverton sah ihn ruhig an.

»Ich bin davon nicht ganz überzeugt, Mr. Carsdale«, antwortete sie. »Ich bin, wenn ich hier war, oft genug gestört worden.«

Carsdale zuckte in der ihm eigenen Art die Achseln.

»Wenn Büroräume in dieser Weise benutzt werden«, sagte er, »geht man natürlich überall ein und aus. Aber es macht auf die Angestellten einen schlechten Eindruck, wenn die Chefs sich vor einander einriegeln. Und es ist doch seltsam, daß Sie so unmittelbar nach Ihres Vaters Tode hierher kommen, Papiere durchsehen und, wie der Augenschein zeigt, auch solche mitnehmen, die unter Umständen auch mich angehen können.«

Der Notar, ein Mann mit scharfen Augen und einem milden Ausdruck auf dem schon ältlichen Antlitz, trat einen Schritt vor.

»Das Fräulein führt nur den Willen ihres Vaters aus, Mr. Carsdale«, sagte er ruhig. »Ich denke, liebes Kind, unter diesen Umständen könnten Sie Mr. Carsdale erklären, warum Sie heute morgen so eilig hergekommen sind.«

»Aber nein doch«, rief Carsdale aus, »es liegt mir fern, hier lästig zu fallen.« Doch Franziska Leverton sah ihn ernst an und folgte dem Rat.

»Vielleicht hätte ich erst mit Ihnen sprechen müssen, aber Griffkin sagte mir, Sie wären beschäftigt. Obwohl nach Ansicht der Ärzte unmittelbare Lebensgefahr nicht bestand, gab mir mein Vater den Auftrag, für den Fall seines Todes sofort Mr. Winch zu benachrichtigen. Er sollte mich hierher begleiten, mit einem Schlüssel, den er in Verwahrung hatte, den Geldschrank öffnen und ein Bündel Papiere sowie ein Päckchen daraus mitnehmen. Diese Anweisungen habe ich ausgeführt, und wenn ich die Tür abschloß, so geschah es, um nicht gestört zu werden.«

Carsdale zerfloß sofort in Mitgefühl und Wohlwollen.

»Aber natürlich, natürlich, verehrtes Fräulein«, sagte er. »Tut mir leid, etwas gesagt zu haben, aber Sie werden mich verstehen. Ihr Vater und ich gingen ungeniert einer in des anderen Zimmer ein und aus und verschlossen nie etwas voreinander. Aber natürlich gibt es Privatsachen, und mit seinem Schreibtisch und Geldschrank hatte ich nichts zu tun. Nun sagen Sie mir bitte, ob ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann?«

Aber Franziska lehnte das Anerbieten kühl und höflich ab. Mr. Winch und sie hätten schon alles Notwendige besorgt. Dann entfernten sie sich, und Carsdale ging in Frau Walsinghams Zimmer, schickte die Stenotypistin fort und schloß hinter ihr sorgfältig die Tür.

»Es ist nichts«, sagte er beruhigend, »nichts Besonderes. Sie hat nur einige Papiere geholt und unwichtiges Zeug. Leverton hat wohl etwas von seinem plötzlichen Tod geahnt und ihr aufgetragen, gewisse Sachen in Verwahrung zu nehmen. Es hat nichts auf sich.«

Die Frau sah ihn sonderbar an.

»Das sieht dir wieder ähnlich. Wie kannst du wissen, was sie fortgenommen hat? Du hättest auf Grund deiner Verbindung mit Leverton darauf bestehen sollen, daß nichts ohne dein Wissen entfernt wird.«

»Aber du hast doch kein Recht, dich um eines anderen privaten Geldschrank zu kümmern«, sagte Carsdale achselzuckend. »Ich weiß genau, was Leverton an Papieren von mir hatte, und sie sind belanglos. Nun gib acht, Sylvia, ich muß mich jetzt um Shrewsburys Angelegenheiten kümmern. Damit wird der Tag so ziemlich hingehen, und vor Abend werde ich nicht zurückkommen. Du mußt also hier die Augen offenhalten. Etwas Besonderes liegt nicht vor, und sollte etwas kommen, das du nicht selbst erledigen kannst, so sagst du einfach, Leverton wäre gestorben, und ich wäre erst morgen wieder zu sprechen.«

Damit ging Carsdale fort, und Frau Walsingham saß in ihrem behaglichen Zimmer und sann nach. Sie blieb in Gedanken versunken, bis Fräulein Rouseby zum Frühstück ging. Dann nahm sie einen Brief vom Tisch, ging damit in das Vorzimmer und gab ihn Griffkin, der ihn besorgen mußte. Sie machte sich sogar die Mühe, aus dem Fenster zu sehen und dem jungen Herrn nachzublicken, der gemütlich in der Richtung des Templebahnhofs dahinschlenderte. Nachdem sie so als einziges lebendes Wesen in den Geschäftsräumen zurückgeblieben war, begab sie sich eiligst in Levertons Privatzimmer und ging auf den Geldschrank zu, den Franziska Leverton soeben noch aufgesucht hatte. Denn Frau Walsingham brannte vor Eifer und Neugierde, über bestimmte Dinge Gewißheit zu bekommen. Sie nahm einen Schlüssel aus einem verborgenen Täschchen ihres Kleides und öffnete damit die schwere Tür. Gleich darauf schloß sie wieder zu. Sie hatte ihre Neugierde gestillt, sie wußte nun, was des Toten Tochter mitgenommen hatte.


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