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Am folgenden Tage um drei Uhr fand Marcel sich wieder ein, mit grünem Gesicht, roten Augen, einer Beule an der Stirn, zerrissener Hose, nach Branntwein riechend und in unsauberem Zustande.
Wie er alljährlich zu tun pflegte, hatte er sechs Meilen von dort in der Nähe von Iqueville bei einem Freunde das Weihnachtsmahl gehalten; – er stotterte mehr als je, weinte, wollte sich schlagen und flehte um Gnade, als wenn er ein Verbrechen begangen hätte. Seine Herren verziehen ihm. Eine merkwürdige Ruhe der Seele stimmte sie zur Nachsicht.
Der Schnee war plötzlich geschmolzen, und sie gingen in ihrem Garten umher, die warme Luft einatmend, voll Freude am Leben.
War es nur ein Zufall, der sie vom Tode abgelenkt hatte? Bouvard war weich gestimmt. Pécuchet gedachte seiner ersten Kommunion; und während sie voller Dankbarkeit für die Macht, für die Urkraft waren, von der sie abhingen, kam ihnen der Gedanke, fromme Bücher zu lesen.
Das Evangelium hob ihre Seele, blendete sie wie eine Sonne. Sie sahen Jesus, wie er auf dem Berge stand, erhobenen Armes, die Menge darunter, die ihm zuhörte, – oder auch am Ufer des Sees unter den Aposteln, die Netze zogen, – dann auf der Eselin inmitten des Hallelujarufens, während sein Haar mit schwanken Palmwedeln gefächelt wurde, – schließlich oben am Kreuze gebeugten Hauptes, von dem ewig ein Tau auf die Welt herabträufelt. Was sie hinriß, was sie ergötzte, das war die Liebe zu den Niedrigen, das Eintreten für die Armen, die Erhöhung der Unterdrückten. Und in diesem Buche, in dem der Himmel sich entfaltet, gab es nichts Theologisches trotz all des Lehrhaften; kein Dogma, keine Forderung als nur die der Reinheit des Herzens.
Über die Wunder erstaunte ihre Vernunft nicht, seit ihrer Kindheit waren sie ihnen vertraut. Die Tiefe des heiligen Johannes entzückte Pécuchet und machte ihn fähig, die »Nachfolge Jesu-Christi« besser zu verstehen.
In diesem Buche gibt es keine Vergleiche, keine Blumen, keine Vögel; sondern Klagen, ein Zurückziehen der Seele in sich selbst. Bouvard wurde traurig, während er in diesen Seiten blätterte, die bei nebeldüsterem Wetter tief in einem Kloster zwischen einem Glockenturm und einem Grabe geschrieben zu sein schienen. Unser irdisches Leben erscheint darin so jammervoll, daß man, seiner vergessend, sich Gott zuwenden muß; – und die beiden Biedermänner empfanden nach all ihren Enttäuschungen das Bedürfnis, einfach zu sein, irgend etwas zu lieben, ihren Geist auszuruhen.
Sie machten sich an das Buch Jesus Sirach, an Jesaias und Jeremias.
Doch die Bibel mit ihren löwenstimmigen Propheten, den Donnerlauten in den Wolken, all dem Schluchzen der Hölle, und mit ihrem Gott, der Reiche zerstreut wie der Wind die Wolken, flößte ihnen Furcht ein.
Sie lasen des Sonntags um die Stunde des Nachmittagsgottesdienstes, wenn die Glocke läutete.
Eines Tages gingen sie zur Messe und besuchten sie dann häufiger. Es war eine Zerstreuung am Ende der Woche. Der Graf und die Gräfin von Faverges grüßten sie von weitem, was bemerkt wurde. Der Friedensrichter sagte zu ihnen, mit den Augen blinzelnd: »Ausgezeichnet! Ich kann Sie dazu nur beglückwünschen!« Alle Bürgerfrauen sandten ihnen jetzt geweihtes Brot.
Der Abbé Jeufroy machte ihnen einen Besuch; sie erwiderten ihn; man verkehrte miteinander, und der Priester vermied es, von Religion zu sprechen.
Seine Zurückhaltung setzte sie in Erstaunen, so daß Pécuchet ihn mit gleichgültiger Miene fragte, wie man es machen müsse, um gläubig zu werden.
»Befolgen Sie zunächst die Vorschriften der Kirche.«
Und sie machten sich daran, die Vorschriften der Kirche zu befolgen, der eine hoffnungerfüllt, der andere aus Trotz, denn Bouvard war überzeugt, daß er niemals gläubig werden würde. Einen Monat lang wohnte er regelmäßig dem Gottesdienste bei, wollte sich jedoch im Gegensatz zu Pécuchet nicht dem Fasten anbequemen.
War es eine hygienische Maßregel? Man weiß, was die Hygiene wert ist. Eine Sache der Konvenienz? Nieder mit der Konvenienz! Ein Zeichen der Unterwerfung unter die Kirche? Auch darauf pfiff er! Kurz, er erklärte diese Maßregel für verrückt, pharisäisch und dem Geiste des Evangeliums widersprechend.
Am Karfreitag der vorhergehenden Jahre hatten sie gegessen, was Germaine ihnen auftrug.
Doch dieses Mal hatte Bouvard sich ein Beefsteak bestellt. Er setzte sich an den Tisch, zerschnitt das Fleisch; – und Marcel betrachtete ihn entrüstet, während Pécuchet mit ernster Miene seinen Stockfisch abhäutete.
Bouvard hielt eine Zeitlang die Gabel in der einen, das Messer in der andern Hand. Dann entschloß er sich, einen Bissen an die Lippen zu bringen. Plötzlich begannen seine Hände zu zittern, sein dickes Gesicht erblaßte, sein Kopf fiel nach hinten.
»Ist dir schlecht?«
»Nein! Doch!« – und er machte ein Geständnis. Infolge seiner Erziehung (es war das stärker als er), konnte er an diesem Tage kein Fleisch essen, weil er fürchtete, davon zu sterben.
Ohne seinen Sieg zu mißbrauchen, machte Pécuchet ihn sich zunutze, um auf seine Weise zu leben.
Eines Tages kam er heim, auf dem Gesichte den Ausdruck einer wirklichen Freude, und, das Wort wagend, sagte er, daß er soeben gebeichtet habe.
Da sprachen sie über die Bedeutung der Beichte.
Bouvard ließ die Beichte der ersten Christen, die öffentlich war, gelten: heute wird sie einem zu leicht gemacht. Indessen leugnete er nicht, daß dieses Befragen unserer selbst ein Element des Fortschritts sei, daß es eine moralische Gärung hervorrufe.
Pécuchet, der nach Vollendung strebte, suchte nach seinen Lastern; die Hochmutsanwandlungen waren seit langem verschwunden. Sein Sinn für Arbeit bewahrte ihn vor Faulheit; was die Gefräßigkeit betraf, so war niemand mäßiger. Zuweilen ließ er sich vom Zorne fortreißen.
Er schwor bei sich, das abzulegen.
Dann mußte man Tugenden erwerben; in erster Linie die Demut, – das heißt, sich jedes Verdienstes für unfähig, der geringsten Belohnung für unwürdig halten, seinen Geist opfern und sich so erniedrigen, daß man wie der Schmutz der Straße mit Füßen getreten wird. Er war noch weit entfernt von dieser Verfassung.
Er ermangelte einer anderen Tugend: der Keuschheit. – Denn innerlich bedauerte er, daß Mélie nicht mehr da war, und das Pastellbild der Dame in Louis XV.-Tracht störte ihn durch das Dekolleté.
Er schloß es in einen Schrank, und seine Schamhaftigkeit wurde so groß, daß er sogar fürchtete, seine eigene Blöße zu sehen, und er legte sich in seiner Unterhose schlafen.
So viel Vorsichtsmaßregeln gegen die Wollust entwickelten sie. Besonders des Morgens hatte er heftige Kämpfe zu bestehen, wie deren der heilige Paulus, der heilige Benedikt und der heilige Hieronymus in sehr vorgeschrittenem Alter hatten; dann hatten sie sich sogleich an wütende Bußübungen gemacht. Der Schmerz ist eine Sühne, ein Heilmittel und ein Weg, eine Ehrerbietung vor Jesus Christus. Jede Liebe fordert Opfer, und welches wäre schwerer als das unseres Leibes.
Um sich zu kasteien, verzichtete Pécuchet auf den Likör nach den Mahlzeiten, beschränkte sich auf vier Prisen täglich und setzte bei großer Kälte keine Mütze auf.
Eines Tages stellte Bouvard, als er den Wein anband, eine Leiter gegen die Mauer der Terrasse am Hause, – und zufällig fiel sein Blick in Pécuchets Zimmer.
Sein Freund, bis zum Gürtel nackt, versetzte sich mit der Klopfpeitsche sanfte Schläge auf die Schultern, zog dann in steigender Erregung seine Hose aus, peitschte seine Hinterbacken und fiel atemlos auf einen Stuhl.
Bouvard war verwirrt, wie bei der Entdeckung eines Geheimnisses, das verborgen bleiben muß.
Seit einiger Zeit sahen ihm die Scheiben reinlicher aus, hatten die Servietten weniger Löcher, war das Essen besser; – Veränderungen, die man dem Eingreifen der Reine, der Magd des Herrn Pfarrers, verdankte.
Sie verband das Kirchliche mit den Küchenangelegenheiten, war kräftig wie ein Ackerknecht und opferfreudig, wenn auch unehrerbietig. Sie verschaffte sich Eingang in die Haushaltungen, gab Ratschläge, wurde dort zur Herrscherin. Pécuchet setzte volles Vertrauen in ihre Erfahrung.
Einmal führte sie ihm einen feisten Menschen mit kleinen, geschlitzten Augen und einer Hakennase zu. Es war Herr Gouttman, Händler in Devotionalien – und er packte ihrer einige, die in Schachteln verschlossen waren, unter dem Schuppen aus: Kreuze, Münzen und Rosenkränze von allen Größen, Leuchter für Kapellen, tragbare Altäre, Sträuße aus Flittergold und Darstellungen des Herzen Jesu auf blauer Pappe, heilige Josephs mit rotem Bart, Kalvarienberge aus Porzellan. Pécuchet hätte sie gern gehabt. Der Preis allein hielt ihn zurück.
Gouttman verlangte kein Geld. Er zog Tauschgeschäfte vor, und nachdem sie ins Museum emporgestiegen, bot er für das alte Eisen und das ganze Blei einen Vorrat seiner Waren an.
Sie schienen Bouvard scheußlich. Doch Pécuchets Blick, Reines dringende Bitten und der Wortschwall des Trödlers überzeugten ihn schließlich. Als Gouttman ihn so nachgiebig sah, wollte er noch die Hellebarde dazu haben; Bouvard, müde, ihre Handhabung zu zeigen, gab sie hin. Nachdem alles abgeschätzt worden war, schuldeten die Herren noch hundert Franken. Man einigte sich auf vier Dreimonatswechsel, – und sie wünschten sich Glück zu dem vorteilhaften Geschäft.
Ihre Erwerbungen wurden auf sämtliche Zimmer verteilt. Eine mit Heu gefüllte Krippe und eine Kirche aus Kork zierten das Museum.
Auf Pécuchets Kamin stand ein Johannes der Täufer aus Wachs; auf dem Flur reihten sich die Bilder der bischöflichen Berühmtheiten, und unten im Treppenhause sah man unter einer Kettenlampe eine heilige Jungfrau in azurfarbenem Mantel mit einer Sternenkrone. Marcel reinigte diese Herrlichkeiten und dachte, es könne im Paradiese nichts Schöneres geben.
Wie schade, daß der Sankt Peter zerbrochen war, wie schön würde er sich in der Vorhalle ausgenommen haben! Pécuchet blieb zuweilen vor der ehemaligen Kompostgrube stehen, in der man die Tiara, eine Sandale und den Zipfel eines Ohres erkennen konnte; gab Seufzer von sich und setzte dann die Gartenarbeit fort; denn jetzt verband er körperliche Arbeiten mit religiösen Übungen, grub, mit dem Mönchsgewand bekleidet, die Erde um, während er sich mit dem heiligen Bruno verglich. Diese Verkleidung mochte eine Lästerung sein; er legte sie ab.
Doch er nahm, ohne Zweifel durch den häufigen Verkehr mit dem Pfarrer, geistliche Manieren an. Er hatte dasselbe Lächeln, dieselbe Stimme, und er steckte mit frostiger Miene seine beiden Hände bis zu den Handgelenken in die Ärmel. Es kam der Tag, wo das Krähen des Hahnes ihm unangenehm wurde, wo die Rosen ihn anekelten; er ging nicht mehr aus und hatte grimmige Blicke für die Natur.
Bouvard ließ sich in die Marienandachten führen. Die Kinder, die Hymnen sangen, die Fliedersträuße, die Girlanden aus Grün ließen ihm wie das Gefühl einer unvergänglichen Jugend. Gott offenbarte sich seinem Herzen durch die Form der Nester, die Klarheit der Quellen, die Wohltat der Sonne, und die Frömmigkeit seines Freundes schien ihm überspannt, langweilig.
»Warum seufzest du bei den Mahlzeiten?«
»Wir sollen mit Seufzen essen,« antwortete Pecuchet, »denn auf diese Weise hat der Mensch seine Unschuld verloren,« ein Satz, den er im »Handbuch des Seminaristen«, zwei Duodezbänden, die ihm Herr Jeufroy geliehen, gelesen hatte, und er trank Saletter Wasser, gab sich hinter verschlossenen Türen Stoßgebeten hin, hoffte in die Brüderschaft des heiligen Franziskus einzutreten.
Um die Gabe der Standhaftigkeit zu erlangen, beschloß er, eine Wallfahrt zur heiligen Jungfrau zu machen.
Die Wahl des Ortes bereitete ihm Verlegenheit. Sollte er zur Mutter Gottes von Fourvières, von Chartres, von Embrun, von Marseille oder von Auray gehen? Die zu la Délivrande, die näher war, tat dieselben Dienste.
»Du wirst mich begleiten!«
»Da wäre ich ein rechter Einfaltspinsel!« sagte Bouvard. Er konnte schließlich noch gläubig zurückkehren, wies das nicht zurück und gab aus Gefälligkeit nach.
Die Wallfahrten müssen zu Fuß gemacht werden. Doch dreiundvierzig Kilometer würden hart sein; und da die Postkutschen der andächtigen Betrachtung nicht günstig sind, nahmen sie einen Einspänner, der sie nach einer Fahrt von zwölf Stunden vor dem Wirtshaus absetzte.
Sie hatten ein Zimmer mit zwei Betten, zwei Kommoden, die zwei in kleinen, ovalen Waschbecken stehende Wasserkannen trugen, und der Wirt belehrte sie, daß dies das »Zimmer der Kapuziner« unter der Schreckensherrschaft gewesen sei. Man hatte darin die Jungfrau von la Délivrande mit so viel Vorsicht verborgen, daß die guten Patres darin heimlich die Messe lasen.
Das machte Pécuchet Vergnügen, und er las laut einen Bericht über die Kapelle, den er unten in der Küche gefunden hatte.
Sie ist im Anfang des zweiten Jahrhunderts von dem heiligen Regnobert, dem ersten Bischof von Lisieux, oder von dem heiligen Ragnebert, der im siebenten Jahrhundert lebte, oder von Robert dem Prachtliebenden in der Mitte des elften gegründet worden.
Die Dänen, die Normannen und besonders die Protestanten haben sie zu verschiedenen Zeiten gebrandschatzt und verwüstet.
Gegen 1112 wurde die ursprüngliche Statue durch einen Hammel entdeckt, der mit dem Fuße aufstampfte und dadurch auf einem Anger den Ort angab, wo sie lag, und an dieser Stelle errichtete der Graf Balduin ein Heiligtum.
Ihre Wunder sind ohne Zahl. Ein Kaufmann aus Bayeux, der in sarazenischer Gefangenschaft war, rief sie an: seine Ketten fallen und er entschlüpft. Ein Geizhals entdeckt in seinem Speicher eine Herde Ratten, ruft die Jungfrau zu Hilfe, und die Ratten entfernen sich. Ein alter Materialist in Versailles bereute seine Sünden auf dem Totenbette, nachdem er mit einer Medaille in Berührung gekommen war, die eine Nachbildung der Statue gestreift hatte. – Sie gab dem Herrn Adeline die Sprache wieder, die er infolge von Gotteslästerungen verloren hatte; und unter ihrem Schutz hatten Herr und Frau von Becqueville die Kraft, im Ehestande keusch zu leben.
Unter denjenigen, die sie von unheilbaren Krankheiten befreit hat, nennt man Fräulein von Palfresne, Anne Lirieux, Marie Duchemin, François Dufai und Frau von Jumillac, geborene von Osseville.
Bedeutende Persönlichkeiten haben sie aufgesucht: Ludwig XI., Ludwig XIII., zwei Töchter Gastons von Orleans, der Kardinal Wiseman, Samirrhi, der Patriarch von Antiochien; der Bischof Véroles, der apostolische Vikar der Mandschurei; und der Erzbischof von Quélen kam, ihr für die Bekehrung des Fürsten von Talleyrand Dank zu sagen.
»Sie könnte dich auch bekehren!« sagte Pécuchet.
Bouvard, der schon im Bette lag, gab eine Art Grunzen von sich und schlief vollends ein.
Am nächsten Morgen um sechs Uhr gingen sie in die Kapelle.
Man war beim Neubau einer zweiten; Leinwand und Bretterverschläge sperrten das Schiff ab, und das im Rokokostil gehaltene Bauwerk mißfiel Bouvard, besonders der Altar aus rotem Marmor mit seinen korinthischen Pilastern.
Die Wunder wirkende Statue stand in einer Nische links im Chor, mit einem Flittergewande umhüllt; der Küster kam, er hatte für jeden von ihnen eine Kerze. Er steckte sie auf eine Art Egge, die über der Balustrade angebracht war, verlangte drei Franken, machte eine Verbeugung und verschwand.
Dann betrachteten sie die Weihgeschenke.
Inschriften auf Tafeln bezeugten die Dankbarkeit der Gläubigen. Man bewundert zwei kreuzweise übereinandergelegte Degen, die ein ehemaliger Schüler der Polytechnischen Hochschule geschenkt hat, Brautbuketts, Kriegsmedaillen, silberne Herzen und in einem Winkel am Boden einen Wald von Krücken.
Aus der Sakristei trat ein Priester, der das Gefäß mit der heiligen Hostie trug.
Nachdem er einige Minuten unten vor dem Altar verweilt hatte, stieg er die drei Stufen empor, sprach das Oremus, den Introitus und das Kyrie, das der Chorknabe kniend in einem Atem hersagte.
Der Teilnehmer waren wenige, zwölf bis fünfzehn alte Weiber. Man hörte das Klappern ihrer Rosenkränze und das Geräusch eines Hammers, der gegen die Steine klopfte. Pécuchet, der sich über seinen Betstuhl neigte, antwortete auf die Amen. Während der Verwandlung flehte er zur Mutter Gottes, sie möge ihm beständigen und unwandelbaren Glauben geben.
Bouvard, der in einem Stuhle neben ihm saß, nahm Pécuchets Gebetbuch und verweilte bei der Litanei der Jungfrau.
»Du Allerreinste, Du Allerkeuscheste, Ehrwürdige, Liebenswerte, Mächtige, Gütige, elfenbeinerner Turm, goldenes Haus, Tor des Morgens.«
Die Worte der Anbetung, diese Überschwenglichkeiten erhoben ihn zu ihr, die durch soviel Ehrerbietung gefeiert wird.
Er träumte sie, wie man sie auf den Kirchengemälden darstellt, auf einer Anhäufung von Wolken, Engel zu ihren Füßen, den Gottessohn an der Brust, – Mutter der zärtlichen Liebe, die in aller Trübsal auf Erden angerufen wird, – Ideal der in den Himmel versetzten Frau; denn aus ihrem Schoße hervorgegangen, steigert der Mensch seine Liebe zu ihr zur Schwärmerei und sehnt sich nur noch, an ihrem Herzen zu ruhen.
Als die Messe zu Ende war, gingen sie an den Läden entlang, die sich auf dem Platze an die Kirchenmauer lehnen. Man sieht dort Bilder, Weihwasserkessel, goldgeränderte Urnen, Christusbilder aus Kokosnuß, elfenbeinerne Rosenkränze; und das Sonnenlicht, das auf das Glas der Einrahmungen fiel, blendete ihre Augen, ließ die ganze Roheit der Malerei, die Häßlichkeit der Zeichnungen hervortreten. Bouvard, der diese Dinge zu Hause scheußlich fand, zeigte hier Nachsicht für sie. Er kaufte eine kleine Jungfrau aus blauem Porzellan. Pécuchet begnügte sich mit einem Rosenkranz, den er zur Erinnerung mitnahm.
Die Verkäufer schrien:
»Herbei! Herbei! Für fünf Franken, für drei Franken, für sechzig Centimes, für zwei Sous, weist unsere Muttergottes nicht ab.«
Die beiden Pilger schlenderten umher, ohne etwas zu wählen. Unhöfliche Bemerkungen wurden laut.
»Was wollen sie, diese Kerle!«
»Es sind vielleicht Türken!«
»Eher Protestanten!«
Eine große Frau zupfte Pécuchet am Rocke; ein Alter mit einer Brille legte ihm die Hand auf die Schulter; alle kreischten zugleich; dann verließen sie ihre Buden, stellten sich um sie herum, wurden zudringlicher mit ihren Bitten und heftiger mit ihren Beleidigungen.
Bouvard hielt es nicht mehr aus.
»Laßt uns in Ruhe, zum Teufel!«
Der Schwarm zerstreute sich.
Doch eine dicke Frau folgte ihnen eine Zeitlang auf dem Platze und schrie, daß es sie gereuen würde.
Als sie ins Wirtshaus zurückkamen, fanden sie im Café Gouttman. Sein Geschäft rief ihn in diese Gegenden, und er plauderte mit einem Menschen, der auf dem Tische vor ihnen liegende Geschäftspapiere durchsah.
Dieser Mensch trug eine Ledermütze und eine sehr weite Hose; seine Gesichtsfarbe war rot und seine Gestalt schlank trotz seiner grauen Haare; er hatte etwas von einem pensionierten Offizier und einem Schauspieler zugleich.
Von Zeit zu Zeit fluchte er; doch beruhigte er sich sogleich auf ein leiser gesprochenes Wort Gouttmans und nahm dann ein anderes Papier vor.
Bouvard, der ihn beobachtete, näherte sich ihm nach Verlauf einer Viertelstunde.
»Barberou, nicht wahr?«
»Bouvard!« rief der Mann in der Mütze. Und sie umarmten sich.
Barberou hatte in den letzten zwanzig Jahren alle möglichen Vermögenslagen durchgemacht.
Herausgeber einer Zeitung, Versicherungsbeamter, Direktor eines Austernparks. »Ich werde Ihnen das erzählen,« – schließlich sei er zu seinem ersten Berufe zurückgekehrt und reise für ein Haus in Bordeaux, und Gouttman, der die Diözese »bearbeitete«, brachte für ihn Wein bei den Geistlichen unter, – »doch erlauben Sie, in einer Minute gehöre ich Ihnen!«
Er hatte seine Rechnungsauszüge wieder vorgenommen und sprang plötzlich von der Bank auf: »Wie, zwei Tausend?«
»Ganz gewiß!«
»Nein, das ist zu stark!«
»Sie meinen?«
»Ich meine, daß ich selbst bei Hérambert gewesen bin,« erwiderte Barberou wütend. »Die Rechnung lautet über vier Tausend; schwindeln Sie mir doch nichts vor!«
Der Trödler kam nicht aus der Fassung. »Na, sie entlastet Sie! Was wollen sie mehr?«
Barberou erhob sich; sein Gesicht war zuerst blaß, dann wurde es violett, und Bouvard und Pécuchet glaubten, er wolle Gouttman erdrosseln.
Er setzte sich wieder, legte die Arme übereinander. »Sie sind ein ganz gemeiner Schurke, das ist sicher!«
»Keine Beleidigungen, Herr Barberou; da sind Zeugen; seien Sie vorsichtig!«
»Ich werde Sie verklagen!«
»Ach, Unsinn!« Nachdem Gouttman dann seine Brieftasche zugeschnallt hatte, lüpfte er seinen Hut: »Auf Wiedersehen!« Und er ging hinaus.
Barberou erklärte den Tatbestand: für eine Forderung Gouttmans von tausend Franken, die sich infolge wucherischer Machenschaften verdoppelt hatte, habe er diesem für dreitausend Franken Wein geliefert. Damit sollten ihm nach Deckung seiner Schuld noch tausend Franken Überschuß verbleiben; statt dessen schuldete er dreitausend. Seine Chefs würden ihn entlassen, man würde ihn verklagen, »Lump! Räuber! dreckiger Jude! und der Kerl ißt in den Pfarrhäusern zu Mittag! Übrigens, alles was mit den Pfaffen in Berührung kommt …!« Er schimpfte auf die Priester und schlug so heftig auf den Tisch, daß die Statuette beinahe umgefallen wäre.
»Sachte!« sagte Bouvard.
»Sieh da, was ist das?« Und nachdem er die kleine Jungfrau von ihrer Hülle befreit hatte: »Ein Kinkerlitzchen vom Wallfahrtsmarkt! Gehört das Ihnen?«
Anstatt zu antworten, lächelte Bouvard in zweideutiger Weise.
»Es gehört mir!« sagte Pécuchet.
»Sie betrüben mich,« erwiderte Barberou, »doch darüber sollen Sie das Nötige von mir erfahren, seien Sie unbesorgt!« Und da man Philosoph sein soll und die Traurigkeit zu nichts nützt, lud er sie zum Frühstück ein.
Die drei setzten sich zum Essen nieder.
Barberou war liebenswürdig, gedachte der alten Zeit, faßte das bedienende Mädchen um die Taille, wollte Bouvards Bauch messen. Er wolle sie bald besuchen und ihnen ein spaßiges Buch mitbringen.
Der Gedanke an seinen Besuch machte ihnen mittelmäßige Freude. Sie plauderten eine Stunde lang darüber im Wagen beim Trab der Pferde. Dann schloß Pécuchet die Augen. Auch Bouvard schwieg. Innerlich neigte er der Religion zu.
Herr Marescot war am Abend vorher dagewesen, um ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. – Weiter konnte Marcel nichts sagen.
Der Notar konnte sie erst drei Tage später bei sich sehen; – und sogleich legte er die Angelegenheit dar. Frau Bordin schlug Herrn Bouvard vor, ihm den Gutshof für eine Rente von siebentausend fünfhundert Franken abzukaufen.
Seit ihrer Jugend betrachtete sie ihn mit gierigen Augen, kannte die angrenzenden Grundstücke, seine Nachteile und Vorzüge; und dieser Wunsch war wie ein Krebs, der sie verzehrte. Denn die gute Frau liebte als wahre Normännin das »Gut« über alles, weniger wegen der Sicherheit der Kapitalsanlage als um des Glückes willen, den ihr gehörigen Boden unter den Füßen zu fühlen. In der Hoffnung auf diesen da hatte sie Feststellungen gemacht, eine tägliche Überwachung ausgeführt, lange Zeit gespart, und sie erwartete mit Ungeduld Bouvards Antwort.
Er kam in Verlegenheit, denn er wollte nicht, daß Pécuchet eines Tages mittellos sei; doch man mußte die Gelegenheit ergreifen, – die eine Wirkung der Wallfahrt war. – Die Vorsehung zeigte sich ihnen zum zweiten Male günstig.
Sie machten ein Angebot unter folgenden Bedingungen: die Rente, die nicht siebentausend fünfhundert, sondern sechstausend betragen sollte, müsse auf den Überlebenden übergehen. Marescot wies darauf hin, daß der eine von schwacher Gesundheit sei. Die Anlagen des andern machten ihn für Schlagfluß empfänglich, und Frau Bordin, von ihrer Leidenschaft hingerissen, unterzeichnete den Kontrakt.
Bouvard wurde melancholisch davon. Jemand wünschte seinen Tod, und diese Überlegung gab ihm ernste Gedanken, Gedanken von Gott und Ewigkeit.
Drei Tage darauf lud sie Herr Jeufroy zu einem Festmahl ein, das er jährlich einmal seinen Amtsbrüdern gab.
Das Diner begann gegen zwei Uhr nachmittags, um gegen elf Uhr abends zu endigen.
Man trank Birnenmost, man gab Wortspiele zum besten. Der Abbé Pruneau verfaßte während des Mahles ein Akrostichon. Herr Bougon zeigte Kartenkunststücke, und Cerpet, ein junger Vikar, sang eine kleine Romanze mit galantem Einschlag. Solch ein Kreis zerstreute Bouvard. Er war am folgenden Tage weniger düster.
Der Pfarrer besuchte ihn häufig. Er stellte die Religion in anmutigen Farben dar. Was setzte man übrigens aufs Spiel? – und bald willigte Bouvard ein, zum Tisch des Herrn zu kommen. Pécuchet wollte zugleich mit ihm am Abendmahl teilnehmen.
Der große Tag nahte.
Die Kirche war wegen der Firmelung voll von Menschen. Die Bürger und Bürgerinnen drängten sich in ihren Bänken, und das geringe Volk stand dahinter oder auf der Empore über der Tür.
Was jetzt vor sich gehen sollte, war unbegreiflich, dachte Bouvard, doch die Vernunft reicht nicht aus, gewisse Dinge zu verstehen. Sehr große Männer haben dieses Wunder gläubig hingenommen. Geradesogut konnte er es tun, und in einer Art Betäubung betrachtete er den Altar, das Weihrauchfaß, die Leuchter, während der Kopf ihm etwas leer war, denn er hatte nichts gegessen, und er empfand eine sonderbare Schwäche.
Pécuchet geriet beim Nachsinnen über die Passion Jesu-Christi in Liebesbegeisterung. Er hätte dem Herren seine Seele darbringen mögen, die der andern, – und dazu die Verzückungen, die Visionen, die Erleuchtungen der Heiligen, alle Wesen, das ganze Weltall. Obgleich er mit Inbrunst betete, schienen ihm die verschiedenen Teile der Messe ein wenig lang.
Endlich knieten die kleinen Knaben auf der ersten Stufe des Altars nieder, wobei ihre Anzüge einen schwarzen Streifen bildeten, den blondes oder braunes Haar in ungleicher Linie überragte. Die kleinen Mädchen ersetzten sie; Schleier wallten unter ihren Kränzen herab; von weitem hätte man sie für weiße Wolken halten können, die sich in der Tiefe des Chors aneinanderreihten.
Dann kamen die großen Leute an die Reihe.
Der erste auf der Evangelienseite des Altars war Pécuchet, doch, ohne Zweifel aus zu großer Erregung, schwankte sein Kopf nach rechts und nach links. Der Pfarrer hatte Mühe, ihm die Hostie in den Mund zu stecken, und während er sie empfing, verdrehte er die Augen.
Bouvard dagegen öffnete den Mund so weit, daß seine Zunge wie eine Fahne über seine Unterlippe herabhing. Als er sich erhob, stieß er Frau Bordin. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte; ohne zu wissen warum, errötete er.
Nach Frau Bordin kommunizierten zusammen Fräulein von Faverges, die Gräfin, ihre Gesellschafterin und ein Herr, den man in Chavignolles nicht kannte.
Die beiden letzten waren Placquevent und Petit, der Lehrer; – da erschien plötzlich Gorju.
Er trug seinen kleinen Backenbart nicht mehr; und er suchte seinen Platz auf, indem er die Arme in sehr erbaulicher Weise über der Brust gekreuzt hielt.
Der Pfarrer sprach zu den kleinen Knaben, sie möchten späterhin Sorge tragen, es nicht wie Judas zu machen, der seinen Gott verriet, und sich immer das Kleid der Unschuld rein erhalten. Pécuchet gedachte des seinigen mit Reue; doch man rückte die Stühle; die Mütter beeilten sich, ihre Kinder zu umarmen.
Die Mitglieder des Kirchspiels beglückwünschten sich gegenseitig beim Ausgang. Einige weinten. Während Frau von Faverges auf ihren Wagen wartete, wandte sie sich Bouvard und Pécuchet zu und stellte ihren zukünftigen Schwiegersohn vor: »Herr Baron von Mahurot, Ingenieur!« Der Graf machte ihnen Vorwürfe, weil sie sich nicht sehen ließen. Er würde die kommende Woche wieder zurück sein. »Merken Sie es sich, ich bitte Sie!« Die Kutsche war angekommen, die Schloßdamen fuhren ab, und die Menge zerstreute sich.
In ihrem Hofe fanden sie mitten auf dem Rasen ein Paket. Der Briefträger hatte es, da das Haus verschlossen war, über die Mauer geworfen. Es war das Werk, das Barberou versprochen hatte: Kritik des Christentums, von Louis Hervieu, einem ehemaligen Schüler der Ecole normale. Pécuchet wies es von sich. Bouvard verzichtete darauf, es kennen zu lernen.
Man hatte ihm wiederholt gesagt, das Sakrament würde ihn verwandeln: mehrere Tage hindurch wartete er auf ein neues Sprießen in seiner Seele. Doch er blieb immer derselbe, und schmerzliches Staunen ergriff ihn.
Wie! Der Leib Gottes vermischt sich mit unserm Leib und bringt keine Wirkung darin hervor! Der Gedanke, der die Welten regiert, erleuchtet unsern Geist nicht! Die höchste Gewalt überläßt uns der Ohnmacht!
Herr Jeufroy, der ihn beruhigte, empfahl ihm den Katechismus des Abbé Gaume.
Dagegen hatte Pécuchets Frömmigkeit Fortschritte gemacht. Er hätte unter beiderlei Gestalt kommunizieren mögen, sang Psalmen, während er im Hausflur herumging, hielt die Einwohner von Chavignolles an, um mit ihnen Glaubensfragen zu erörtern und sie zu bekehren. Vaucorbeil lachte ihm ins Gesicht, Girbal zuckte die Achseln, und der Hauptmann nannte ihn Tartüff. Man fand jetzt, daß sie zu weit gingen.
Eine ausgezeichnete Gewohnheit besteht darin, die Dinge als ebensoviele Symbole zu betrachten. Wenn der Donner grollt, so soll man sich das Jüngste Gericht vorstellen; vor einem wolkenlosen Himmel kann man an den Aufenthalt der Seligen denken; man sage sich während seiner Spaziergänge, daß jeder Schritt dem Tode entgegenführt. Pécuchet beobachtete diese Methode. Wenn er seine Kleider nahm, gedachte er der fleischlichen Hülle, mit der die zweite Person der Dreifaltigkeit sich umkleidet hat; das Ticken der Uhr vergegenwärtigte ihm die Schläge seines Herzens, ein Nadelstich die Nägel des Kreuzes; doch es war vergebens, daß er stundenlang auf den Knien lag, daß er noch häufiger fastete und seine Einbildungskraft anstrengte, die Loslösung vom Ich wollte nicht eintreten; unmöglich, zur vollkommenen Vergeistigung zu gelangen.
Er nahm seine Zuflucht zu mystischen Schriftstellern: zur heiligen Therese, zu Johannes vom Kreuz, Ludwig von Granada, Simpoli und von neueren zu dem Bischof Chaillot. Anstatt der Erhabenheiten, die er erwartete, traf er nur Plattheiten, einen sehr nachlässigen Stil, nichtssagende Bilder und eine Unmenge Vergleiche, die dem Steinschneidergewerbe entnommen waren.
Er erfuhr jedoch, daß es eine aktive und eine passive Reinigung gibt, ein inneres und ein äußeres Schauen, vier Arten von Gebeten, neun Vollkommenheiten in der Liebe, sechs Stufen der Demut, und daß das Verwunden der Seele sich kaum vom geistigen Diebstahl unterscheidet.
Einige Punkte setzten ihn in Verlegenheit.
»Wie kommt es, daß man Gott für die Wohltat des Daseins danken muß, wo doch das Fleisch verdammt ist? Wie die Mitte halten zwischen der Furcht, die zum Heile unerläßlich ist, und der Hoffnung, die es nicht weniger ist? Was ist das Kennzeichen der Gnade?« und so weiter.
Herrn Jeufroys Antworten waren einfach:
»Quälen Sie sich nicht. Will man allem auf den Grund kommen, so gerät man auf eine schiefe Ebene.«
Die »Katechismuslehre nach der Firmelung« von Gaume hatte Bouvard so angewidert, daß er zu dem Bande von Louis Hervieu griff. Es war eine kurze Zusammenfassung der modernen Exegese. Die Regierung hatte ihn verboten. Barberou hatte ihn gekauft, weil er Republikaner war.
Er weckte Zweifel in Bouvards Geist, und zwar zuerst über die Erbsünde. »Wenn Gott den Menschen sündig geschaffen hat, dürfte er ihn nicht bestrafen, und das Böse ist älter als der Sündenfall, da es ja schon Vulkane, reißende Tiere gab. Kurz, dieses Dogma wirft meine Anschauungen von Gerechtigkeit über den Haufen!«
»Was wollen Sie?« sagte der Pfarrer, »das ist eine von jenen Wahrheiten, über die alle Welt sich einig ist, ohne daß man dafür Beweise geben könnte. Und wir selbst rechnen den Kindern die Sünden ihrer Väter an. So rechtfertigen Sitten und Gesetze diesen Ratschluß der Vorsehung, den man in der Natur wiederfindet.«
Bouvard schüttelte den Kopf. Er hatte auch Zweifel an der Hölle.
»Denn jede Züchtigung muß auf Besserung des Schuldigen abzielen, was bei einer ewigen Strafe unmöglich wird; und wie viele müssen sie erdulden! Denken Sie doch, alle die Alten, die Juden, die Muselmanen, die Götzendiener, die Häretiker und die ohne Taufe verschiedenen Kinder, diese von Gott erschaffenen Kinder, und zu welchem Zweck? um sie für eine Sünde zu bestrafen, die sie nicht begangen haben!«
»Das ist die Ansicht des heiligen Augustin,« fügte der Geistliche hinzu, »und Sankt Fulgentius dehnt die Verdammung bis auf den Foetus aus. Die Kirche hat allerdings in dieser Hinsicht nichts entschieden. Eine Bemerkung jedoch: es ist nicht Gott, sondern der Sünder selbst, welcher sich verdammt, und da die Versündigung unendlich ist, denn Gott ist unendlich, so muß die Strafe unendlich sein! Ist das alles, mein Herr?«
»Erklären Sie mir die Dreieinigkeit,« sagte Bouvard.
»Mit Vergnügen. Bedienen wir uns eines Vergleiches: die drei Seiten des Dreiecks, oder besser noch unsere Seele, die umfaßt: Sein, Erkennen und Wollen; was man Vermögen beim Menschen nennt, ist Person bei Gott. Das ist das ganze Geheimnis.«
»Aber die drei Seiten des Dreiecks sind nicht jede ein Dreieck; diese drei Vermögen der Seele ergeben nicht drei Seelen, und Ihre Personen der Dreifaltigkeit sind drei Gottheiten.«
»Lästern Sie nicht!«
»Dann gibt es nur eine Person, einen Gott, eine Substanz, der drei Arten des Seins eigen sind!«
»Lassen Sie uns anbeten, ohne zu begreifen,« sagte der Pfarrer.
»Schön,« sagte Bouvard.
Er hatte Furcht, für gottlos zu gelten, im Schlosse mit bösen Augen angesehen zu werden.
Sie gingen jetzt dreimal in der Woche gegen fünf im Winter dorthin, und die Tasse Tee erwärmte sie angenehm. Der Herr Graf erinnerte durch seine Manieren »an den Chic des ehemaligen Hofes«; die Gräfin, die friedfertig und fett war, zeigte auf allen Gebieten große Urteilsfähigkeit. Fräulein Yolande, ihre Tochter, war der vollkommene »Typus des jungen Mädchens«, der Engel der Keepsakes, und Frau von Noares, ihre Gesellschafterin, ähnelte Pécuchet, denn sie hatte dessen spitze Nase.
Als sie zum erstenmal in den Salon traten, verteidigte Frau von Noares jemand.
»Ich versichere Ihnen, er ist verwandelt; sein Geschenk beweist es.«
Dieser jemand war Gorju. Er hatte soeben den zukünftigen Ehegatten einen gotischen Betstuhl überreicht. Man brachte ihn herbei. Die Wappen der beiden Familien prangten darauf in farbigem Relief. Herr von Mahurot schien davon befriedigt, und Frau von Noares sagte zu ihm:
»Werden Sie sich meines Schützlings erinnern?«
Dann brachte sie zwei Kinder herbei, einen Knaben von etwa zwölf Jahren und seine Schwester, die vielleicht zehn Jahre alt war. Durch die Löcher ihrer Lumpen sahen ihre von Kälte geröteten Glieder. Der Knabe trug alte Pantoffeln an den Füßen, das Mädchen hatte nur noch einen Holzschuh. Ihre Stirnen verschwanden unter ihrem Haar, und sie blickten mit brennenden Augen um sich wie junge, verängstigte Wölfe.
Frau von Noares erzählte, sie habe die Kinder am Morgen auf der Landstraße getroffen. Placquevent wußte nichts Genaueres über sie.
Man fragte sie nach ihrem Namen.
»Viktor, Viktorine.«
Wo ihr Vater sei?
»Im Gefängnis.«
Und was er vorher machte?
»Nichts.«
Ihre Heimat?
»Saint-Pierre.«
Aber welches Saint-Pierre?
Statt jeder Antwort sagten die beiden Kleinen schnüffelnd:
»Weiß nicht, weiß nicht.«
Frau von Noares legte dar, wie gefährlich es sein würde, sie sich selbst zu überlassen; sie rührte die Gräfin, nahm den Grafen bei der Ehre, wurde von der Komtesse unterstützt, zeigte hartnäckigen Eifer, hatte Erfolg. Die Frau des Feldhüters sollte die Kinder in Obhut nehmen. Später würde man Beschäftigung für sie finden, und da sie weder lesen noch schreiben konnten, so wollte Frau von Noares sie selbst unterrichten, um sie auf die Katechismusstunde vorzubereiten.
Wenn Herr Jeufroy in das Schloß kam, holte man die beiden Bälge; er befragte sie, dann trug er vor, wobei er mit Rücksicht auf den Zuhörerkreis gewählt sprach.
Als er einmal über die Patriarchen geredet hatte, verunglimpfte Bouvard sie gehörig, während er mit dem Pfarrer und Pécuchet fortging.
Jakob habe sich durch Spitzbubenstreiche ausgezeichnet, David durch Mordtaten, Salomo durch seine Ausschweifungen.
Der Abbé antwortete ihm, man müsse tiefer sehen. Abrahams Opfer sei ein Symbol der Passion; Jakob ein anderes für den Messias, wie Joseph, wie die eherne Schlange, wie Moses.
»Glauben Sie,« sagte Bouvard, »daß er den Pentateuch geschrieben hat?«
»Ja, ohne Zweifel!«
»Doch man erzählt seinen Tod darin; dieselbe Beobachtung gilt für Josua, und der Verfasser der Richter belehrt uns, daß zu der Zeit, deren Geschichte er schreibt, Israel noch keine Könige hatte. Das Werk wurde also unter den Königen geschrieben. Auch die Propheten setzen mich in Erstaunen!«
»Jetzt wird er wohl gar die Existenz der Propheten leugnen!«
»Keineswegs! Doch ihr überhitzter Geist sah Jehova unter verschiedenen Formen, als Feuer, als Busch, als Greis, als Taube, und sie waren der erhaltenen Offenbarung nicht gewiß, da sie immer ein Zeichen verlangen.«
»So! Und wo haben Sie diese schönen Sachen entdeckt? …«
»Bei Spinoza.«
Der Pfarrer fuhr auf.
»Haben Sie ihn gelesen?«
»Gott behüte mich!«
»Indessen, mein Herr, die Wissenschaft …«
»Mein Herr, es gibt keine Wissenschaft ohne Christentum.«
Die Wissenschaft machte ihn sarkastisch.
»Kann sie eine Ähre wachsen lassen, Ihre Wissenschaft? Was wissen wir?« sagte er.
Doch er wußte, daß die Welt für uns geschaffen ist; er wußte, daß die Erzengel über den Engeln stehen, er wußte, daß der menschliche Körper so wiederauferstehen wird, wie er gegen das dreißigste Jahr ist.
Seine priesterliche Sicherheit fiel Bouvard auf die Nerven. Da er zu Louis Hervieu kein Vertrauen hatte, schrieb er an Varlot, und Pécuchet, der besser unterrichtet war, ersuchte Herrn Jeufroy, ihm gewisse Stellen der Heiligen Schrift zu erklären.
Die sechs Tage der Genesis sollen sechs große Zeiträume bedeuten. Der Raub der kostbaren Gefäße, den die Juden bei den Ägyptern vollführten, soll als geistiger Reichtum verstanden werden, als Kunst, deren Geheimnis sie entwendet hatten. Jesaias entblößt sich nicht vollständig, denn »nudus« bedeutet im Lateinischen nackt bis zu den Hüften; so rät Virgil, sich bei der Landarbeit zu entblößen, und dieser Schriftsteller würde keine das Schamgefühl verletzende Vorschrift gegeben haben! Es hat nichts Außergewöhnliches, daß Ezechiel ein Buch verschlingt; sagt man nicht, eine Broschüre, eine Zeitung verschlingen?
Aber wenn man in allem eine bildliche Ausdrucksweise sieht, was wird dann aus den Tatsachen? Der Abbé behauptete indessen, es handele sich um wirklich geschehene Dinge.
Diese Art der Auslegung schien Pécuchet unredlich. Er setzte seine Nachforschungen fort und kam mit einer Zusammenstellung von Widersprüchen in der Bibel.
Der Exodus erzählt uns, daß vierzig Jahre lang in der Wüste geopfert wurde; nach Arnos und Jeremias fanden keine Opfer statt. Die Bücher der Chronika und das Buch Esra stimmen nicht überein in betreff der Zählung des Volkes. Im Deuteronomium sieht Moses den Herrn von Angesicht zu Angesicht; dem Exodus zufolge konnte er ihn niemals sehen. Wo bleibt da die göttliche Eingebung?
»Nur ein Grund mehr, an sie zu glauben,« erwiderte lächelnd Herr Jeufroy. »Betrüger brauchen Leute, die ihr Treiben begünstigen; ehrlich Überzeugte kümmern sich nicht um die Meinung anderer. Halten wir uns in unsern Verlegenheiten an die Kirche. Sie ist stets unfehlbar.«
Von wem hängt die Unfehlbarkeit ab?
Die Konzile zu Basel und Konstanz sprechen sie den Konzilen zu. Aber oft weichen die Konzile voneinander ab; ein Beweis dafür ist, wie es Athanasius und Arius erging: die zu Florenz und im Lateran weisen sie dem Papste zu. Doch Hadrian VI. erklärt, daß der Papst sich wie jeder andere irren könne.
Das sind Rabulistereien! Sie ändern nichts an dem ununterbrochenen Fortbestehen der kirchlichen Lehre.
Das Werk Hervieus hebt ihre Wandlungen hervor; die Taufe war ehemals den Erwachsenen vorbehalten. Die letzte Ölung wurde erst im neunten Jahrhundert ein Sakrament; die wirkliche Gegenwart wurde im achten beschlossen, das Fegefeuer im fünfzehnten anerkannt, die unbefleckte Empfängnis ist von gestern.
Und Pécuchet wußte schließlich nicht mehr, was er von Jesus denken sollte. Drei der Evangelisten machen einen Menschen aus ihm. An einer Stelle bei Sankt Johannes scheint er sich Gott gleichzusetzen, an einer anderen ebendort sich als ihm untergeordnet zu betrachten.
Der Abbé führte dagegen den Brief des Königs Abgar, die Akten des Pilatus und das Zeugnis der Sibyllen, »dessen Kern wahr ist«, ins Treffen. Er fand die Jungfrau bei den Galliern wieder, die Verkündigung eines Erlösers in China, die Dreifaltigkeit überall, das Kreuz auf der Mütze des Groß-Lama, in Ägypten in der Hand der Götter; – und er wies sogar einen Stich vor, der einen Nilmesser darstellte; das war jedoch nach Pécuchets Ansicht ein Phallus.
Herr Jeufroy fragte seinen Freund Pruneau heimlich um Rat, der ihm Beweise aus Büchern suchte. Ein Kampf der Gelahrtheit entspann sich; und von Eigenliebe gepeitscht, stürzte Pécuchet sich in die Transzendentalphilosophie, in die Mythologie.
Er verglich die Jungfrau mit der Isis, das Heilige Abendmahl mit dem Haoma der Perser, Bacchus mit Moses, die Arche Noah mit dem Schiff des Xithuros; die Ähnlichkeiten bewiesen für ihn die Identität der Religionen.
Doch es kann nicht mehrere Religionen geben, da es nur einen Gott gibt, – und wenn er mit seinen Argumenten zu Ende war, rief der Mann im Priesterrock: »Das ist ein Mysterium!«
Was bedeutet dieses Wort? Mangel an Wissen; recht schön. Aber wenn es etwas bezeichnet, das auszusprechen schon einen Widerspruch in sich schließt, so ist es eine Dummheit, – und Pécuchet ließ Herrn Jeufroy nicht mehr los. Er überraschte ihn in seinem Garten, erwartete ihn vor seinem Beichtstuhl, stöberte ihn in der Sakristei auf.
Der Priester ersann Listen, ihm zu entgehen.
Als er eines Tages von Sassetot zurückkam, wo er jemandem die letzte Ölung erteilt hatte, ging Pécuchet ihm entgegen, so daß die Unterhaltung unvermeidlich wurde.
Es war an einem Abend gegen Ende August. Der scharlachfarbene Himmel wurde düster, und eine schwere Wetterwolke ballte sich daran, die unten einen glatten Rand hatte und oben in Spiralen auslief.
Pécuchet sprach zuerst von gleichgültigen Dingen; dann sagte er, nachdem er das Wort Märtyrer hatte fallen lassen:
»Wieviel gab es deren nach Ihrer Meinung?«
»Etwa zwanzig Millionen zum mindesten.«
»Ihre Zahl ist so groß nicht, sagt Origenes.«
»Origenes ist, wie Sie wissen, nicht glaubwürdig.«
Ein weiter ausholender Windstoß fuhr vorüber; das Gras der Gräben und die zum Horizonte verlaufenden zwei Reihen Ulmen neigten sich unter ihm.
Pécuchet fuhr fort: »Man rechnet zu den Märtyrern viele gallische Bischöfe, die im Kampf gegen die Barbaren gefallen sind, was nicht mehr zur Sache gehört.«
»Wollen Sie die Kaiser verteidigen?«
Nach Pécuchets Ansicht hatte man sie verleumdet. »Die Geschichte von der thebanischen Legion ist eine Fabel. Ich bestreite ebenso die Existenz der Symphorosa und ihrer sieben Söhne, die der Felicitas und ihrer sieben Töchter und alles, was über die sieben Jungfrauen von Ankyra erzählt wird, die noch mit siebzig Jahren dazu verurteilt wurden, genotzüchtigt zu werden, und ebenso unglaubwürdig ist die Geschichte von den elftausend Jungfrauen der heiligen Ursula, deren eine Gefährtin Undecimilla hieß, wobei ein Name mit einer Zahl gleichgesetzt wird; mehr noch, was die zehn Märtyrer von Alexandria angeht.«
»Indessen! …Indessen finden sie sich bei Autoren, die glaubwürdig sind.«
Wassertropfen fielen. Der Pfarrer öffnete seinen Regenschirm; – und als Pécuchet darunter war, wagte er zu behaupten, daß die Katholiken mehr Juden, Moslemiten, Protestanten und Freidenker zu Märtyrern gemacht hätten, als früher alle Römer.
Der Geistliche widersprach heftig: »Aber von Nero bis zu Cäsar Galba zählt man zehn Verfolgungen!«
»Schön! Und die Blutbäder unter den Albigensern? und die Bartholomäusnacht? und die Widerrufung des Ediktes von Nantes?«
»Ohne Zweifel sind das bedauerliche Ausschreitungen, doch werden Sie diese Leute da nicht dem heiligen Stephanus, dem heiligen Laurentius, Cyprian, Polykarp, einer Unmenge von Missionaren an die Seite stellen wollen.«
»Verzeihung! Ich erinnere Sie an Hypathia, Hieronymus von Prag, Johannes Huß, Bruno, Vanini, Anne Dubourg!«
Der Regen wurde stärker, die Wasserstrahlen schossen so heftig herab, daß sie vom Boden zurücksprangen wie kleine weiße Raketen. Pécuchet und Herr Jeufroy gingen langsam, einer gegen den andern gedrückt, und der Pfarrer sagte:
»Nach schrecklichen Martern warf man sie in siedende Kessel!«
»Die Inquisition wandte ebenfalls die Tortur an, und sie briet die Leute recht ordentlich!«
»Man stellte vornehme Frauen in den Lupanaren aus!«
»Glauben Sie, daß die Dragoner Ludwigs XIV. sich sittsam benahmen?«
»Und vergessen Sie nicht, daß die Christen nichts gegen den Staat unternommen hatten!«
»Die Hugenotten ebensowenig!«
Der Wind jagte, fegte den Regen durch die Luft. Er klatschte auf die Blätter, bildete am Rande des Weges ein Rinnsal, und der schmutzig graue Himmel schien in die kahlen Felder überzugehen, die abgeerntet dalagen. Nirgends ein Dach. Nur in der Ferne die Hütte eines Hirten.
An Pécuchets dünnem Mantel war kein Faden mehr trocken. Das Wasser floß ihm den Rücken herab, drang in seine Stiefel, seine Ohren, seine Augen, trotz des Schirmes der Amoros-Mütze; der Pfarrer, der den unteren Teil seines Priesterrocks über den Arm geschlagen hatte, setzte dadurch seine Beine dem Regen aus; und die Ecken seines Dreispitzes spien das Wasser auf seine Schultern wie Traufrinnen einer Kirche.
Man mußte haltmachen, und dem Unwetter den Rücken wendend, standen sie Gesicht gegen Gesicht, Leib gegen Leib, indem sie mit vier Händen den schwankenden Schirm hielten.
Herr Jeufroy hatte seine Verteidigung der Katholiken nicht unterbrochen.
»Haben sie Ihre Protestanten gekreuzigt, wie man es mit dem heiligen Simeon tat, oder einen Menschen von zwei Tigern zerreißen lassen, wie es mit dem heiligen Ignatius geschah?«
»Aber rechnen Sie es für nichts, daß so viele Frauen von ihren Ehegatten getrennt, so viele Kinder ihren Müttern entrissen wurden! Und das Wandern der Armen in die Verbannung über Schneefelder, an Abgründen vorbei! Man sperrte sie scharenweise in die Gefängnisse; kaum waren sie tot, so wurden sie durch den Schmutz geschleift.«
Der Abbé lächelte höhnisch: »Sie wollen mir nicht übelnehmen, wenn ich nichts davon glaube! Und unsere Märtyrer sind weniger zweifelhaft. Die heilige Blandina wurde nackt in einem Netz einer wütenden Kuh vorgeworfen. Die heilige Julia verendete unter Hieben, die man ihr gab. Dem heiligen Taracus, dem heiligen Probus und dem heiligen Andronikus hat man die Zähne mit einem Hammer ausgeschlagen, die Seiten mit eisernen Zinken zerfleischt, die Hände mit glühenden Nägeln durchbohrt, die Haut vom Schädel gerissen.«
»Sie übertreiben,« sagte Pécuchet. »Das Ende der Märtyrer wurde in jenen Zeiten rednerisch ausgeschmückt.«
»Wieso rednerisch?«
»Aber ja doch, mein Herr, während ich dagegen Ihnen Geschichte erzähle. In Irland schlitzten die Katholiken schwangeren Frauen den Leib auf, um die Kinder herauszunehmen.«
»Niemals.«
»Und sie den Schweinen vorzuwerfen!«
»Gehen Sie!«
»In Belgien begruben sie sie bei lebendigem Leibe!«
»Welch ein Unsinn!«
»Man kennt ihre Namen!«
»Und trotzdem,« wandte der Priester ein, während er seinen Schirm im Zorn schüttelte, »kann man sie nicht Märtyrer nennen. Außerhalb der Kirche keine Märtyrer.«
»Ein Wort noch. Wenn der Wert des Märtyrers von der Lehre abhängt, wie kann er dazu dienen, deren Vorzüglichkeit zu beweisen?«
Der Regen ließ nach; bis zum Dorfe sprachen sie nicht mehr.
Doch auf der Schwelle des Pfarrhauses sagte der Abbé:
»Sie tun mir leid! Wirklich, Sie tun mir leid!«
Pécuchet erzählte seinen Streit sogleich Bouvard. Das Gezänk hatte ihn in eine religionsfeindliche Stimmung versetzt, und eine Stunde darauf saßen sie vor einem Reisigfeuer und lasen den »Pfarrer Meslier«. Die plumpen Verneinungen des Buches mißfielen ihm; dann blätterte er, da er sich vorwarf, möglicherweise Helden verkannt zu haben, in der »Biographie« die Geschichte der erlauchtesten Märtyrer durch.
Welchen Lärm das Volk machte, wenn sie die Arena betraten! Und wenn die Löwen und Jaguare nicht wild genug waren, so reizte man die Tiere durch Bewegung und Zuruf, vorzugehen. Man sah die Christen blutüberströmt lächelnd dastehen, den Blick zum Himmel erhoben; die heilige Perpetua knotete ihr Haar wieder, um keine Betrübnis zu zeigen. Pécuchet wurde nachdenklich. Das Fenster stand offen, die Nacht war ruhig, zahlreiche Sterne glänzten. In ihrer Seele mußten Dinge vorgehen, die wir uns nicht vorstellen können, eine Freude, eine göttliche Verzückung! Und Pécuchet sagte unter der Gewalt des Nachsinnens darüber, daß er das begriffe, daß er wie sie gehandelt haben würde.
»Du?«
»Ganz gewiß!«
»Ohne Scherz! Glaubst du, ja oder nein?«
»Ich weiß nicht.«
Er zündete eine Kerze an; dann fielen seine Blicke auf das Kruzifix im Alkoven:
»Wieviel Betrübte haben bei jenem ihre Zuflucht gesucht!«
Und nach einer Pause:
»Man hat seinen Charakter entstellt! Daran ist Rom schuld: die Politik des Vatikans!«
Aber Bouvard bewunderte die Kirche wegen ihrer Pracht, er hätte als Kardinal im Mittelalter leben mögen.
»Ich würde mich im Purpur gut ausgenommen haben, das mußt du zugeben!«
Die vor die Kohlen gelegte Mütze Pécuchets war noch nicht trocken. Während er sie glattstrich, fühlte er einen Gegenstand in ihrem Futter, und eine Münze des heiligen Joseph fiel zur Erde. Sie waren verwirrt, die Tatsache schien ihnen unerklärlich.
Frau von Noares wollte von Pécuchet wissen, ob er nicht eine Veränderung wahrgenommen habe, ein Glück, und sie verriet sich durch ihre Fragen. Sie hatte ihm einst, während er Billard spielte, die Münze in die Mütze genäht.
Allem Anschein nach liebte sie ihn; sie hätten sich heiraten können: sie war Witwe, und er ahnte nichts von dieser Liebe, die vielleicht das Glück seines Lebens gewesen wäre.
Obwohl er sich religiöser gab als Bouvard, hatte sie ihn dem heiligen Joseph geweiht, dessen Beistand für Bekehrungen ausgezeichnet ist.
Niemand kannte wie sie alle Rosenkränze und den Ablaß, der mit ihnen verbunden ist, die Wirkung der Reliquien, die Heilkräfte der wundertätigen Quellen. Ihre Uhr saß an einem Kettchen, das die Fesseln Sankt Peters berührt hatte.
Unter ihren Berlocken leuchtete eine goldene Perle, die der nachgebildet war, welche in der Kirche zu Allouagne eine Träne unseres Herrn enthält; ein Ring an ihrem kleinen Finger umschloß Haare des Pfarrers von Ars, und da sie Heilkräuter für die Kranken sammelte, so glich ihr Zimmer einer Sakristei und einem Apothekerlaboratorium.
Sie verbrachte ihre Zeit mit Briefschreiben, Besuchen bei Armen, Lösen von wilden Ehen, Austeilen von Herz-Jesu-Photographien. Ein Herr wollte ihr »Märtyrerpaste« schicken, eine Mischung aus Osterwachs und menschlichem Staub, den man in den Katakomben gesammelt hatte und der in verzweifelten Fällen in Form von Pflaster oder Pillen angewandt wird. Sie versprach Pécuchet davon.
Er schien entsetzt über einen solchen Materialismus.
Am Abend brachte ihm ein Diener aus dem Schlosse einen Tragkorb voll kleiner Bücher, die von frommen Worten des großen Napoleon, Witzworten des Pfarrers in den Herbergen, von dem schrecklichen Ende gottloser Menschen handelten. Frau von Noares kannte das alles auswendig, dazu eine Unmenge von Wundern.
Sie erzählte deren sinnlose, Wunder ohne Zweck, als wenn Gott sie getan hätte, um die Welt in Staunen zu setzen. Ihre eigene Großmutter hatte Pflaumen, die mit einem Tuch bedeckt waren, in einen Schrank geschlossen, und als man den Schrank ein Jahr später öffnete, sah man ihrer dreizehn auf dem Tuche, die ein Kreuz bildeten.
»Erklären Sie mir das.«
Diese Wendung folgte stets ihren Geschichten, die sie mit dem Starrsinn eines Esels verfocht. Übrigens war sie eine gute Frau und von heiterem Gemüt.
Einmal jedoch »fuhr sie aus der Haut«. Bouvard bestritt ihr gegenüber das Wunder von Pezilla: eine Kompottschale, in der man während der Revolution Hostien verborgen, hatte sich ganz von selbst vergoldet.
»Vielleicht war auf dem Grund etwas gelbe Farbe, die von der Feuchtigkeit herrührte.«
»Aber nein! und nochmals nein! Die Vergoldung kam durch die Berührung mit dem Leibe Christi.«
Und zum Beweise führte sie die schriftliche Beglaubigung der Bischöfe an.
»Das ist derselbe Fall, sagt man, wie mit einem Schilde, einem …einem Palladium in der Diözese zu Perpignan. Fragen Sie doch Herrn Jeufroy!«
Bouvard geriet außer sich, und nachdem er seinen Louis Hervieu wieder durchgelesen hatte, nahm er Pécuchet mit.
Der Geistliche beendigte gerade sein Diner. Reine lud zum Sitzen ein und holte auf einen Wink zwei kleine Gläser, die sie mit Rosolio-Likör füllte.
Darauf legte Bouvard dar, was ihn hergeführt hatte.
Der Abbé gab keine offene Antwort.
»Alles ist bei Gott möglich, und die Wunder sind ein Beweis für die Wahrheit der Religion.«
»Aber es gibt doch Gesetze.«
»Das ändert nichts daran. Er durchbricht sie, um zu unterweisen, zu bessern.«
»Wie können Sie wissen, ob er sie durchbricht?« erwiderte Bouvard. »Solange die Natur ihren alten Weg geht, denkt man nicht daran; doch in einer außerordentlichen Erscheinung sehen wir die Hand Gottes.«
»Sie kann darin wirksam sein,« sagte der Geistliche, »und wenn ein Ereignis durch Zeugen bekräftigt wird?«
»Die Zeugen fallen auf alles herein, gibt es doch falsche Wunder.«
Der Priester wurde rot.
»Gewiß …zuweilen.«
»Wie sie von den echten unterscheiden? Und wenn die echten, die als Beweise gelten müssen, selbst der Beweise nötig haben, wozu deren tun?«
Reine mischte sich ein, und gleich ihrem Herrn einen Predigerton annehmend, sagte sie, man müsse sich unterwerfen.
»Das Leben ist eine Durchgangszeit, aber der Tod ist ewig!«
»Kurz,« fügte Bouvard hinzu, indem er den Rosolio hinuntergoß, »die früheren Wunder sind nicht besser bewiesen als die heutigen; die der Christen wie die der Heiden werden mit gleichen Gründen verteidigt.«
Der Pfarrer warf seine Gabel auf den Tisch.
»Jene waren falsch, sag ich noch einmal! Es gibt keine Wunder außerhalb der Kirche!«
»Sieh da,« sagte sich Pécuchet im stillen, »das ist dasselbe Argument wie bei den Märtyrern: die Lehre stützt sich auf die Tatsachen und die Tatsachen stützen sich auf die Lehre.«
Nachdem Herr Jeufroy ein Glas Wasser getrunken hatte, fuhr er fort:
»Trotzdem Sie sie leugnen, glauben Sie daran. Die Welt, die durch zwölf Fischer bekehrt wird, das ist, so scheint mir, ein herrliches Wunder!«
»Keineswegs!«
Pécuchet erklärte das auf andere Weise.
»Der Monotheismus kommt von den Hebräern, die Dreieinigkeit von den Indern, der Logos gehört Plato und die jungfräuliche Mutter Asien.«
Gleichviel! Herr Jeufroy hielt am Übernatürlichen fest, wollte nicht zugeben, daß das Christentum den geringsten menschlichen Daseinsgrund habe, obgleich er bei allen Völkern Vorboten oder Entstellungen desselben sah. Die spottsüchtige Gottlosigkeit des achtzehnten Jahrhunderts, die hätte er geduldet; doch die moderne Kritik mit ihrer Höflichkeit brachte ihn außer sich.
»Mir ist ein lästernder Atheist lieber als ein spitzfindiger Skeptiker!«
Dann blickte er sie in herausfordernder Weise an, als wenn er sie verabschieden wolle.
Pécuchet ging in melancholischer Stimmung nach Hause. Er hatte darauf gehofft, Glauben und Vernunft in Einklang zu bringen.
Bouvard gab ihm diese Stelle aus Louis Hervieu zu lesen:
»Um den trennenden Abgrund zu ermessen, stelle man ihre Axiome einander gegenüber:
»Die Vernunft sagt euch: Das Ganze umschließt den Teil; und der Glaube antwortet euch: Durch die Transsubstantiation hatte Jesus, während er mit seinen Jüngern das Abendmahl aß, seinen Körper in der Hand und sein Haupt im Munde.«
»Die Vernunft sagt euch: Man ist nicht verantwortlich für anderer Verbrechen; und der Glaube antwortet: Durch die Erbsünde.«
»Die Vernunft sagt euch: Drei ist drei; und der Glaube erklärt: Drei ist eins.«
Sie verkehrten nicht mehr mit dem Abbé.
Es war zur Zeit des Italienischen Krieges.
Die gutgesinnten Leute zitterten für den Papst. Man schimpfte auf Emanuel. Frau von Noares stand nicht an, seinen Tod zu wünschen.
Bouvard und Pécuchet protestierten nur schüchtern. Wenn die Tür des Salons sich vor ihnen öffnete und sie sich im Vorüberschreiten in den hohen Spiegeln sahen und durch die Fenster die Alleen erblickten, wo die rote Weste eines Dieners sich von dem Grün abhob, empfanden sie ein Wohlgefühl; und der Luxus dieser Sphäre machte sie gegen das, was man dort sagte, nachsichtig.
Der Graf lieh ihnen die sämtlichen Werke des Herrn De Maistre. Er trug die darin enthaltenen Grundsätze in vertraulichem Kreise vor: vor Hurel, dem Pfarrer, dem Friedensrichter, dem Notar und dem Baron, seinem zukünftigen Schwiegersohn, der von Zeit zu Zeit für vierundzwanzig Stunden im Schloß zu Besuch weilte.
»Das Schrecklichste,« sagte der Graf, »ist der Geist von 89! Zuerst bestreitet man das Dasein Gottes; dann kritisiert man die Regierung; dann kommt die Freiheit; die Freiheit für Beschimpfungen, für Auflehnung, für Sinnenlust oder besser gesagt, die Freiheit alles drunter und drüber gehen zu lassen, so daß schließlich die Religion und die Staatsgewalt die Freiheitsschwärmer, die Häretiker ächten müssen. Die Folge war allerdings, daß man über Verfolgung zeterte, als wenn die Henker die Verbrecher verfolgten. Ich sage kurz: Kein Staat ohne Gott! Denn das Gesetz kann nur geachtet werden, wenn es von oben kommt, und gegenwärtig handelt es sich nicht um die Italiener, sondern darum, ob die Revolution oder der Papst, Satan oder Jesus Christus den Sieg davonträgt.«
Herr Jeufroy gab seine Zustimmung durch kurze Zwischenrufe zu erkennen, Hurel durch ein Lächeln, der Friedensrichter durch Wiegen des Kopfes. Bouvard und Pécuchet blickten zur Decke; Frau von Noares, die Gräfin und Yolande machten Arbeiten für die Armen, und Herr von Mahurot sah, neben seiner Braut sitzend, die Zeitungen durch.
Dann traten Pausen ein, in denen jeder in die Untersuchung eines Problems vertieft schien. Napoleon III. war kein Retter mehr, und er gab sogar ein bedauerliches Beispiel, indem er die Maurer Sonntags an den Tuilerien arbeiten ließ.
»Das sollte nicht erlaubt sein,« war die ständige Redensart des Herrn Grafen.
Wirtschaftspolitik, schöne Künste, Literatur, Geschichte, wissenschaftliche Doktrinen, über alles entschied er in seiner Eigenschaft als Christ und Familienvater, und wollte Gott, daß die Regierung in dieser Hinsicht dieselbe Strenge zeigte, die er in seinem Hause walten ließ! Die Regierung allein hat zu entscheiden, inwieweit die Wissenschaft gefährlich ist; zu weit verbreitet, erregt sie beim Volke verhängnisvollen Ehrgeiz. Es war glücklicher, dieses arme Volk, als die vornehmen Herren und die Bischöfe den Absolutismus des Königs mäßigten. Jetzt beuteten die Industriellen es aus. Es wird in Sklaverei verfallen.
Und alle beklagten den Verlust des alten Regimes: Hurel aus Unterwürfigkeit, Coulon aus Unwissenheit, Marescot als Künstler.
Als Bouvard glücklich wieder zu Hause war, stärkte er sich an Lamettrie, Holbach usw.; und Pécuchet sagte einem Glauben Valet, der ein Mittel der Regierung geworden war. Herr von Mahurot hatte am Abendmahl teilgenommen, um dadurch einen vorteilhafteren Eindruck auf »die Damen« zu machen, und wenn er zum Gottesdienste ging, so geschah es wegen der Dienstboten.
Er war Mathematiker und Verehrer der Künste, spielte Walzer auf dem Klavier, bewunderte Töpffer und zeichnete sich durch eine Art vornehmer Skepsis aus. Was man über Mißbräuche der Feudalen, die Inquisition und die Jesuiten erzähle, seien Vorurteile, und er pries den Fortschritt, obschon er alles verachtete, was nicht Edelmann oder auf der Polytechnischen Hochschule gewesen war.
Auch Herr Jeufroy mißfiel ihnen. Er glaubte an Zauberei, machte Scherze über die heidnischen Götter, versicherte, daß alle Sprachen vom Hebräischen abgeleitet wären; seine Rhetorik beschränkte sich auf hergebrachte Wendungen; unfehlbar kam der zu Tode gehetzte Hirsch, Honig und Wermut, Gold und Blei, Spezereien, Urnen und der Vergleich der Seele des Christen mit dem Soldaten, die angesichts der Sünde sagen muß: »Hier ist kein Zugang für dich!«
Um seinen Vorträgen zu entgehen, gingen sie so spät wie möglich ins Schloß.
Eines Tages jedoch trafen sie ihn dort.
Seit einer Stunde wartete er auf seine beiden Schüler. Plötzlich trat Frau von Noares ein.
»Die Kleine ist verschwunden. Ich bringe Viktor. Ach! der Unselige!«
Sie hatte in seiner Tasche einen silbernen Fingerhut gefunden, der seit drei Tagen vermißt wurde; dann von Schluchzen erstickt:
»Das ist nicht alles! Das ist nicht alles! Während ich ihn schalt, hat er mir sein Hinterteil gezeigt.«
Und ehe der Graf und die Gräfin zu Worte gekommen waren:
»Übrigens bin ich schuld; verzeihen Sie mir!«
Sie hatte ihnen verborgen, daß die beiden Waisen die Kinder des Touache wären, der jetzt im Zuchthaus saß.
Was tun?
Wenn der Graf sie fortschickte, waren sie verloren, und die Tat der Nächstenliebe würde ihm als eine Laune ausgelegt werden.
Herr Jeufroy war nicht überrascht. Da der Mensch von Natur verderbt ist, muß man ihn züchtigen, um ihn zu bessern.
Bouvard war anderer Ansicht. Milde sei besser.
Aber der Graf erging sich noch einmal über die eiserne Faust, die bei Kindern wie für Völker unerläßlich sei. Diese hier steckten voller Laster; das kleine Mädchen sei lügnerisch, der Schlingel roh. Diesen Diebstahl wollte man schließlich entschuldigen; die Unverschämtheit niemals; die Erziehung mußte die Schule der Achtung sein.
Also sollte Sorel, der Waldhüter, dem jungen Manne sogleich eine tüchtige Tracht Prügel verabfolgen.
Herr von Mahurot, der ihm etwas mitzuteilen hatte, übernahm den Auftrag. Im Vorzimmer griff er nach einer Flinte und rief Viktor, der mit gesenktem Kopf im Hofe stehen geblieben war.
»Folge mir!« sagte der Baron.
Da der Weg zum Waldhüter wenig von der Richtung auf Chavignolles abführte, begleiteten Herr Jeufroy, Bouvard und Pécuchet den Baron.
Hundert Schritte vom Schlosse bat er sie, nicht mehr zu sprechen, solange man am Gehölz entlang ginge.
Das Gelände fiel bis zum Flußufer ab, wo sich große Felsblöcke erhoben. Der Fluß bildete goldene Flächen in der untergehenden Sonne. Auf der anderen Seite bedeckte sich das Grün der Hügel mit Dunkel. Ein scharfer Wind blies.
Kaninchen kamen aus ihrem Bau und fraßen den Rasen ab.
Ein Schuß krachte, ein zweiter, ein dritter, und die Kaninchen sprangen auf, überschlugen sich. Viktor stürzte sich darauf, um sie zu fassen, und keuchte, in Schweiß gebadet.
»Du gehst schön mit deinen Sachen um!« sagte der Baron.
Seine zerfetzte Bluse war blutbefleckt.
Der Anblick des Blutes widerstrebte Bouvard. Seiner Ansicht nach durfte man kein Blut vergießen.
Herr Jeufroy erwiderte:
»Die Umstände erfordern es zuweilen. Wenn der Schuldige nicht das seinige hergibt, so ist das eines andern nötig, eine Wahrheit, welche uns die Geschichte des Erlösers lehrt.«
Nach Bouvards Ansicht hatte sie zu nichts genützt, da fast alle Menschen trotz des Opfers unseres Herrn verdammt seien.
»Aber er erneuert es täglich im Abendmahl.«
»Und das Wunder vollzieht sich durch Worte, auch wenn der Priester noch so unwürdig ist.«
»Darin liegt das Geheimnis, mein Herr.«
Indessen heftete Viktor die Augen auf die Flinte, versuchte sogar, sie zu berühren.
»Davon bleiben mit den Pfoten!«
Und Herr von Mahurot schlug einen Pfad durchs Gehölz ein.
Der Geistliche hatte Pécuchet auf der einen, Bouvard auf der andern Seite, und er sagte zu ihm:
»Achtung, Sie wissen, Debetur pueris.«
Bouvard versicherte ihm, daß er sich vor dem Schöpfer demütige, aber er sei entrüstet, daß man einen Menschen aus ihm mache. »Man fürchtet seine Rache, man müht sich ihm zu Ehren ab, er hat alle Tugenden, einen Arm, ein Auge, eine Politik, eine Wohnung. Vater unser, der du bist im Himmel, was soll das heißen?«
Und Pécuchet fügte hinzu:
»Die Welt hat sich erweitert, die Erde bildet nicht mehr den Mittelpunkt. Sie rollt unter einer unendlichen Anzahl ihresgleichen dahin. Viele übertreffen sie an Größe, und diese Herabsetzung unseres Erdballs ergibt eine erhabenere Vorstellung von Gott.«
Also mußte die Religion sich ändern. Das Paradies mit seinen Seligen, die immer in Betrachtung versunken sind, immer singen und von oben auf die Marter der Verdammung herabschauen, ist etwas Kindisches. Wenn man daran denkt, daß das Christentum einen Apfel zur Grundlage hat!
Der Pfarrer wurde ärgerlich.
»Bestreiten Sie lieber gleich die Offenbarung, das ist einfacher.«
»Wie kann Gott gesprochen haben?« sagte Bouvard.
»Beweisen Sie, daß er nicht gesprochen hat!« sagte Jeufroy.
»Noch einmal, wer bestätigt Ihnen das?«
»Die Kirche!«
»Ein schönes Zeugnis!«
Das Gespräch langweilte Herrn von Mahurot, und er sagte im Dahinschreiten:
»Hören Sie doch auf den Pfarrer, er versteht das besser als Sie!«
Bouvard und Pécuchet verständigten sich durch Zeichen, daß sie einen anderen Weg einschlagen wollten, dann sagten sie am grünen Kreuz:
»Recht guten Abend!«
»Diener!« sagte der Baron.
Alles das würde Herrn von Faverges wiedererzählt werden, und ein Bruch würde vielleicht die Folge sein. Um so schlimmer. Sie fühlten sich von diesen Aristokraten verachtet. Man lud sie nie zum Diner ein, und sie hatten Frau von Noares mit ihren ewigen Ermahnungen satt.
Sie konnten jedoch den De Maistre nicht behalten, und etwa vierzehn Tage später machten sie wieder einen Besuch im Schloß im Glauben, sie würden nicht empfangen werden.
Man nahm sie an.
Die ganze Familie war im Boudoir versammelt. Hurel mit einbegriffen, und, was seltsam war, auch Foureau.
Die Zucht hatte Viktor nicht gebessert. Er weigerte sich, seinen Katechismus zu lernen, und Viktorine gebrauchte schmutzige Worte. Kurz und gut, den Jungen würde man ins Korrektionshaus stecken, das kleine Mädchen in ein Kloster geben.
Foureau hatte die nötigen Schritte übernommen, und er war im Begriff zu gehen, als die Gräfin ihn zurückrief.
Man erwartete Herrn Jeufroy, um gemeinsam das Datum der Trauung festzusetzen, die viel früher auf dem Bürgermeisteramt als in der Kirche stattfinden sollte: man wollte zeigen, daß man der Ziviltrauung Hohn sprach.
Foureau versuchte, sie zu verteidigen. Der Graf und Hurel griffen sie an. Was war die Behörde im Vergleich zum Priesteramt! – und der Baron würde sich nicht für verheiratet gehalten haben, wenn er nur vor einer dreifarbigen Schärpe getraut worden wäre.
»Bravo!« sagte Jeufroy, der eintrat. »Da die Ehe von Jesus eingesetzt ist …«
Pécuchet unterbrach ihn: »In welchem Evangelium? In den apostolischen Zeiten dachte man so gering von ihr, daß Tertullian sie dem Ehebruch gleichsetzt.«
»Ach! das wäre noch schöner!«
»Aber ja! und sie ist kein Sakrament! Das Sakrament bedarf eines Symbols. Nennen Sie mir das Symbol der Ehe!« Der Pfarrer antwortete vergebens, daß sie das Bündnis Gottes mit der Kirche darstelle. »Sie begreifen das Christentum nicht mehr! und das Gesetz …«
»Es zeigt seine Spur,« sagte Herr von Faverges; »ohne das Christentum würde es die Polygamie zulassen!«
Eine Stimme erwiderte: »Was wäre schlimmes dabei?«
Es war Bouvard, der halb von einem Vorhang verborgen war.
»Man kann mehrere Frauen haben wie die Patriarchen, die Mormonen, die Muselmanen, und trotzdem ein Ehrenmann sein!«
»Nie und nimmer!« rief der Priester. »Das Wesen des Ehrenmannes besteht darin, daß er jedem gibt, was er ihm schuldet. Wir schulden Gott Verehrung. Nur der Christ verdient den Namen Ehrenmann.«
»Nicht mehr als andere,« sagte Bouvard.
Der Graf, der in dieser Entgegnung ein Attentat auf seinen Glauben sah, begann dessen Lob zu singen. Er habe die Sklaven befreit.
Bouvard führte Stellen an, die das Gegenteil beweisen.
»Sankt Paulus empfiehlt ihnen, ihren Herren wie Jesus zu gehorchen. – Sankt Ambrosius nennt die Knechtschaft eine Gabe Gottes.
Der Levitikus, der Exodus und die Konzilien haben sie sanktioniert. – Bossuet stellt sie unter die Rechte der Menschen. – Und der Bischof Bouvier billigt sie.«
Der Graf wandte ein, daß das Christentum nichtsdestoweniger die Zivilisation gefördert habe.
»Und die Faulheit, indem es aus der Armut eine Tugend machte!«
»Aber die Moral des Evangeliums lassen Sie doch wohl gelten?«
»Nun, so gar moralisch ist diese Moral gerade nicht! Die Arbeiter der letzten Stunde werden ebenso bezahlt wie die der ersten. Man gibt dem, der hat, und nimmt dem, der nichts hat. Was die Lehre betrifft, einen Backenstreich zu empfangen, ohne ihn zu erwidern, und sich bestehlen zu lassen, so ermutigt sie die Frechen, die Feiglinge und die Schurken.«
Die Entrüstung wurde noch größer, als Pécuchet erklärt hatte, daß ihm der Buddhismus ebenso lieb sei!
Der Priester fing an zu lachen: »Ha, ha, ha! Der Buddhismus!«
Frau von Noares rang die Hände: »Der Buddhismus!«
»Wie …, der Buddhismus!« wiederholte der Graf.
»Kennen Sie ihn?« sagte Pécuchet zu Herrn Jeufroy, der sich in seinen Worten verfing.
»Schön! Hören Sie! Besser als das Christentum und vor ihm hat er die Nichtigkeit der irdischen Dinge erkannt. Seine Regeln sind streng, seine Anhänger zahlreicher als die gesamte Christenheit, und was die Inkarnation betrifft, so gibt es bei Wischnu nicht eine, sondern neun! Also urteilen Sie selbst!«
»Lügen von Reisenden,« sagte Frau von Noares.
»Die von den Freimaurern verbreitet werden,« fügte der Pfarrer hinzu.
Und alle sprachen zugleich: »Weiter doch, fahren Sie fort! – Sehr hübsch! – Ich finde das köstlich. – Nicht möglich!« So daß Pécuchet aus der Haut fuhr und erklärte, er werde Buddhist werden!
»Sie beleidigen christliche Frauen!« sagte der Baron. Frau von Noares sank in einen Sessel. Die Gräfin und Yolande schwiegen, aber der Graf rollte die Augen; Hurel wartete auf Weisungen. Der Abbé las in seinem Brevier, um seine Fassung nicht zu verlieren.
Dieser Anblick beruhigte Herrn von Faverges, und die beiden Biedermänner betrachtend, sagte er: »Wer selbst kein makelloses Leben führt, der sollte, ehe er das Evangelium angreift, gut zu machen suchen, was …«
»Gut zu machen suchen?«
»Kein makelloses Leben?«
»Genug! meine Herren! Sie werden mich verstehen!« Dann sich an Foureau wendend: »Sorel ist benachrichtigt! Gehen Sie zu ihm!« Und Bouvard und Pécuchet verließen das Haus ohne zu grüßen.
Am Ende der Allee ließen sie alle drei ihren Groll aus: »Man behandelt mich wie einen Dienstboten,« brummte Foureau, – und da die anderen ihm zustimmten, empfand er für sie trotz der Erinnerung an die Hämorrhoiden etwas wie Sympathie.
Chausseearbeiter waren auf der Strecke beschäftigt. Der Mann, der sie beaufsichtigte, kam herbei; es war Gorju. Man begann ein Gespräch. Er überwachte das Aufschütten des Weges, dessen Anlage 1848 beschlossen war, und er verdankte die Stellung Herrn Ingenieur von Mahurot.
»Derselbe, der Fräulein von Faverges heiraten wird! Sie kommen wohl von dorther?«
»Zum letzten Male!« sagte Pécuchet schroff.
Gorju machte ein Gesicht, als wenn er von nichts wüßte. »Ein Zerwürfnis! So, so!«
Und wenn sie seine Miene hätten sehen können, als sie ihm den Rücken wandten, so hätten sie gemerkt, daß er den Grund witterte.
Etwas weiter blieben sie vor einem umgitterten Stück Land mit Hundezwingern darauf stehen; daneben lag ein kleines Haus aus roten Ziegeln.
Viktorine stand auf der Schwelle. Hundegebell ertönte. Die Frau des Hüters erschien.
Da sie wußte, weshalb der Bürgermeister gekommen war, rief sie Viktor herbei.
Alles war im voraus fertiggemacht, und die Habseligkeiten der Kinder lagen in zwei Taschentüchern, die mit Nadeln zusammengesteckt waren.
»Gute Reise!« rief sie ihnen nach, überglücklich, dieses Ungeziefer loszuwerden.
War es ihre Schuld, daß sie die Kinder eines Sträflings waren? Sie schienen doch ganz sanft zu sein und sich nicht einmal zu sorgen, wohin man sie bringen würde.
Bouvard und Pécuchet betrachteten sie, wie sie vor ihnen dahinschritten.
Viktorine summte undeutliche Worte vor sich hin, während sie ihr Tuch am Arme hielt wie eine Modistin, die eine Schachtel trägt. Zuweilen wandte sie sich um, und angesichts ihrer blonden Löckchen und ihrer reizenden Gestalt tat es Pécuchet leid, daß er nicht solch ein Kind hatte. Würde sie unter anderen Lebensbedingungen aufwachsen, so würde sie später entzückend werden. Welch ein Glück, sie heranwachsen zu sehen, jeden Tag ihr Vogelgezwitscher zu hören, sie so oft er wollte zu umarmen, – und ein Gefühl der Rührung stieg in ihm empor, feuchtete seine Wimpern und machte sein Herz ein wenig schwer.
Viktor hatte sein Gepäck wie ein Soldat über den Rücken gelegt. Er pfiff, warf Steine nach den Krähen in den Furchen, lief unter die Bäume, um sich Stöcke zu schneiden; Foureau rief ihn zurück; und Bouvard, der ihn festhielt, fühlte mit Wonne in seiner Hand diese gesunden und kräftigen Kinderfinger. Der arme kleine Teufel verlangte nur, sich frei entwickeln zu können wie eine Pflanze in frischer Luft! Und er sollte zwischen Mauern bei Schulstunden, Strafen und einer Menge von Dummheiten verkommen! Bouvard wurde von einem aufsässigen Mitleid erfaßt, einer Entrüstung gegen das Schicksal, einem jener Wutanfälle, in denen man die Obrigkeit vernichten möchte. »Lauf!« sagte er, »vergnüge dich! Nütze die freie Zeit!«
Der Bengel rannte davon.
Seine Schwester und er sollten im Wirtshaus übernachten, – und bei Tagesanbruch sollte der Bote von Falaise Viktor mitnehmen, um ihn in der Strafanstalt zu Beaubourg abzuliefern; – eine Nonne des Waisenhauses zu Grand-Camp sollte Viktorine in Empfang nehmen.
Nachdem Foureau diese Einzelheiten erzählt hatte, vertiefte er sich in seine Gedanken. Doch Bouvard wollte wissen, wieviel der Unterhalt dieser beiden Bälge kosten konnte.
»Pah! …Eine Angelegenheit von dreihundert Franken vielleicht! Der Graf hat mir fünfundzwanzig Franken für die ersten Auslagen überwiesen! Welch ein Knicker!«
Und Foureau, noch mit dem Groll über die Verachtung seiner Schärpe im Herzen, beschleunigte seine Schritte, ohne ein Wort zu sagen.
Bouvard murmelte: »Sie tun mir leid. Ich möchte mich wohl mit ihnen befassen!« – »Ich auch,« sagte Pécuchet. Beiden war derselbe Gedanke gekommen.
Es gab wohl Hindernisse?
»Nicht die geringsten,« erwiderte Foureau. Übrigens hatte er als Bürgermeister das Recht, Findelkinder wem ihm gut schien anzuvertrauen. – Und nach langem Zögern: »Schön, gut! Nehmen Sie sie mit! Das wird ihn ärgern.«
Bouvard und Pécuchet nahmen sie mit.
Als sie nach Hause kamen, fanden sie Marcel, wie er unten im Treppenhause vor der Madonna kniete und mit Inbrunst betete. Den Kopf zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen, den Mund mit der Hasenscharte weit aufgesperrt, so hatte er das Aussehen eines verzückten Fakirs.
»Was für ein stumpfsinniger Kerl!« sagte Bouvard.
»Warum? Vielleicht erlebt er Dinge, um die du ihn beneiden würdest, wenn du sie sähest. Gibt es nicht zwei vollständig verschiedene Welten? Der Inhalt eines Vernunftschlusses hat weniger Gewicht als die Art und Weise, wie man schließt. Was tut der Glaube! Die Hauptsache ist, daß man glaubt.«
So wies Pécuchet Bouvards Bemerkung zurück.