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Es war tiefer Abend, und Straße und Nerafluß waren schon ganz in violette Schatten gehüllt, als ich hoch ob dem Dunkel in den Felsen mit Mauern und Türmen ein Städtchen sah. Mit den Füßen fest im Gestein, aber die schönen Schultern in den schwindelnd blauen Himmel gehoben, war es im Verlöschen der Sonne wie ein Werk halb aus Himmel, halb aus Erde anzuschauen. Ich stieg den Hügel hinauf und schlief in einer Kammer mit offenen Fenstern und einem wunderbaren Blick auf die dämmernde Abendlandschaft in der Tiefe. Beim Erwachen aber schien der ganze lustige Morgenhimmel durch diese Fenster hineinzustürmen.
In den Stufengäßchen und auf den offenen Plätzen war es herrlich herumzuvagabundieren. Da ward nun doch einmal nichts als Italienisch gesprochen. Heißer Sommer lag auf den grauen Dächern. Die Fliegen summten. Nun liegt Deutschland im Gebirg oder Meerbad, England allenfalls noch in einem kühlen Museum von Perugia oder Siena; die Herrschaften aus Rom und Florenz nisten sich weiter oben im Abruzzengebiet ein. Die Seele des Volkes blieb ungestört in ihrem Haus.
Narni hat seine Kathedrale, eine alte, feierliche Basilika, seinen Bischof, sein Rathaus, seine Brunnen, Abbati und Nonnen, seine mittelalterliche Burg, seine Signori, es hat seine lästerlichen Bettler, seine Schelmen und seine sehr schönen, tiefverschleierten Matronen. Am Palazzo Communale herrscht schon um zehn Uhr vormittags eine sengende Hitze. Aber zwischen ein und zwei Uhr nachmittags kam der Meerwind wie immer und strich erfrischend über die Ziegel und heißen Köpfe. Nun ward Narni munter. Das Laufen und Plappern in den Gassen fing an und wurde gegen Abend immer stärker und für den Fremdling entzückender.
Die Leute sind meist klein und mager und haben ein sonnverbranntes Gesicht. Sie singen das A und rollen das R in ihrem städtischen Namen auf eine unnachahmlich süße Art. Man sagt, sie konnten das R früher überhaupt nicht aussprechen. Denn in den grauen Etruskertagen hieß die Stadt Nequinum und war ohne Zungenbeschwerde zu sagen. Aber die Römer, die keinen Buchstaben so lieben wie das speer- und panzerklingende R, nannten die Stadt Narni, und die weicheren Nachkommen lassen es heute mit einem milden I ausklingen.
Ohne weiteren Zweck, einzig zum Übernachten, war ich hergekommen. Aber nun blieb ich Tage und Tage hier und kam fast nicht mehr fort. Denn gar kurzweilig ist es in so einem klassischen Häusernest. Und man wohnt in Narni wie an der Türe zu den wichtigsten und feinsten Stuben der Welt. Noch ein paar Stufen hinab, und man steht vor der gewaltigen Campagna mit ihrem urweltlichen Hirten- und Historienodem. Da hocken wir Leutchen uns denn gern noch einmal zuvor an der gastlichen Narnischwelle so recht schwalbennestlich zusammen. Aber auch schon mit etwas Zugvogelgeist! Man versucht schon leise seine Fittiche. Ein paar schöne Schwünge ostwärts, und man sitzt auf den Gipfeln des Gran Sasso. Aber heute und morgen und übermorgen bleiben wir hier und halten uns recht warm!
Das Städtchen ist klein. Ich kannte bald den Pfarrer dieser und jener Kirche, den frühesten Eisverkäufer, den lautesten Zeitungsjungen, den ältesten Bürger und den Laden, wo man für ein paar Soldi sozusagen alles und noch einiges kaufen konnte, vor allem ganz wunderbare Schuhschnüre. Und haltbare Schuhschnüre sind etwas Wichtiges im Menschenleben. Wenn sie reißen, hält kein Schuh mehr, gibt es keinen richtigen Erdenschritt, ist alle Ordnung und Disziplin des Lebens zunichte. Aber Schnüre, gewichst und glänzend, wie die des Händlers Bornio, von seinem Burschen Vittorio dreimal durch die Tigerzähne gezogen, um ihre irdische Unverletzlichkeit darzutun, solche Schnüre geben dir einen festen Schritt und damit einen wahrhaft männlichen Charakter. Du fühlst dich groß, stark, einheitlich, du holst aus wie ein Riese, die Welt dünkt dich klein. Nichts ist dir unerreichbar. Du lachst. So eine Kleinigkeit wie Schuhschnüre! Aber ich sage dir, an dieser Kleinigkeit hängt der ganze Mensch.
Auch die Musikanten von Narni und den Organisten Leponti kannte ich sofort, den Tüncher Berani aus Neapel und das Fräulein Bigna, das rote und blaue Nastüchlein straßauf, straßab verkauft und bei allen Heiligen von Umbrien beteuert, daß sie nicht abfärben. Und zum Beweis schneuzt sie sogleich in so ein rotes Tuch und zeigt es triumphierend her: Ecco, was rot ist, bleibt rot, und die weißen Tupfen bleiben weiß. Nun hat das Jüngferlein ja freilich ein sehr schönes Stulpnäschen, so daß diese Reklame immer noch appetitlich bleibt. Ja, es gibt Bürschchen in Narni, die dann gerade so ein Musterfazzoletto wollen, in das Teresa Bigna sich vorwitzig geschneuzt hat, und das Mädchen ist schlau genug, den roten Fetzen sogleich um zwei Soldi teurer anzubieten.
Aber ich kannte auch die drei vornehmsten Knaben aus dem altadeligen Geschlecht der Portaglioni, die immer miteinander in einem unvergleichlich kavalieren Schritt die Gassen niederspazieren, Ellbogen in Ellbogen, sich auch im engsten Sträßchen nicht loslassen, so daß man ihnen ausweichen muß, und die dann und wann eine halbe Zigarette einem Barfußjungen vor die Füße werfen und sagen: »Carling, da, rauch sie fertig!« Und Carlo Sestini, der Sohn des Portiers im Palazzo Portaglioni, nimmt sie flink auf und putzt das Mundstück ab, nicht etwa aus Ekel, sondern aus Ehrfurcht, und raucht dann stolz und glücklich den Rest fertig. Weiter unten, gegen das Ristorante del Re, steht einer der Prinzen dem Balzo Feda auf die nackten Zehen, weil er ihn so verwundert angeglotzt hat, und sagt mit seinem feinen Herrenstimmlein: »Schrei nur, du Laffe! Warum gaffst du mir so dumm ins Gesicht! Da hast du's!« – Jedoch, vor dem Albergo di Luna schwingen alle drei ihre Panamas in einem flotten Kreisel über dem glattgekämmten Scheitel und grüßen ritterlich an ein Fräulein von sechzehn Jahren hinauf, das am Fenster sitzt, bleich und kühl, als friere es da oben im Schatten, und sich doch in feierlichem Hin und Her die Wangen fächelt. Das ist das Nichtlein des Bischofs! Es nickt ein bißchen und lächelt schwach hinunter. Und die drei Ritter verneigen sich auch ein wenig. Aber der bleichste von ihnen mit den schwärzesten Augen, der gleiche, der vorhin den armen Zeitungsbuben Balzo so grausam mit dem blanken Stiefel getreten hat, wirft hintenher mit seiner schmalen Aristokratenhand einen galanten Kuß hinauf. Jetzt errötet das frierende Kind oben am Gesimse und deckt sich schnell das Gesicht mit dem Fächer. Und so bleibt es, bis die Jünglinge längst um die Ecke verschwunden sind. Dann schaut es furchtsam in die Gasse, ob wohl jemand etwas bemerkt habe. Dann lächelt es leise und schließt die Augen halb und erlebt das süße Ereignis noch einmal und friert auf einmal nicht mehr. Da knarrt die schwere Türe hinter ihr im dunkeln Zimmer auf, und die schwarzverschleierte Mutter, ein großes Gebetbuch in der Hand und schon einen ganzen kerzenreichen Gottesdienst in den Augen, ruft leise: »Kind, komm! Es ist Zeit!« – »Gern, gern«, klingelt das Mündchen der Kleinen; sie wirft ein weißes Spitzentuch über das schwarze Haar und geht mit der Mutter in die Abendandacht. Oh, sie kann jetzt fröhlich beten! Ganz tapfer ist ihr zumute. Besonders für einen Menschen will sie beten. Ja, für ihn ganz allein diesmal. Denn er selber betet wohl nicht mehr viel und ist ein gefährlicher Knabe. Aber am Sonntag – nein, er ist doch ein guter! –, da spielt er im Hochamt das Ave Maria auf seinem Cello während der Opferung. Es tönt durch die alte Kirche, süßer als der reinste und frömmste Vogelgesang. Es zwitschert und zittert und seufzt um die alten Marmorengel an den Säulen, zum Onkel Bischof auf seinem geschnitzten Thron und vor die vergoldeten Türen des Tabernakels. Und der Bischof blickt vom Pultbuch auf, und Domherr Agni vergißt zu schnupfen, und die Mutter selbst, die strenge Donna, nickt auf und ab mit ihrem steifen Kinn: »Dieser Innocente di Portaglioni ist ein junger Erzengel, ein Michael oder noch vielmehr ein Gabriel.« – »Nein, Mutter, nein«, erwidert das Mägdlein, »so heilig ist er nicht. Vielleicht jetzt, wo er geigt. Da vergißt er alle Bosheit. Aber in der Stadt plagt er die Mädchen und die Knaben und ist jähzornig wie ein Gewitter und will, daß ihm alle gehorchen. Heilige Maria, Muttergottes, bitt für uns arm... bitt für Innocente, den armen Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens. Amen!«
Indessen wandern die drei Portaglioni die dämmernden Sträßchen auf und ab, schauen alles an, als gehöre es ihnen, reden, mit wem sie wollen, trinken da ein Glas Eislimonade, kaufen dort ein Biskuit und lassen sich vom Schuhhändler Magazzi das neueste Paar Herrenstiefelchen zeigen, grüngelbes Leder, Schnüre, wie goldene Schlänglein, einen Schnitt und eine noble Fußspitze, wie gemacht für sechzehnjährige, schlanke Cäsarenschritte. Sie mustern sie, stoßen schnell ein paar Worte aus und gebieten mehr mit der Hand als mit dem Mund: Daß dieses Paar noch heute abend ins Palazzo getragen wird... Schurke, heute abend noch, sonst...!, bedeutet Innocente dem Laufbuben.
Ach, sie haben Geld, diese Knaben! Nur einige Sommerwochen wohnen sie hier oben in ihrem Stammhaus, mit einem Hauslehrer, zwei, drei Dienern und dem Verwalter, alles Leuten voll Buckeln und Bücklingen. Denn die Mutter ist leider gestorben, als noch keiner der drei Buben ordentlich laufen konnte, und der Vater politisiert in Rom und geht den eigenen, wahrlich nicht häuslichen Freuden nach. Und so ist es nicht zu verwundern, wenn die drei jungen Marchesi nun laufen, toll und böse und gewalttätig und in so harten, feinen Stiefeln, als ihnen gerade gefällt, so vielen Abhängigen diese Sohlen auch Schmerzen machen. Später weilen sie im Meerbad zu Livorno oder in einer Bergvilla gegen Vallombrosa zu. Die übrige Zeit verbringen sie in Rom. Sie studieren alle drei Rechtswissenschaft und kümmern sich daneben um nichts als die eigene Rechthaberei. Aber sie haben alle etwas Gutes an sich, einer musiziert großartig, Cenzo malt vortrefflich, und Piero ist ein Mathematiker kühlen Geistes. Dabei reiten sie, fechten sie, spielen sie Boccia wie kein zweiter in Narni, und endlich werfen sie Geld nach allen Seiten aus, und wen sie wohlmögen, den überschütten sie mit den herrischen Almosen ihrer Barmherzigkeit.
Wie sie den Hauptweg herauf zum Palazzo zurücksteigen, kommt ihnen der barfüßige Balzo wieder in den Weg. Sicher, er hat auf sie gelauert. »Vossignoria«, sagt er diensteifrig, »das haben sie verloren, eccolo!« Und mit seinen Sudelfingern hält er ihnen ein weißseidenes Taschentüchlein entgegen, das einem der Marchesi entschlüpft sein muß. Denn es ist mit einem verschnörkelten Wappen und prachtvollen P in jeder Ecke bestickt. Schlau hält er das Tuch hin. Und dieser ewige Innocente mit seinem so unpassenden Taufnamen schaut es an, spuckt hinein und wirft es dem Bettelbuben ins Gesicht: »Teng! Behalt es nur!« – Ich hab' es zufällig erhascht, dieses elende, hochmütige Teng! Und so empört war ich, daß mir die Füße in den Sandalen zitterten wie auf einem schwindeligen Grat in den Abruzzen.
Ah, das sind nicht mehr die Jungen von Pratimonti und Ferocemonte! Denen sollte einer auf die Zehen treten oder so einen Fetzen besudeltes Almosen ins Gesicht schleudern! Potz, die würden so ein Gräflein nicht übel in ihre Hirtenfäuste packen und aufs Pflaster strecken. Aber hier sind es wieder zahme Umbrier und... ach, diese Leute kennen das Alphabet! Und das Alphabet lehrt ein wüstes, gemeines Wort, das heißt: arm, und ein schönes, kostbar duftendes, das heißt: reich! Und das gleiche Alphabet hat ein beschmutztes und verspienes Wort, das lautet: Knecht! Und es hat ein anderes Wort voll glänzender Härte, das lautet: Herr! – Merkt euch, ihr Schwachen und Furchtsamen und Dienstseligen, dieses Alphabet gut!
Indessen, diesem Lümmel von einem Balzo bin ich am nächsten Tag vor dem Städtchen begegnet. Er verkauft morgens und abends die römischen Blätter und den »Corriere«. Jetzt war er eben fertig mit dem Morgengang, zündete eine letzte, verkrempelte Zeitung an und hielt sie tapfer in der Hand, bis sie ganz Feuer war. Da ließ er sie fallen, und ich sah etwas Schlüpfriges und Schnelles aus der Flamme gleiten. Eine Eidechse! Der Schlingel hatte sie im »Secolo« munter verbrennen wollen.
Sogleich verflog mein soziales Mitleiden und ich brummte: Es geschieht ihm ganz recht, wenn sie ihm wacker auf die Füße treten!
Am Abend saß ich im Scheine der Lampen vor dem Ristorante Barzola und trank mein Korbfläschchen Chianti. Der Himmel blitzte von sieben oder acht großen und hunderttausend ganz kleinen Sternen. Ringsum an den Tischen ward getrunken sehr spärlich und geraucht ganz ungeheuer. In den Nebensträßchen schäkerten die Mädchen und jubelten oder pfiffen die Gassenrangen. Manchmal kam ein Schrei aus dem Dunkel ans Licht zu uns herein. Zuerst hatte es wie Schrecken geklungen, ward dann aber zahmer, je lichter es ringsum wurde, und schien zuletzt in Lustigkeit aufzugehen. Mir war wohl, wie nie auf der schweren Schweizer Erde. Ich hatte an keine Briefe und Bücher zu denken, an keine alte Studierstube, an keine Besuche, an keine Arbeit und Sorge. Ich war frei. An den Tisch da konnte ich sitzen und mit dem Ellbogen auf die Platte klopfen und sagen: »Gebt mir Risotto und roten Wein!« Und ich konnte an den Tisch dort sitzen und sagen: »Ich will ein Hühnchen und Makkaroni!« Und an einen dritten Tisch konnte ich sitzen und befehlen: »Hier laßt mich einen Kaffee trinken und schweigen und zuhören!« Ach, wie frei, wie leicht, wie vergnügt saß ich da! Nie waren mir die Hosen so bequem, nie Rock und Weste so weit und lustig vorgekommen. Es nahm mir den Humor darum auch nicht, als plötzlich die drei vornehmen Jünglinge wieder kamen, Arm in Arm, niemand ausweichend, und sich, da alle andern Tische rasch besetzt waren, an meine kleine Tafel setzten. Allerdings, sie machten eine sehr artig entschuldigende Verbeugung. Rechts und links zog man tief den Hut vor den Grünschnäbeln ab. Zweimal redete sie eine Notabilität von Narni, der Sindaco und ein prachtvoll aufgeputzter Maggiore an. Aber was die Knaben erwiderten, war ein kurzes: Si! No! Si! Mehr schenkten sie keinem Ohr. Dazu rauchten sie sehr feine, würzige Zigaretten, deren Duft durch den übrigen Tabakrauch in blauen, zierlichen Weihrauchringeln in die Nachtluft flog, ohne sich mit dem allgemeinen Kanaster zu vermischen.