Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Sesto stutzte. »Ja, ich habe dich morden gelehrt, du hast recht,« schrie er auf, »und darum sage ich ja, hast du meinethalb alles verloren, die Berge und die Ziegen darin und die Hütte von Paritondo und das Messläuten und die Freiheit und die Ehre und das Leben. Dich sollte man am Leben lassen und mich dafür zweimal töten.«

»Vater, dummes Zeug, was du sagst, schweig' doch!« trotzte jetzt Poz'do. »Das ist alles nicht wahr. Viel besser weiss ich, wie du mich nie hast mitnehmen wollen. Oft, wenn ihr Mannen euch zu einem Streich fertig machtet, hast du mich auf die Alpe Pigori geschickt für nichts und wieder nichts. Einmal musste ich an die Schafschur nach Visso und vielmal im Querciawald Eichenrinden suchen. O ja, immer wolltest du mich weghaben. Da bin ich dir aber einmal doch nachgeschlichen. Weisst du noch, über der Majaschlucht, wo ihr ein Feuer machtet, traf ich dich. Die andern riefen: 'bravo, Poz'do, bravo!' Aber du hast mich...« – Poz'do lacht mit allen breiten Zähnen – »halbtot geprügelt und wie einen Hund heimgeschickt. Das zweitemal aber widerstand ich durchaus und da sagtest du:: 'In Gottes Namen, wir können nichts dafür, das liegt im Blut!' So, Vater, hast du gesagt.«

Was sollte Sesto darauf entgegnen? Es ward ihm schwerer und leichter zugleich, wie einem, dem man aus der einen Hand nimmt und in die andere gibt. Es war froh, als in das ratlose Schweigen Schritte vor dem Verlies erschollen. Die drei Eisenriegel des Pförtleins wurden weggeschoben. Der Wärter erschien in der Öffnung. Bisher kalt und mit den stummen Äuglein schon zum voraus jede Frage ablehnend, war er jetzt wie ein umgekehrter Handschuh geworden. Er trug ein Körblein am Arm, verneigte sich damit höflich und warf in einem tüchtigen Schwung ein reines Tischtuch über ihren Steinklotz, an den sie tafelten. Zugleich winkte er den Pagen herein, der hinter ihm noch auf der Schwelle wartete. Dieser trug eine weite Silberplatte auf den Armen mit Krüglein und Tellern und Bechern, die lustig aneinanderklingelten und einen unsäglich feinen Duft von Gebratenem und Gebackenem in diese Hungerzelle ergossen. Überall am Geschirr war die dreifache Krone und das gekreuzte Schlüsselpaar Petri eingestichelt. Der Page hatte aber, das sah man seinem sirupverschmierten Stupsnäslein und dem Kinn und breiten Krausenkragen an, unterwegs wie ein Vogel mit dem Schnabel aus der gehäuften Pfirsichschale stibitzt. Denn an den Henkeln des schweren Tabletts konnte er keinen Finger frei bekommen. Nun hatte er wohl rasch den süssen Verrat ums Mäulchen mit der Zunge säuberlich abgeschleckt, so dass es da wie die lautere Unschuld aussah. Aber die Spitzbüberei an Nase und Kinn, wohin die längste Schelmenzunge nicht reichte, widerlegte ihn gewaltig. »Seid nicht böse,« wollte er darum fröhlich bitten. Aber als er nun zum erstenmal mit seinen Salonstiefelchen in so ein entsetzliches, unmenschliches Freiheitsloch klapperte und den Moder der schimmeligen Wände roch und als er gar den schönen, wilden Buben da sitzen sah, wohl einen gleichalterigen und doch schon Ring und Kette an den Füssen und weiss Gott was für Missetaten auf dem Gewissen, ach, da zerrann ihm der Spass, und er besann sich nur noch auf seinen kurzen Auftrag. Mit wohltönender, aber zitternder Stimme lud er ein: »Signori, erlabet euch! Das Gedeck kommt von seiner Heiligkeit Allerhöchstselbst. Es ist das Geschirr und Nachtessen des Papstes. Er bittet euch, sich dessen mit so gutem Herzen und so tapferem Appetit zu bedienen, als er sich vor einer Stunde euerer beiden Näpflein bedient hat. Ihr möchtet ihn jetzt und immer brüderlich im Sinne behalten. Gott gesegne euer Essen und Trinken!«

Mit diesem üblichen Tischspruch und einer so melodischen Verbeugung, wie sie nur die Colonnapagen – die Orsini sind stolzer und steifer – hienieden fertig bringen, verabschiedete er sich und vergass vor dem Ernsten, was er eben gesehen, auf dem ganzen Rückweg seine Dieberei wegzuwischen, obwohl er nun beide Hände frei hatte. Erst als er in die vatikanischen Gärten gelangte und sich plusternd und federnd wie ein Vogel an der frischen Luft und am köstlichen Spritzwasser der Fontana Conti vom Gestank und Grausen jenes Verliesses erholt hatte, gewann er die schnelle lose Spatzenart seines Berufes zurück und bespiegelte sich im fackelhellen Wasser. Da sah er nun die Sirupnase wieder und strich sie lachend mit den weissen Fingerspitzen in den Mund. Es schmeckte auch so noch kostbar.

Viel königlicher benahm sich der andere Knabe im Gefängnis. Mit einem schnöden Blick strafte er das ganze Tafelzeug und sagte dann trocken zum Schliesser: »Ach was, wozu nun so hintendrein diese Grosshanserei? Was brauchen wir noch Essen und Trinken? Daran hätte man früher denken sollen. Kommt der Korb da etwa auch noch vom Onkel Papst?«

»Nein«, erwiderte der Wächter verlegen. »Schon vor Wochen hat ihn ein altes Männlein aus den Abruzzen gebracht. Ein Pfarrer oder so was. Er redete bald Latein, bald ein Römisch, das ich noch nie gehört habe. Nun, zu den Gefangenen darf ich nichts ein– und nichts auslassen, bis sie freigesprochen ... oder ... ja ... oder...«

»Wir wissen schon, sag's nur!« forderten Sesto und Poz'do, einer mild, einer stolz.

»Oder am letzten Tag sind. Und jetzt ist euer Urteil am Tor angeschlagen, und so habt ihr auch den Korb, wiewohl ich nicht begreife, wozu einer diesen blöden Mist so weit her zur Stadt tragen...«

In diesem Augenblick schoss ihm rot und zischend wie ein Blitz eine Ohrfeige auf die Backe, wie man wohl in ganz Rom runder und vollendeter noch nie eine erlebte. Denn Poz'do hatte schon den Korb über das silberne Gedeck ausgeschüttet. Was war da herausgekollert: ein paar Steine und Erdschollen von Paritondo, einige silbergraue Zweige der Bergolive und der derbe Bart eines Abruzzen–Geissbocks. Und diese Herrlichkeiten, wogegen das ganze Kuppeln– und Säulen–Rom ein zerbrechliches Schachtelzeug war, hatte der Mensch da ... gut, wohl ihm! ... er war schon hinausgegangen! Er hatte wohl noch eine tiefe Reverenz vor der Ohrfeige des päpstlichen Neffen gemacht und wird fürder damit wie mit einer Rangerhöhung prunken.

Nun erst, als den Bergleuten das Abruzzengeschenk da mitten im Silber allein und ohne fremde Augen gehörte und mit der echten Figur und dem scharfen Geruch der Alpen zu Kopfe stieg, fanden sie nicht Worte, nein, Schreie des Entzückens.

»Vater, die Heimat!«

»Die Heimat, Poz'do!«

Sie fragten nicht nach da Dia oder wem, der das gebracht haben könnte, auch nicht nach Frau oder Mutter, die das vielleicht geschickt habe. Was war da Dia und was war gar erst Schuora Anizia? Er ein Prete und sie schon vielmehr eine Haushälterin Peretti als Frau Peretti; wie alle diese Gebirgsmütter, nachdem sie den jungen Mann beglückt und ihm Kinder beschert haben, bei allem Mannsvolk und zuerst bei den eigenen Jünglingssöhnen wieder zum Rang einer Magd herabsinken, aus dem sie für eine kurze Festzeit emporgeholt worden waren. Was also war das alles, und wäre da Dia ein Prete wie San Bernardino und Anizia eine Padrona wie die Grossmutter Christi! Das da ist Heimat, mehr gibt es nicht.

Der starke Sesto nimmt jeden Erdknollen und jeden Kiesel in die Hand und küsst und segnet ihn mit feuchten Blicken. Und Poz'do riecht am Geissbart und an den verdorrten und doch so lieben Olivenblättern, und in ihren von der römischen Fieberluft entzündeten Augen steigt sie mit majestätischer Frische auf, kühlend und schattend und herzberuhigend, diese wilde, hungrige, verlotterte und doch so unendlich teure Abruzzenheimat. Wie ein helles Wolkengebilde steht sie vor ihnen, das jetzt aus dem blauesten Phantasiehimmel hervorwächst, mit hundert seltenen Gesichtern winkt und dann wieder langsam verrinnt. Sie sehen das elende Geschiebsel von vierzehn Hütten, aber hören darum und daran von weissen Ziegen und gelben Schafen ein süsses Getrappel. Die dunkelgrün niederhangenden Schatten des Querciawaldes spielen darob und noch höher, bald weiss wie Jubel, bald grau wie das Unglück, ragen die Giebel des sibyllinischen Felsenpalastes empor. Ach, das alles steigt aus dem elenden Laub und Lehm da herauf und benimmt den zweien die Sinne. Was ist doch das für ein Himmel der Paritonder? So hoch wie kein Himmel über Rom und so blau wie keiner ob Neapel und so still wie Gottes Seele, die darin schläft. Drum schweigt an solchem Orte alles und sind auch die alten Sibyllen aus ihrer tausendjährigen Ruhe noch nie erwacht. Nur zwei dunkle Pünktlein leben in diesem Himmelmeer, das Adlermännchen und Weibchen vom Quineshorst. Zehnmal flintenschusshoch nehmen sie täglich um Mittag ihr Sonnenbad, die Adlerin in einem kleinern Kreis sich wiegend und immer zum Nest der Jungen zurückäugend, er aber, in weitem selbstherrlichen Bogen um die Frau und ihre Sorgen herum. Und unten im Menschenhorst von Paritondo sieht man nun auch junge und alte Menschenvögel. Na, am Stubenfenster lebt und klebt also noch immer der alte Solio, und die Hühner der Teresi und der Puritani streiten sich auch immer noch ums Bächlein herum. Auch der Laffe Simione stottert noch immer zur Küsterei hinauf sein »Ga .. arr .. rasso .. grasso, fate sempre gr .. arar .. asso!«, obschon die arme Anizia immer nur Suppensalat kocht. Und nun ist es ja freilich wahr, am Haus neben dem Kirchlein rätscht Frau Peretti den Hanf über die Dreschklappe. Ist es der Hanf oder ihr eigen Haar, was so grau schimmert? Sie schaut nicht ein einziges Mal auf und hält sich nah ans Gefaser. Sieht sie denn nicht mehr gut oder drückt ihr das Alleinsein schon den Kopf so tief? Jawohl, das müssen wir gelten lassen, untadelig war sie. Wenig Liebe genoss sie. Sie wird wohl wieder heiraten, wenn der Kummer verraucht ist. Weg, weg! ... Doch sieh, es muss Samstag sein. Don da Dia schnauft langsam von Surigno herauf. In die Kirche, Sigrist! morgen gibt es eine gesungene Messe. Ja, da stehen wir schon mitten drin, aber was ist das für eine Ordnung! Die Weihwasserbecken sind trocken, die Kränze am Altar dürr und die Heiligenbanner voll Staub, auch das ewige Licht knistert und spritzt wie am Erlöschen. Alles ist verlottert, seit wir nicht mehr dabei sind. Aber wie kommt das, die Madonna am Altar steht ohne Stäubchen und Spinnfaden da. Und wie sie nur immer noch so lächeln kann! Ach ihr tut nichts weh! Lächle sie nur! Sie darf ja immer in Paritondo unter den hohen Bergen, im kühlen Kirchlein bleiben und dem Wind und den Ziegenschellen draussen und den wohlklingenden Litaneien in den Bänken zuhören. Hat sie es schön! Schau, schau, wie ihr Lächeln immer grösser wird! Und doch hat sie immer noch keinen Schleier! Oder doch? Was ist nun das, ist das ihr wehendes Haar oder ihr Lächeln oder ist es doch ein heller Schleier? Ja doch, ja, es ist ein Schleier, schneeweiss aus ihrer reinen Hand wie ein feiner Mondschein quillend, zu ihnen hinüber. Nehmt ... Söhne ... meinen Schleier ... zum Schirm ... zum ... Schlei ... er ... nehmt ... Schlei ...

Unter diesem Schleierwehen sind Sesto und Poz'do nun doch gegen alle Verabredung eingeschlafen, die Schollen der Heimat fest in die Hand geklammert. Und das Lächeln der Madonna lächelt und der Schleier flattert durch die Träume weiter. Sie atmen nicht wie unter dem Dunkel der letzten Armsündernacht, sondern ganz wie Freie unter einer schönen umbrischen Mittagssonne sich ins Gras legen und, während es ihnen unzählige kleine Wunder ins Ohr flüstert, darüber ein Stündchen einschlafen, um dann fröhlich ihrer lieben seligen Freiheit weiter zu folgen.

6. Kapitel

Noch sehr spät, als die Laternen auf der mittleren Engelsbrücke schon gelöscht waren, rannte der spindelbeinige, kleine, zarte Doktor beider Rechte Vincente Mione in den Vatikan, ein Jurist, der von der Kurie wiederholt in heikeln Prozessfragen beraten worden war, und heischte dringend und um jeden Preis den Zutritt zum Papst, auch wenn Seine Heiligkeit schon zu Bette gegangen wären, was er übrigens nicht glaube, da er vom Petersplatz das Lämpchen im päpstlichen Studierzimmer noch deutlich bemerkt habe, und da männiglich wisse, dass Sixtus nie vor Mitternacht den Schlaf suche. Als es dem Dottore dennoch nicht gelingen wollte, den Durchpass zu erzwingen, zog er kurz und gut ein federleichtes Tuchpäcklein und einen dickversiegelten, mit derben Daumennägeln petschierten Brief aus dem Magistermantel und sagte: »So bringt wenigstens das noch dem Papst! Es betrifft Seiner Heiligkeit armen Bruder.«

Binnen kurzem ward der Doktor ins Schreibzimmer verlangt und vom Papst, der ohne Sandalen, barfuss am Pültlein stand, und vom Kerzenschein oder von der Aufregung oder auch vom tagüber tapfer verstellten, aber in überwachter Nacht ganz offenbaren Herzleiden ein fahlgelbes, schwerkrankes Gesicht zeigte, ganz gewaltig angefahren:

»Warum bringt Ihr mir dieses Schreiben erst jetzt, unglücklicher Mann? So redet doch.«

»Don Dia wollte es so haben,« versetzte der dürre Paragraphengreis, der eigentlich selbst nichts anderes als einen von den vielen mageren Paragraphen seines Faches vorstellte. In voller Ruhe fuhr er fort: »Erst wenn es mit den Gefangenen schlimm würde, sollte ich Euerer Heiligkeit diese Sachen bringen. Nun habe ich soeben auf dem Heimweg vom Archiv der Konsulta den Anschlag an der Kirche Santa Maria Maggiore gelesen. Da war kein Atem zu verlieren. Ich holte Brief und Säcklein des alten da Dia und da bin ich.«

»Wer ist dieser da Dia? Woher kennt Ihr ihn?«

»Er hat mit mir in Perugia Latein studiert und...«

»Ein barbarisches Latein, fürwahr«, konnte sich Sixtus nicht versagen, mitten in einer Sache auf Tod und Leben einzuflicken. »Wie kann einer sepuluit statt sepelivit schreiben?« tadelte er mit der ganzen Gekränktheit seines klassischen Empfindens.

»Dieser Mann ist verbauert. Euere Heiligkeit mögen bedenken, dass da Dia seit vierzig Jahren in den obersten Abruzzen pastoriert. Das ist kein Garten für Cicero–Perioden.«

»Dottore! Zur Sache!«

»Vor zwei Wochen war der alte Pfarrer bei mir. Gott weiss, wie er so weit herkommen und einen Advokaten meines Namens ausfindig machen konnte. Denn weder sein Latein, noch sein Italienisch klang den Hiesigen verständlich. Und kaum dass er mir die zwei Sachen gegeben und gedankt hatte, ist er auch schon wieder verschwunden. Diese Abruzzenkinder bekommen ja alle gleich Heimweh in der Stadt. Aber das rief er mir noch ernstlich nach: Erst wenn es ans Blut ginge, möchte ich Euerer Heiligkeit diese Dinge abgeben.«

»Kennt Ihr den Brief?«

»Nicht vom Skriptum! Doch hat da Dia in seinem Kauderwelsch mir das Primo und Secundo und Tertio ordentlich klar gemacht.«

»Und was meint Ihr dazu? Redet bündig, es ist Schlafenszeit!«

Durch den braungemeisselten Greisenkopf schoss ein Funke jener genialen Schlauheit, die so selten und nur in grossen, kühnen Augenblicken Feuer fängt. Seitdem Mione da Dias Auftrag besass, stand es bei ihm fest, dass er die Rettung der zwei Peretti mindestens probieren wolle. Nicht aus alter Kameradschaft zum Kumpan von Perugia, und nicht aus irgend einer Freundlichkeit für die beiden so interessanten Häftlinge, sondern allein aus einem glühenden und hochragenden Ehrgeiz heraus, seine juridische Kunst auf die höchste, menschenmögliche Wirkung emporzuschrauben. Aus dieser Gier heraus hatte er sich immer lieber den schwierigen als den leichten Rechtsfällen zugewandt und den siegreichen Sachwalter in geradezu halsbrecherischen ja, schier unmöglichen Causis gemacht. Man sagte ihm nach, er könne weiss als schwarz und schwarz als weiss beweisen, und wenn er einem Eilenden dartue, dass er stehe, statt zu laufen, glaube es dieser und fange an zu galoppieren. Dem Mione war denn auch schon Grosses gelungen. Er hatte Leibeigene aus der Fron der Massari, dieser härtesten aller römischen Herren, befreit; Landgüter den Colonna abgestritten und für die Borghesi erobert oder auch umgekehrt, als wäre die Erde sein; Gottesleugner überführt, dass sie einen Muttergottesaltar gelobt hätten, und ihr nun gar ein Kirchlein bauten; oft war er schief, oft gerade gegangen, aber immer sieghaft. Nur eines war ihm noch nie gelungen, den starren Papst Sixtus aus der Strenge zu werfen und ihm dort, wo man zwischen Schafott und Gefängnis und zwischen Gefängnis oder Geldbusse oder endlich zwischen Geldbusse und blossem Verweis füglich wählen konnte, den mildern Entscheid abzuringen.

Es kam dazu, dass Mione ein alter Römerbürger war und eigentlich jeden nichtrömischen Papst als Fremdenherrschaft betrachtete. Besonders hasste er wie übrigens seine ganze Gilde die seinem römischen Rechtsempfinden und den städtischen Privilegien so feindliche bauerngrobe Justiz des Papstes, und so hoch er das Amt ehrte, so wenig konnte er sich mit der rauhen und harten Amtsführung befreunden. Nichts hätte er daher lieber gesehen, als wenn Sixtus einmal über seinem Herzen und damit über einem festen Kanon seiner Rechtsordnung gestrauchelt wäre. Dann hätte der Papst den Ruf des Unparteiischen, auf den er wie ein Fels pochte, sogleich verscherzt. Denn dieser Fels hätte einen Sprung bekommen und damit den Glauben an seine Unüberwindlichkeit verloren. Eine Spalte reisst hundert Sprünge nach sich und lockert das ganze Gefüge. Sixtus als ein kluger Mann würde nach einem solchen Fall sich der Politik der Milde zuwenden, um mit seinem Ansehen nicht zwischen Tisch und Bänke zu fallen.

Bis heute hatte Mione schon oft Gelegenheit gehabt, einen Versuch an diesem Felsen zu machen. Aber er hatte ihn nie auch nur leise spalten können und gab die Hoffnung allmählich bei seinen hohen Jahren auf.

Aber da kam es noch einmal wie ein grosser Wink an ihn, als da Dia ihm sein so karges und so hilfeschreiendes Brieflein vorlas und den Schleier der Madonna aus dem Paket zeigte. Jetzt fing ihn dieser Fall Sisto e Sesto, unter welchem hübschen Wortspiel der Prozess in allen Sälen und Höfen Roms längst verhandelt wurde, auch zu interessieren an. Da bot sich ja nun eine letzte, gottgegebene Probe seines Genies am Genie des Papstes. Hier spielten Familienblut und Heimatliebe in die Sache, und aus aller Roheit und Verwüstung des Gewissens schimmerten die goldenen Spuren eines ungepflegten, aber wahrhaft kindlichen Glaubens und zogen einen eigentümlichen Heiligenschein um die armen Sünder. Alles aber, was noch nicht sauber war, deckte und überschimmerte dieser mystische Madonnenschleier. Hatte ja doch selten ein Papst der Himmelskönigin so viel Treue und Verehrung bewiesen wie gerade der männlich schroffe Sixtus.

Mit einem weinerlichen oder trotzigen Gefecht von Paragraphen war, wie Mione den hohen Gegner kannte, nun einmal nicht gegen das angeschlagene Urteil aufzukommen. Solch Gebaren würbe Sixtus nur verhärten. Nein, Mione wollte einmal seine gesamte Pandektenschlauheit gleichsam auf den Kopf stellen oder doch ins Simple kehren und den Papst von seiner eigenen Position aus anpacken, indem er noch viel strenger als der Gestrenge und noch viel päpstlicher als der Papst plädierte und jede mildere Auffassung oder auch nur die päpstliche Befugnis dazu hochmütig verrammelte und im übrigen das Gefühl als eine Bagatelle leichthin abfertigte. So wollte der abgefeimte Advokat den grossen, geraden Papst zum Widerspruch reizen und in die Opposition bis unter das Fähnlein der Milde treiben.


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