Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Die gotischen Eichen

Von Terni nach Narni kann man auch am heißesten Mittag im Schatten gehen, im schönsten Schatten der Welt: in Eichenwald.

Ja, hier gibt es hohe, uralte Eichen. Fremd und übergewaltig ragen sie aus diesem Land der kleinen Gebüsche. Fährt um zwei Uhr der Meerwind herein, so neigen sich die Häupter hin und her, wie an einem Thing würdiger und feierlicher Männer man einer Rede zuhört, diskutiert und bei einem besonders wichtigen Satze sich die Gesichter zuwendet, verneint oder nickt und ruft: »So ist es! Wohlgesprochen!«

Ich horchte und fragte mich: Was reden sie eigentlich? In welcher Sprache?

Italienisch musiziert es nicht und doch verwandt, deutsch rumpelt es nicht und doch ähnlich. Ah, es ist Latein, das Latein, wie die alten Goten es sprachen, diese schweren, großen Schneeleute vom Norden, die der Süden lockte und die dann siebenmal nach Rom drangen und die weibischen, aber immer noch genialen Griechen in die Schiffe jagten, und die siebenmal hier zurückflohen, vom kleinen, magern, schmaläugigen Byzantiner Narses immer wieder besiegt.

Sie hatten eine große Wut, Rom ihr eigen zu nennen, und doch auch ein schweres Heimweh nach den verlorenen Heimstätten über den Alpen. Berge hätten sie wohl behauptet gegen römische Kraft und griechische Schlauheiten. Aber sie wollten die Städte, die Markthallen, die Theater, Brunnen, Säulentempel. Sie wollten aus der Provinzgeschichte in die Weltgeschichte hinaus.

Als nun wieder einmal ihr Zug auf einer Flucht oder Sammlung in diesem Tale rastete und viele ihre Wunden im Flusse wuschen oder ihre bösen Beulen an der Sonne ausheilten, saß Gotis, der bange und schwächliche Neffe des Königs Totila, mit seinem Gespielen, dem langen, flinkatmigen Teyja, unter den faulenzenden Soldaten und läutete wie immer das Glöcklein vom Heimgehen über die Alpen. Ganz nahe schlief Totila im Gras.

»Heimgehen!« spottete Teyja mit seiner bleichen Lippe. »Katzen gehen heim, aber der Hund rennt seinem Herrn voraus gegen den Feind.«

»Dafür hat die Katze eine heimelige Stube, aber der Hund bloß einen Stall«, wendete Gotis mit feiner Sanftmut ein.

»Gotis«, belehrte Teyja drohend und buschte seine blonden Knabenbrauen zusammen, »die Berge sind uns verriegelt! Wo willst du daheim sein? Wir sind nur in Rom daheim.«

»In Rom schliefen wir nie länger als eine halbe Nacht. In Rom war noch niemand recht daheim«, stritt Gotis innig ab, aber küßte wie verzeihungbittend Teyjas mageres Fäustchen.

»Widerrede mir nicht«, befahl dieser rauh. »Ich muß es besser wissen. Sieh, schon wächst mir der Bart – hier, greife einmal.« Er führte Gotis' Fingerchen über seinen unmerklichen Flaum... »Du aber hast noch das reinste Mädchengesicht, was gilt da Reden?«

»Dann bleiben wir wenigstens hier«, bat der zierliche Gotis. »Es hat fast Berge da und ein schönes Wasser und bald, bald auch Eichenwald...«

»Narr«, schrie Teyja, »zeig mir nur ein Blättchen davon!«

»St! St! Ihr weckt noch den König«, murrte man.

»So komm«, flüsterte Gotis. »Ich zeige dir eine Eiche... Hier!« lächelte er glücklich nach wenigen Schritten.

Alle sahen ein zartes, helles Gewächs wie eine Gerte, das schon das süßherbe Gekräusel jungen Eichenlaubs zeigte.

»Siehst du, ist das nicht ein junger Gote wie wir? Und hat er nicht schon mehr Flaum als du, Teyja?« spaßte Gotis mit gescheitem Augenzwinkern. »Gib nun auch deine Eichel! Setzet ihr alle euern Samen hier! Und wir haben bald Wald und Heimat... tut es, tut es...!«

Die Goten griffen in den Sack nach dem abergläubischen Amulett ihrer Eichel, das sie aus dem Vaterland mitgenommen, um ein schöneres Vaterland zu gewinnen. Es ist wahr, hier könnte ein Wald wachsen, sagten sie, und steckten die Kerne in den Boden.

Wenn wir fliehen, soll uns dieser Wald bergen, trösteten sich die Vorsichtigen.

Wenn wir in Rom zu heiß haben, kühlen wir uns hier ab, protzten die Frechen.

Bis wir heimfahren können, wollen wir hier vom Daheim träumen, schwärmte Gotis.

Und alles gab seine Eichel. Nur Teyja nicht und der schlafende König Totila nicht...

... Bald ging es wieder südwärts in die Schlachten. Aber kam man zurück auf Flucht oder Sammlung hierher, so sah man, wie ein kindlicher Wald aufkeimte, sich bubenhaft spreizte, mit Flaum und Jünglingsschopf emporschoß und immer stattlicher ward, gleich schönen, bewehrten Männern. Und je weniger Goten zurückkamen, um so mehr Eichen gab es hier. Als jedoch Totila mit seinem letzten verzweifelten Genie nochmals die ganze Halbinsel in die Faust packte, ein seliges Räuschchen lang, da brausten sie hellauf. Doch als er bei Gubbio oben fiel und statt Gotis der schnellpulsige Teyja König wurde und trotz ihrem Kopfschütteln und trotz Gotis' Flehen gen Süden brach, da rauschten die Eichen ihren düstersten Psalm. Wie aber der herrlichfreche Teyja am Fuße des Vesuv in die Lava sank, die Eichel und auch nur noch so viel Heimat und Herrschaft in der erstarrten Faust, und als Gotis halsumschlungen neben ihm starb und ihre Leichen in der grausamen Sonne dorrten, ohne ein Läubchen Schatten: da wäre der Wald hier am liebsten auch gestorben.

Aber nun lebten die Eichen einmal und gediehen bei allem Unglück großartig. So ermannten sie sich denn, wuchsen herzhaft weiter und überdauerten Goten und Griechen, deutsche und welsche Siege, der Weltwaage ewiges Auf- und Niedergehen, und predigen dem heutigen Pilger nach anderthalb Jahrtausenden in ihrer alten Sprache, diesem Gotenlatein, in dem Teyjas Eisen klirrt und Gotis' Heimweh singt, predigen ihm die Tragödien der Vergangenheit in die Seele.

Und hat der Reisende ein gutes Ohr, so hört er zuletzt immer: Heim! Heim!

Viele verstehen es auch richtig, binden die Schuhe und wandern heim. Und Gotis' lächelnder Schatten geht selig mit.

Aber andere verstehen es falsch und rasen weiter, und der Fiebergeist Teyjas fliegt mit ihnen.

Besinne dich gut, Freund, unter den gotischen Eichen zwischen Narni und Terni, welchen Rank du deinem Leben geben willst!


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