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Am Fuss der sibyllinischen Berge, im einsamsten Winkel der Abruzzen, brach am Vorabend einer Tour auf den Monte Priore ein Regenwetter so sündig grau und frostig und unermüdlich los, dass mein Begleiter und ich mehrere Tage in einem kirchen– und wirtshauslosen Nest zwischen den vier dunkeln, vom offenen Feuerherd durchrauchten Wänden eines Ziegenbauern zubringen und uns die Zeit mit den wilden Sagen der dutzendköpfigen Gemeinde, die hier zusammenhockte, und mit ihrem ebenso wilden Wein vertreiben mussten. Diese alten Berichte, halb Geschichte halb Legende glichen dem Rauch der düstern Stube oder dem Nebel vor den Fenstergitterchen in Farbe und wirrem Geknäuel. Sie schlichen auch so schwer und gespenstisch an den festen Wänden der Vergangenheit zur Diele empor, verdichteten sich oben zu unheimlichen Fratzen oder Drohfiguren und lösten sich nur langsam und gleichsam gegen ihre böse Seele am Ende in leichten blauen Dunst auf.
In diesen Berglegenden spielte das gesetzlose, verwilderte Element, sei es im Wasser oder Feuer oder Tier oder Menschen, die vorderste Rolle. Tote gingen um und bellten wie Wölfe, der Teufel kam in Blitz und Sonnenschein, der Himmel redete, die Gipfel des Gebirgs rauchten wie der Sinai, und bald unterirdisch, bald überweltlich erscholl Musik, wozu ein Erdbeben die Trommel oder ein dauerhafter Donner die Pauke schlug. Aber noch lieber ward von den Briganten dieser Wildnis, ihren Heldenstücken und ihrem stürmischen Untergang erzählt. Und gern tauchte die gewaltige Gestalt des Papstes Sixtus V., der vormals die Räuber durch Wald und Wüste zu Tode gehetzt hat, in mehr oder minder deutlicher Zeichnung, doch immer felsig und unerbittlich gleich dem Monte Priore, aus solch banditenreichem Sagennebel hervor.
Das Schönste war die Erzählung von Sisto e Sesto. Denn hier ein einziges Mal milderte die Sage die Härten der Geschichte und zog den Fels ins menschlich warme Leben herunter. Oft schon habe ich sie erzählt. Aber nie fand ich den Mut, sie aufzuschreiben. Denn bei so einem Abenteuer muss man mit beiden Händen mitsprechen, muss leise und laute Worte wechseln, muss sich zusammenducken und plötzlich in einer scharfen Schicksalswendung emporschnellen, kurz, muss die Geschichte erleben und zeigen können, wie sie mir von Gesicht zu Gesicht im Rauch und Feuer jener Abruzzenstube geoffenbart worden ist.
Krame ich sie nun doch auf diesem leblosen Papier da aus, so ist es, weil sie mir noch immer keine Ruhe lässt. Sie plagt und drängt mich wie ein Fieber und brennt mir auf die Finger. Sie will durchaus geschrieben sein. Versuch's ich denn und gleich jetzt, wo draussen ein nasser Wind ans Fenster klatscht und aus der Zimmerecke die Scheiter im Ofen krachen, so dass ich meine, noch immer in jener italienischen Bergstube zu sitzen und selber zu lauschen.
Vor vierhundert Jahren hausten in den sibyllinischen Bergen weitverzweigte Banden von Räubern. Steg und Weg war unsicher und den Schurken weder mit Gesetz noch Gewalt beizukommen. Denn die kleinen Fürsten von Spoleto und Foligno und Nursia herauf und von den jenseitigen Marken herüber bedienten sich der Briganten bald für private Heimlichkeiten, bald für ihre offene Hauspolitik. Ja, angesehene Reisende, wie Botschafter und kirchliche Nuntien, die auf dem kürzesten Wege von einem zum andern Meere reisen wollten, mussten gern oder ungern solche Wildleute zu Wegweisern nehmen. Aber wer glaubt nun das: die blutigsten Banditen wohnten bei ihrer Familie im Dorf und lagen, wenn sie nicht räuberten und mordeten, so sanft phlegmatisch wie nur je ein zahmes Menschlein im Gras unter Kind und Kegel und kauten an einem Halm oder schoren ein Schaf oder orgelten ein Scherzlied aus der Handharmonika.
Im Dorf Paritondo, das dem Grafen von Spenchi pflichtig war, zählte man unter fünfundachtzig Seelen ein starkes Dutzend solcher harmloser Dudler im Gras. Daneben wiegten sie ihre schmutzigen Kindlein im Arm, kochten Polenta im Freien oder scheuerten der kranken Frau bei guter Laune die Kammer, knieten Sonntags in der alten Kirche und schliefen unter der langen Predigt des Pfarrers Donaldi da Dia von Surigno wie Gerechte ein. Aber pünktlich beim Amen erwachten sie und sangen dann die Litanei so laut und so schön, als wären sie geborene Choristen. Den tiefsten und weichsten Bass sang Sesto Peretti, am Tage Küster und Gemeindeschreiber und Schafhirte in einer Person, zu Nacht Bandit vom schwärzesten Wasser. Am Tage harmlos und mild wie Milch, zu Nacht rot und gefährlich wie Blut.
Sein Vater hatte nach dem Tode der ersten Frau und nach den Klostergelübden seines einzigen, kränklichen, aber streberischen Sohnes Felice eine jähe Romagnolin geheiratet. Sie ward Sestos Mutter und verflackerte wie alle solche wilde, rasche Flammen nach wenigen Jahren. Da verwilderte der Vater, der das zweite Weib dreimal heisser als die knappe und strenge Frau der ersten Ehe geliebt hatte. Lange Zeit vagabundierte der Alte mit seinem Jungen in den Marken umher und siedelte sich endlich, des Schweifens müde, in den umbrischen Bergen an. Hier starb er als hoher Achtziger im Augenblick, da sein Enkelknab Poz'do ihm den ersten selbständigen Raub vor die Füsse schüttete und zugleich das Gerücht meldete, Felice Peretti sei Kardinal der römischen Kirche geworden und lasse in allen Windstrichen nach seinem verschollenen Vater oder andern nahen Verwandten fahnden. Die rote, goldgebortete Schärpe hier und da der dicke Karfunkelring rühre vom ausgeraubten, römischen Sendling.
Vielleicht hörte der Greis diese Kunde nicht mehr. Denn als man ihm gratulieren wollte zum grossartigen Sohne und nicht minder zu einem so würdigen Enkel, gab er den Händedruck nicht zurück, sondern liess den Arm wie ein Holzscheit auf die Decke fallen. Seit Tagen war er wortlos im Todeskampf gelegen. Jetzt, da er nicht nur seinen Sohn, sondern auch den Sohn seines Sohnes noch in voller Berufshöhe gesehen hatte, konnte seine Brigantenseele ruhig scheiden. Wie bei einem Docht, der kaum noch geglommen hatte, merkte keiner das genaue Erlöschen.
Als er sich aber steif und eiskalt anfühlte und also sicher tot war, ging Sesto zu da Dia nach Surigno hinunter, der halbblind und dort nur noch Frühmesser war, aber als Seelsorger von Paritondo die Geburten und Todesfälle ins Kirchenbuch einzeichnen musste. Er brachte ihm den ledernen Kodex und meldete den Hinscheid. Während der Geistliche die Daten ordnungsgemäss auf Folium 19 einkritzelte, freilich mit den Buchstaben eines Riesen, schrieb auch Sesto, halblaut da Dias lateinische Worte nachplappernd, auf ein Dokument die Todesmeldung seines Vaters und erbat die Unterschrift des Priesters. In Wirklichkeit hatte er notiert, dass der alte Peretti gestorben sei und niemand wisse, wo Sesto, des Kardinals Stiefbruder, durch die Welt jage, ob er am Ende nicht längst in der Erde ruhe. Mit so tückisch kleinen Buchstaben hatte er das geschrieben, dass da Dia keine Silbe lesen konnte und mit gutem Glauben seinen Namen und das Kirchensiegel dazugab. So wanderte das Dokument zum Kardinal. Seitdem ward es still zwischen Rom und Paritondo.
Bis nach Jahren die Hiobsbotschaft kam, der neue stahlharte Papst Sixtus V. jage die Räuber wie Ratten zusammen, durchstöbere ihre hintersten Löcher und hänge, wo er sie finde, alle Äste und Zäune davon voll. Er habe das Wort in seinen Bart geschworen: Ich will in meinem Hause keine Mäuse, so dass jeder Gast nachts gut schlafen kann und nicht der Bayer oder der Engländer daheim schimpft, im Kirchenstaat sei man keine Stunde seiner Tasche oder seines Lebens sicher.
Doch zuerst ward um Rom und die Campagna gegen Neapel hinunter gesäubert, wo ja der Unfug den fremden Herren Gästen am meisten in die Augen stach. Darnach zogen die Beamten über die Sabinerberge und Aquila ins heilige Umbrien hinauf. Aber da gab es so viel zu fechten und zu hängen, dass wieder zwei Jahre gemächlich verliefen, ehe in Paritondo, so weit hinten an den sibyllinischen Gewaltsbergen, ein Vortrab dieser Spürhunde gesichtet wurde. Man hatte inzwischen noch Zeit, den chilenischen Granden Carlos de los Herreras um einen Seidenrock mit zehn Pfund Goldpiastern im Futter zu erleichtern, dem Baron Albert von Schreck, der vom Tirol nach Rom ritt, Zelt, Rüstungen und alle Dienstmannen abzunehmen und sogar steife venezianische Senatoren, die einen schweren Peterspfennig nebst ihren sieben glattrasierten Intrigantenköpfen nach dem Vatikan trugen, gleich von beiderlei Beschwer zu erlösen und ihnen zwischen Busch und Fels eine flinke zivile Bestattung zu geben.
Aber eines Tages hatte Poz'do, der junge, rotstruppige Sohn Sestos, auf einer Spionage ins offene Tal hinunter unweit Spello einen langen Zug Geknebelter gesehen. Er konnte vor Wut kaum erzählen, wie schmählich das anzuschauen war. Edle, feine, hochhäuptige Briganten gingen in Stricken, die man von Hals zu Hals gezogen hatte, gerade wie dem Metzgervieh. Und ringsum trabten gleichgültige Soldaten zu Ross mit und stiessen jetzt ihr Maultier, jetzt ihren Gefangenen mit der Pike vorwärts. Der aalglatte Junge schlich diesem himmeltraurigen Elend mit verbissenen Lippen ins Städtchen nach. Es zwang ihn, das Unglück fertig zu kosten. Und sieh' da die Gemeinheit: ohne Verhör und Spruch, als ob sich das so von selbst verstände, ward Paar um Paar über den Markt zum grossen Brunnen geschoben, wo Stankt Michael sich hoch über dem Becken erhebt. Mit einem festen Knopf ward der eine rechts, der andere links an die eiserne Waage geknüpft, die der Erzengel weit über den Brunnenstock hinaushebt. Vornehme Leute schauten auf eigens herbeigeholten Stühlen dem Prozess zu und hatten ihren Spass daran weil das Zünglein an der Waage so drollig auf und niederspielte, bis die armen Burschen ausgezappelt hatten. Gleich folgten zwei andere, immer zwei dünne oder zwei dicke, damit nicht der gewichtigere die Schale zu tief drücke und mit den Zehen aufs Gesimse aufstehen könne. Die reichen Spellerbuben lachten, die armen weinten fast gar. Aber sie wagten nicht zu schreien: halt, das ist mein Bruder ... halt, das ist mein Vater! ... Da riss sich Poz'do schaudernd und im Innersten gekränkt los und lief Tag und Nacht über die drei Bergketten und schleuderte nach dreissig galoppierenden Stunden den braven Kumpanen in der Küsterstube diese zuckenden Marterbilder vor den Kopf. Darauf tranken jene den roten Wein aus, schoben noch ein tapferes Stück Ziegenkäse zwischen die Zähne und sagten zuletzt langsam: »Man muss es da Dia berichten. Kommt er am Samstag, Peretti?«
»Wartet, das ist der dritte, nein der vierte August. Natürlich, da Dia muss uns am ersten Monatssonntag Gottesdienst halten. Im übrigen, wie viel Geld haben wir noch?«
Der Genossensäckel ward über den Tisch ausgeleert. Fünfzehn Silberstücke und vier Pfund Kupfer. »Das hält noch länger als zwei Wochen,« beruhigte Sultigni, der Proviantmeister von Paritondo, und spuckte grossartig bis zur Türe hinüber. »Bis dahin ist der Schrecken vorüber.«
Der alte Pfarrer und Benefiziat da Dia kam am Samstag nachmittag von Surigno herauf. Zwei Frauen knieten im Kirchlein und wollten ihre Sünden bekennen. Hernach besuchte der Priester den Pietro Solio in der obersten Dorfhütte. Der Mann litt an Wassersucht und sah heute so erbärmlich aus und schnappte so knapp nach Luft, dass Donaldi da Dia beschloss, ihm morgen die heilige Wegzehrung zu reichen. Indessen nahm er ihm die Beichte ab, salbte ihn mit dem Krankenöl und sprach ihm einige tröstliche Gebete mit seiner tiefen, stillen Greisenstimme mehr aus dem Herzen als aus dem geöffneten lateinischen Büchlein vor.
Ernst und ein bisschen missmutig schritt er dann das einzige Lottergässchen Paritondos zurück zum verfallenen Pfrundhaus. Nur ein Raum zum Kochen und Schlafen und Predigtstudieren war da noch leidlich erhalten. Was brauchten auch die Paritonder ein Pfarrhaus wegen zwölf Gottesdiensten im Jahr? Nun, ja, darüber wollte sich da Dia nicht mehr ärgern. Aber von den Samstagskindern, die er nach dem Tridentinum hier jedesmal im Glauben unterweisen sollte, liess sich kein Bein sehen. Die Wildlinge trieben sich noch immer mit den Herden auf den obern Weiden von Pratalpe herum. Da war vor Mariä Himmelfahrt nichts zu machen. Verdrossen zog er sein Brevier hervor und betete, im struppigen Gärtchen auf und abschreitend, die Nokturnen, während ihm die Küstersfrau, Anizia Peretti, eine Minestra aus Kräutern, Erbsen und dünner Hühnerbrühe faustdick zusammenkochte.
Ihr Gatte begab sich inzwischen in die Sakristei und legte mit ungewöhnlichem Eifer die gottesdienstlichen Gewänder für die heutige Abendandacht und den morgigen Gottesdienst bereit. Besonders stattlich hing er die weiss–seidene Kasel über den Kniestuhl aus, die schönste von den drei vorrätigen, die einzige auch, die auf ordentlichem Stiftungsweg in den Kirchenschrank von Paritondo gelangt war. Auch den besonderen Kelch für hohe Feste nahm er aus dem Beschluss und setzte dicke, weisse Kerzen in die Altarstöcke. Dann breitete er einen Teppich aus echtem Persergewebe, weiss Gott woher gestohlen und wieso dahergekommen, über die krachenden Altarstufen und zog ein prachtvoll gehäkeltes Linnen über den morschen Messtisch, in dessen Zipfeln man ein englisches Baronatswappen sah. Das Kreuz in der Mitte des Altars war einem päpstlichen Legaten auf seinem Zug nach Spoleto abgenommen und das selige Madonnenbild auf dem Steinsockel aus einem reichen Gubbierkloster schon zur Zeit der Fehde zwischen Papst und deutschem Federigo geholt worden. Diesem Liebfrauenbild hing Sesto zwei schwere Ketten aus altem, dunklem Gold und Armbänder mit echten Rubinen um und setzte ihm ein Krönlein aus haardünnem Silberdraht mit eingeflochtenen Goldrosen aufs Haupt. All dieser Schmuck war gestohlen, aber die Paritonder protzten damit hochmütiger, als wenn sie den ganzen Zierat selber gewirkt oder doch gekauft hätten. Besonders auf das Krönlein hielten sie hohe Stücke. Denn beim damaligen Überfall zweier französischer Bischöfe mit reisigem Gefolge hatten sich die Franzmänner glorreich verteidigt und drei Paritonder, darunter Sestos Schwiegervater, mit kunstgerechten Fronthieben erschlagen. Vom Szepter Mariens rührte auch der lahme Arm des Giosue Cardini, vom Armband die stumpfgehauene, nur noch dreifingrige Hand des Pietro Gualfi. Sesto Peretti selbst verdankte die tiefe Narbe von der hohen Stirne mitten in die schöne Braue dem Altarkreuz aus handgetriebenem Eisen. So oft er den heilig Gekreuzigten daran erblickte, schlug er sich brummelnd auf die Brust: Miserere nobis! und lachte dann mit beiden kieselgrauen Augen vor anregender Erinnerung ans Abenteuer. Wahrhaft, sie hatten für ihre Schätze mehr als Goldbatzen, sie hatten ihre gesunden Glieder und ihr rauchendes schweres Abruzzenblut dafür bezahlt. Darum wachten sie eifersüchtig über dem lebensgefährlichen Reichtum und verriegelten gleich nach der Kirchenfeier die ganze heilige Herrlichkeit wieder schnell in der eisernen Truhe der Sakristei. Diese Räuber fürchteten auf der Welt nichts als Räuber.
Etwas fehlt. Jedes Weib in Paritondo hat einen Schleier, nur die Madonna nicht. Einst trug sie einen. Silberfädig war er, und man staunte, wie Lilienstengel und Lilienkelche da zu einem Nesseltuch verschlungen waren ohne jedes andere Zwischengewebe. Dieser Schleier blitzte wie der Weihnachtsschnee am Sasso Rompo zu Mittag. Seit er fehlte, ward es schattig ums Madonnenhaupt. Jeden Sonntag bildet es für die Paritondergemeinde eine neue Überwindung, diesen berühmten Schleier zu entbehren. Wenn doch nur eine hohe Edelfrau wieder mit einem solchen himmlischen Gespinste ihren tüchtigen Raubburschen in die Hände liefe!
Jetzt schwingt Sesto das einzige scherbige Glöcklein zum Rosenkranz in den frühen Gebirgsabend hinaus. Wie das verloren aus den Bergecken zurückhallt! Schnell humpeln die alten Weiblein hinein. Dann mit einem Ruck stösst sich das Trüppchen Halbwüchsiger vor. Nun die paar Männer, die immer und so genau wie der Samstag selbst hereinkommen. Die paar? Was ist das? Mannsschritt um Mannsschritt schallt auf dem Steinboden. Das ganze Dorf kommt, füllt die Bänke, atmet schwer und sinkt wuchtig auf die Knieschemel. Der Pfarrer wundert sich gewaltig ... Die haben Angst! ... Sesto zündet sechs Altarkerzen an. Warum sechse wie zu Ostern? Zwei sind gerade recht. Per Dio, die Paritonder sind und bleiben Sonderlinge.
Der Küster ringelt den Rosenkranz auf und betet vor. Da Dia setzt sich ins Chorstühlchen und beginnt bei einem züngelnden Wachsstöcklein die Laudes halb aus dem Brevier, halb auswendig zu lispeln.
Aber er kann sich nicht sammeln. Immer wieder springen seine Gedanken über die alten Buchdeckel ins Kirchenschiff hinaus. Es fällt ihm auf, dass man anders betet als sonst. Es klingt weniger schläfrig und schleifend, mit einer ernsten, herzlichen Betonung. Mitunter, wie in bekümmerter Sprache, fallen Seufzer dazwischen. Es dünkte Don Dia, so stark hätten die Leute erst einmal gebetet, als das Hochgewitter eine Sintflut von Wasser und Schlamm von den Bergen niederwälzte und das Häufchen Paritondo mit Mann und Maus zu verschlingen drohte. Draussen vor der Kirche strudelten die Fluten fürchterlich, drinnen streckte man die Arme aus und überschrie den Lärm mit immer neuen Paternostern.
Dennoch war es anders. Vor den Kirchenmauern lag diesmal eine stille dunkle Nacht, und in der Halle wurde ohne Geschrei, aber schön und eindringlich gebetet. Perettis Samtstimme klang noch tiefer und melodischer als gewöhnlich: »Der für uns Blut geschwitzt hat! Erbarme dich unser!«
Don Dia klemmte den Daumen ins Buch und sann nach. Dieses Volk leidet. Es hat Hunger. Es kommt arm zur Welt und geht ärmer aus ihr, die doch so voll Reichtümer ist. Nicht ein Splitterchen merkt es von ihnen. Es kann wahrhaft dem Herrgott nichts davon erzählen, wenn es hinüberkommt, wie gut der Vesuvwein, wie süss die Kuchen von Siena, wie lustig der Fasching von Rom und wie prächtig die Stanzen Raffaels im Vatikan seien. Es kennt nur seine Paritonder Kirchenschätze, eine Stunde lang zum Anschauen und sich daran zu blenden. Dann kommt wieder die wochenlange glanzlose und kahle Armut des Werktags.
Es gibt Räuber unter diesen Leuten. Man munkelt tief ins Tal hinunter allerlei Unsauberes. Aber müssen sie denn nicht stehlen? Sie sollten vielleicht betteln. Aber hier ist niemand, den man anbetteln könnte. Kein Signore lebt da oben. Alle sind sie Bettler. Also an die Strasse liegen und den zu Hablichen und zu Gesegneten vom Überfluss etwas abzwacken. Ach Gott, was ist das für eine Welt!
»Der für uns ist gegeisselt worden«, betete Peretti, »Erbarme dich unser!« rauschte es dumpf durch die Kirche.
Es sind gute Leute, spann Don Dia fort. Wie hat nicht mit heiterer Demut Pietro Solio vor einer Stunde sein geringes Sündengepäck abgeladen und Stück für Stück herzlich bedauert. Augen wie ein Kaninchen machte er dabei und nickte und dankte siebenmal dem Reverendo für den Segen. Der Pfarrer zieht entschlossen den Finger aus dem Psalmenbuch. Er bringt doch keinen Vers mehr über die Lippen. An dieses Völklein muss er nur immer denken.
Er hat sie gerne, die rauhen Schweiger hier oben. Je weniger sie klagen, um so inniger fühlt er ihr Heimliches mit. Jeden zehnten April müssen sie, und sollten sie es von den eigenen Knochen schnitzeln, dem Grafen von Spenchi fünf und dem päpstlichen Legaten in Spoleto nochmals fünf Pfund Silber zinsen. Das bedeutet ein Vermögen für Bettler. Aber sie bringen es immer zusammen. Sonst würde ihr blitzendes Dutzend Jünglinge in die Garnison von Ancona oder Perugia gesteckt. Das wollen sie nicht. Krieg führen am hellen Tag, auf offenem Plan einem Menschen, der mich nichts angeht, entgegenreiten, ihn totstechen oder ihm eine Kugel durch den Kopf jagen, das widersteht ihrer sanften höflichen Gemütsart. Sie verkaufen das wenige Gemüse ihres wilden Bezirks und das erlegte Raubgetier und die Fuchs– und Marderfelle und begnügen sich mit ihren Disteln und magern Ziegen und dem Sackleinen bei Schneewetter, nur um dem Soldatendienst zu entgehen. Auch sind sie gastfreundlich und lieben einander ohne Falsch. Das ist ihre gute Seite, sozusagen die Sonnenseite ihres Lebens. Die Schattenseite, die heimliche, na ... aber vor sechs Jahren haben sie den kostbaren Schleier der Madonna, den Zwischenhändlern tausend Dublonen, ihnen hunderttausend wert, den Talgenossen nach Surigno hinunter geschickt, weil das Dorf nach langer Pest und Dürre halb verbrannt und halb verhungert dalag. Die elenden Brüder möchten Milch und Brot daraus machen. Das bleibt ihnen unvergessen.