Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Über den umbrischen Tiber

Wenn nichts mehr aus der alten Zeit des Romulus und Remus redete und die letzten Jungen jener milden Wölfin von einem der vielen Abbruzzenjäger erschossen sind, und wenn die mittelalterlichen Städtekriege und die napoleonischen Feldzüge und die Amerikaner und die Museen alle Dokumente beiseite geschafft hätten, ein unbestechlicher Zeuge aus jenen Tagen bleibt: der Tiber. Und er redet noch aus der gleichen Lunge wie vor dreitausend Jahren, und er hat noch das gleiche graubraune dunkle Auge und führt noch die gleiche Hirtensprache und atmet noch den gleichen sagenschweren Duft wie damals, als Ennius von den ersten Etruskern und Volskern ein Kapitel seiner Annalen begann.

Einmal bin ich nachts bei offenem Fenster in Orvieto hoch oben auf dem Berg erwacht... vielleicht vom Glockenschlag, der so silberig dünn hinter dem Riesendom hervor eine Stunde nach Mitternacht anschlug. Der große italienische Himmel sah durchs Fenster. Nicht so blitzend klar und zündend frisch wie unser nordischer Meer- und Gebirgshimmel, der, von grauen Wogen oder von dunkeln Tannen oder von hellem Schnee umrahmt, oft eine fast eisige Bläue und eine metallene Sternenkraft besitzt. Nein, der leise, weiche, wohlige italienische Himmel, wie Sammet mit feinen goldenen Nadelstichen darin. Dieser Himmel, der so schwärmerisch macht, der voll Liebesabenteuer ist, der das in such a night des »Kaufmanns von Venedig«, die Petrarka-Sonette und die Tasso-Schwermütigkeit auf dem Gewissen hat. Dantes Himmel liegt viel, viel nördlicher.

In such a night bin ich erwacht. Es war totenstill um mich. Aber ein um diese Zeit selten warmes Lüftchen rann leise in die Kammer und machte mir auf einmal das Bett unerträglich. Ich sprang ans Gesimse. Wie ein Märchen aus alten Zeiten sah ich die leuchtende Kathedrale, diesen schönsten Dom der Welt, mit ihren bunten Marmorgliedern gleichsam aus dem Sternenhimmel heruntersteigen und im Dunkel der breiten, schlafenden Stadtmassen versinken. Es war unsäglich feierlich und bedrückend zugleich.

Plötzlich hörte ich ein fernes, klares Rollen. Wahrhaftig, das rührt vom nächtlichen Schnellzug, der unten im Tal gen Rom braust. Jetzt, dem hohlen Gerumpel nach, ist er eben über den Tiber gefahren. Die Leute in den Wagen schlafen und träumen, den Kopf in den Polstern, vom Kolosseum und von der Peterskuppel und von Michelangelos Moses. Aber nun hören sie dieses Poltern auch und erwachen halb. Und einer sagt mit ehrfürchtiger Stimme... es ist sicher ein Geschichtsprofessor aus Bologna...: das war der Tiber!

Ja, das ist der umbrische Tiber. Über seine Brücke fuhr der Schnellzug. Unten schleicht das Wasser langsam und träge wie die Weltgeschichte dahin. Ein weltgeschichtliches Wasser ist es ja auch.

Und ein andermal habe ich wieder in einer solchen Nacht und wieder von einem so uralten hohen Stadtplatz aus das Rollen der fernen Eisenbahn über den Tiber gehört. Weiter oben, in Perugia! – Und der Gruß des modernen Fahrzeugs an den unmodernen Fluß klang noch poetischer als in Orvieto. Warum sollte er nicht. Hier ist der Tiber noch sagenumsponnenes uraltes Provinzwasser, dort unter Orvieto fängt schon der Weltstrom an.

Aber freilich, es ist schwer zu sagen, wo er schöner ist. So unendlich gewunden und gekrümmt er auch in die Campagna hinunterläuft, er hat doch nichts mehr von der Romantik oberhalb Perugia. Eine unbegreifliche epische Einfachheit ziert ihn jetzt. Er wird schlechthin klassisch. Antike Größe atmet jede Welle. Man spürt Rom. Die internationalen Hirten werden einem lebendig, die auf den sieben Hügeln Rom erbauen, um hernach die ganze Welt zu behirten. Man hört den schweren Schritt der Kohorten Scipios, die Dekrete Cäsars, die starren Perioden des alten Latein aus dem Wogenschlag heraus. Es gibt bei diesem erwachsenen Tiber keine Unarten, wie unser Rhein sie bei Schaffhausen und wie die alte Donau sie noch am Eisernen Tor verübt. Auch keine nationale Melodie singt er, wie etwa der Don und die Wolga sie bis zum Meere behalten, wenn sie selber längst wandelnde Meere geworden sind. Aber russische Meere! Und gar nicht ziert er sich von Orvieto ab mit der Behaglichkeit kleiner Uferstädte und pittoresker Kastelle. Weder die Städtemanie des Mittelrheins noch die Lebensmüdigkeit des Unterrheins sieht man da. Kurz, dieser Strom hat gar keine Romantik mehr im Leibe. Er ist Weltmensch im Sinne des S. P. Q. R.... urbi et orbi.

Wird er wie alle großen Charaktere etwa einmal melancholisch, duldet er ein Grabmal wie Trajans an seinem Wasser, so tut er es wieder mit echt antiker Größe. Das Grab wird eine Festung, das Mausoleum ein Denkzeichen römisch runder Vollkommenheit.

Und am Ende seines Lebens bei Isola sacra eilt er nicht mehr und zögert nicht mehr und läßt sich vom großen alten Ozean aufküssen ohne ein Wort der Freude oder des Bedauerns. Dieser wunderbare Tiber!

*

Aber hier oben in Umbrien ist er noch ein anderer. Gern schleicht er durch laubige und gestrüppige Orte, neben Gärten und Weinhügeln vorbei. Er ist noch starker Provinzler. Zum Weltbürger muß er erst noch erzogen werden. Ich glaube, das geschieht durch die Chiana. Das ist ein munteres Flüßchen, hat offene Gelände mit stetem Eisenbahngetöse und fabrikreichen Plätzen durchschwommen und immer so eine seltsame großartige Gebärde gehabt. Man muß sehen, wie sie mit der Paglia zusammenfließt und nun dieses erschrockene, kurzlebige, engherzige Wasser regiert und bis zur Mündung in den Tiber, gleich unter Orvieto, drangsaliert! Dann dünkt mich die Begegnung mit dem Tiber selber ein psychologisches Meisterstück. Es ist so schön, der Begrüßung zweier Flüsse beizuwohnen wie der Umarmung zweier bedeutender Menschen.

Die Chiana hat auf den ersten Blick ihrer stählernen Toskaneraugen die Bedeutung des Tiber erkannt. Man muß das sonderbare Gemurmel bei der Begrüßung abhorchen, dies Wichtigtun, dieses Drängen und Zeigen der Chiana nach dem römischen Süden und dieses Stutzen und Staunen des immer noch umbrisch verträumten Tiber. Er wollte auf dem kürzesten Weg nach Westen ins Meer fahren. Aber die Chiana überzeugt ihn. Er begreift allmählich seinen großen Beruf. Weg mit den umbrischen Sentimentalitäten, sagt er und biegt mit einer unglaublichen Wendung ins Bett der Chiana-Paglia. Das ist seine erste weltpolitische Aktion, aber auch seine erste staatsmännische Treulosigkeit.

Denn kaum eine Stunde weiter oben war ihm noch ganz romantisch zumute. Bei Perugia hört man ihn noch zwischen Schilf und Wasserlilien flüstern wie einen verliebten Kauz. Vor der umbrischen Hauptstadt selbst kugelt er sich noch behaglich zusammen wie ein Kätzchen, das gemütlich schlafen und schnurren will. Und gar erst droben in den umbrischen Bergen spielt er den reinsten Träumer. Bei San Sepolcro sieht er den ersten Dampfwagen über seinen Rücken rollen. Er staunt ihn an wie ein Kind. Er studiert aus den Abruzzensagen, was für ein Fabeltier das wohl gewesen sein könnte.

Erst als die Bahn bei Citta ein zweites und drittes Mal über ihn braust und ihm dann ein Stück weit zur Seite geht, dämmert in ihm der Gedanke von einer weiten, fernen Welt. Aber da springt von der Gubbier Klause herunter der Chiaggio in den Tiber, drückt und kost ihn mit seinem Rangengesichtlein, die Bahn verrollt in der Ferne, der Tiber ist wieder für lange allein und phantasiert und spaßt und lallt Märchen wie ein Büblein hinterm Ofen – nein, hier oben würde ihn niemand als den spätern harten Römer erkennen.

Ich bin einmal auf verdrießlich übeln Wegen bis ins Fumaiologebirge hinaufgedrungen. Hier entspringt das herrliche Wasser. Aus Schwärmerei lief ich ihm entgegen bis zu seiner Wiege. Sein erstes Lallen wollte ich hören. Auf Ehre, es war nicht zu unterscheiden vom Geplapper irgendeines Alpenlümmels, der drei, vier Stunden weit fließt und dann mit einem leichtsinnigen Sturz an einer schwäbischen Mühle oder an einem schweizerischen Wirtshaus in einen großen, unbekannten Bach fällt und stirbt.

Der Fumaiolo ist etwa vierzehnhundert Meter hoch. Nicht weit unter der Kuppe ob einem von Alter fast silbergrauen Wald, zwischen Gestein und knorrigem Wurzelboden bricht der Tiber hervor. Eine kleine, überaus klare, klingende Welle, mit den Händen fast aufzufangen. Nicht manchen Steinwurf weiter östlich müßte er entspringen, und er fiele nach schnellem, unberühmtem Gang ins Adriatische Meer, mit der Marecchia gen Rimini oder mit dem Savio nach Ravenna hinauf. Wer weiß etwas von der Marecchia oder vom Savio? Und wer wüßte dann etwas vom Tiber? Wenn aber der Tiber nicht wäre, wäre dann Rom, wäre Cäsar, wäre die Siebenhügelantike? Und wären auch wir heute so? – Wegen der paar Sprünge eines tollen, sinnlosen Bächleins weiter rechts oder links – Weltgeschichte so oder Weltgeschichte anders! Ich erbebte beim Gedanken. Ich segne mich mit deinem Wasser, Brünnlein am Monte Fumaiolo, und beuge mich tief vor dem Gotte, der dich führt. Der Gott der Geographie ist auch der Gott der Weltgeschichte.

*

Von Perugia hinunter geht es durch Mais, Wein und dünne Pfirsichbäumchen zur Tiberbrücke gegen Assisi hinüber. Rechts und links hat man die umbrischen Hügelketten. Aber rechts gegen Perugia sind es die sanften, geduldigen Hügel, die dem Charakter des Talvolkes so gut entsprechen. Links hinter Assisi und gar zurück gegen Gubbio sind es die schroffen, harten, knorrigen der Abruzzenleute. Und zwischendrein fließt der Tiber im letzten Jünglingsjahr. Man kann auf der Brücke bei Ponte San Giovanni bequem das Gesicht des schönen, wohlgebildeten Flusses studieren. Er ist ohne Zweifel durch viel Schule gegangen. Die Flegelei der Primarklassen, aber auch die freche Fröhlichkeit der ersten Grammatik liegt weit hinter ihm. Auch durch die Ungereimtheiten der Syntax hat er sich gerungen. Jetzt kommt die Rhetorik, das Pathos. Orator Romanus fit! Die Unterhaltung mit der Chiana bis Orte ist eine gute Übung aufs Forum. Liegt einmal der klassische Soracte im Rücken, dann ist der Civis Romanus, der Homo Universalis fertig.

Der Spaziergang von Perugia quer durch das Tibertal nach Assisi lohnt sich reichlich. Ab und zu lodert ein rotes Kopftuch oder eine hellblaue Schürze aus den Fruchtsträuchern. Oder es sitzen Männer am Boden und essen ihren Reis. Nie machte ich den Weg, ohne auf Buben zu stoßen, die durch die Stoppeln musizieren. Was spielen sie doch? Es ist die Holzpfeife, die Mutter der Instrumentation. Die Weise tönt sanft wie alle Hirtenweisen, idyllisch und mit der dunkeln Farbe einer leisen Melancholie durchtränkt. Diese gedehnten Melodien mit ihrer verlöschenden letzten Note passen zum langsam freundlichen Tiber hier. Sie sind seine letzte Sentimentalität. Und zu seinen letzten romantischen Träumen passen auch die Menschen hier. Alle sind so mager, knochig, von der Sonne nur leicht gebräunt, und alle mit einem milden Blick. Wer das Bolognesenauge kennt, das schwarze, stolze, oder das goldbraune unheimliche venezianische, der glaubt hier Heilige zu schauen. Man wehrt sich umsonst dagegen, der Held dieses Landes, Franz von Assisi, mit seinem heiter-ernsten Weltbettlergesicht kommt einem immer in den Sinn. Er ist hier der herrschende Typ. Solche Leute an beiden Ufern hat der Tiber natürlich nicht zu fürchten. Sie hemmen und bekämpfen ihn nicht. Sie lassen ihn fahren. Sie haben zu allen Zeiten mehr gelitten als geplagt, mehr entbehrt als genossen, mehr verzichtet als beansprucht. Etwas wie Ergebung liegt über dieser Rasse. Es ist wohl möglich, daß dies dem Tiber auffiel. Daß er sich sagte: So bringst du es gleich den Menschen da nirgends hin. So schläferst du deine Zukunft ein. Die Menschen von da unten haben kühnere Mienen, einen härteren Schritt und eine festere Sprache. – Es ist möglich, daß der Fluß da zum erstenmal aus seiner umbrischen Gleichmütigkeit erwachte und die nahe Chiana nicht mehr schwere Mühe hatte, ihn gänzlich römisch zu stimmen. Ja, er will jetzt reden, endlich einmal laut reden, so laut wie noch niemand vor ihm, wie die Cornelier und Gracchen und Cicero und Cäsar zusammen. Sicher, hier an der Brücke zwischen Assisi und Perugia faßte er schon den heimlichen Entschluß, hinfür kein Umbrier, sondern ein Römer zu sein.


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