Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In den Bergnestern

Wie Schwalbennest an Schwalbennest sind die kleinen umbrischen Städte ins Vorgebirge der Abruzzen hinaufgeklebt. Sie schimmern kalkweiß ins Tal hinunter. Hinter ihnen wölbt sich der Bergrücken zuerst fast mit bronzegrüner Farbe und mehr braunem als grünem, überaus spärlichem Wildwuchs. Der Scheitel ist bald grau, bald braun, von müder milder Farbe. Es geht zu ihm empor nicht so steil, aber sicher so hoch, wie von Arth-Goldau zum Rigi. Das ist für Italien eine starke Höhe. So der Subasio bei Assisi, der Calvo und Cucco bei Gubbio, der Lugo bei Spoleto. Auf der Rückseite fallen sie in ein wilderes, steileres Tal hinunter. Da gibt es nun in den Schluchten noch mächtige Bäume, Eichen, Buchen, Nadelholz, dichtes, wirres Gebüsch, wilden Lorbeer, Taxus, Kastanien und prächtige Felsen. Aber jenseits steigen noch steilere und höhere Berge auf, und dahinter stehen die allerschönsten. Bei klarem Wetter oder scharfem Seewind kann man von Subasio aus mitten in den umbrischen Abruzzen die düsteren Hoheiten der Sibyllinischen Berge erblicken. Grau und rundköpfig und gar so steinern unfreundlich stehen sie da und machen beim lustigsten Himmel ein düsteres Gesicht, eine wahre Wahrsagermiene. Doch schimmert bis tief ins Jahr Schnee auf ihren Häuptern, und das macht sie etwas freundlicher, obschon gern ein grauer, mystischer Nebel um ihr Gesicht spielt oder der dunkle Schatten einer ganz nahen Wolke auf ihnen brütet. Hinter ihnen blaut die Adria, vor ihnen lächelt das höflich-süße Umbrien. Sie aber bleiben hart und lächeln nie, so recht wie alte, ernste Sibyllen.

Doch bleiben wir in den Bergnestlein der Vorberge. Ach, wie man sich da einkapseln und sicher fühlen kann! Weit unten geht die weiße, breite Heerstraße durchs Land mit ihren Hitzen und Mühen und ihrem Schweiß. Wir aber hausen da oben, schon halb in den Felsen, in göttlicher Sicherheit, weitab vom Lärm. Wir können aus unsern Schwalbennestern über allen Menschentrubel pfeifen, der sich da unten durchs breite Leben schindet.

Was weiß doch einer von Umbrien, wenn er nicht in diesen schlechtgepflasterten, holprigen Städtchen herumgelungert ist und abends unter dem römischen Bogentor von Spello oder unter dem aussichtsreichen Venusportal die Fliegen aus dem gelben Wein geseiht und dem Dudelsackbläser Porta und seinen unendlich schwermütigen Weisen stundenlang zugehört hat? Und was weiß einer von Umbrien, der nicht in Foligno mindestens drei totenstille, sonnenschwere Nachmittage im Schatten der einsamen alten Vorhalle von Santa Maria intra Portas verträumte und dann und wann gegenüber in San Domenico, dem ebenso einsamen, ein paar Turnern mit weißen Hosen und brandroten Schleifen zusah, wie sie mit der süßen Schlangenhaftigkeit des Italieners am Reck ihre Künste losließen, langsam, leise, melodisch. Aber wenn die Sterne aufgingen, schlenderte der Fremdling in den Hof der alten Abtei Sassovivo, höher am Berg, wild und einsam, und meint schon von weitem durch die stille Nacht das Plätschern von Ziehbrunnen herauf oder die klappernden Holzsandalen einiger Brüder über die Fliesen zu vernehmen, etwa wenn sie in ihre Zellen zum Schlafen gehen. Das Kloster steht in wunderbarer Weltverlassenheit da. Ringsum rauschen die Bäume, und nachts hört man das Wasser aus allen Schluchten. Und man glaubt, in Rom oder in der Brunnenstadt Damaskus und nicht in einem so weltentlegenen Hofe zu sein.

Aber in der dritten Nacht hängt der Pilgrim übers Gesimse des Foligner Gasthofs hinaus und hört, wie das Reden in den winkligen Gassen langsam verstummt. Ein paar Laden klappen zu, ein paar Riegel kreischen, und ein Felice notte ertönt da und dort. Aber das letzte klingt besonders fein, und es folgen noch einige Worte so weich und geschmeidig nach, wie sie nur in Umbrien gesprochen werden. Ist es wohl ein Zeppo, der seiner Geliebten hinter den Säulen von Santa Maria Maggiore noch ein heimliches Wörtchen zuflüstert? Oder ist's ein Priester, der im Kreuzgang noch die Nokturnen beendet? Oder ist's ein stiller, unberühmter Maler, aus dem noch die Schwärmerei des Tages redet? Es sind so schöne Worte: Luce... rosa... gracia... baciolino! Und da, wenn man meint, das Städtchen sei nun völlig eingeschlafen, huscht noch ein letztes silbernes Wörtchen über das Pflaster, das letzte, das ein Umbrier spricht, und ohne das er nicht schlafen könnte, und das schönste Wort der Welt: Si! Wollüstig spricht es der Venezianer mit seinen roten, vollen Lippen aus, als schlurfte er dabei schon alle Erlaubnis der kleinen Silbe in sich ein; hart beißt es der Romagnole zwischen seinen starken Elfenbeinzähnen hervor, fast wie eine zugefügte Demütigung; und kühl und scharf spricht es der Römer aus, wie ein Advokat, während es dem Toskaner wie Chianti von der Zunge fließt. Aber der Umbrier sagt es wie ein Gebet! Si, o che si! Gütig, wie einer, der alles austeilen möchte, und mild, wie einer, der nie ein Nein über sich brächte. Wahrhaft, wenn irgendein Mensch, ist der Umbrier kein Neinsager. Er nickt der Sonne und dem Gewitter, dem Schmerz und der Vergnügung gefügig zu: Che si! Nur zu! ja, ja! Er sagt es dem Wohltäter und dem Quäler gleich sanft her: Che si! Mache nur fort! Ich hindere dich nicht. Es ist wohl eine Schwachheit, dieses ewige, sanfte Jasagen, aber es ist beinahe die Schwachheit der Götter, nicht mehr der gemeinen Menschen. Und so klingt es denn jeden Abend als das letzte Wort von den wenigen Türen, die verriegelt, und von den meisten, die nicht verriegelt werden, und aus den Kammern, die keine Gitter und keine Schlösser haben: dieses kürzeste und beste und klangvollste Wort aller Sprachen, besonders aber der italienischen Zunge: Si!

Wer weiß von Umbrien, der dieses Si! nicht vor Mitternacht noch einmal leis und innig wie einen Bruderkuß erklingen hörte? Und wer weiß von Umbrien, der nicht in Gubbio oben, schon mitten im Gebirge, vor dem großartigen Palast dei Consoli mit den Bettlern seine Brötchen und sein Nickel teilte und dann neben ihnen ins Gras des Staatsplatzes lag? O dieses brave, hübsche, kleine Gras, das in alle Höfe, auf alle Terrassen, in die offiziellsten Bezirke hineinwächst! O dieses Volk, wo man Natur und Kunst noch so vertraut zusammenleben läßt, daß es nicht zudringlich erscheint, wenn schon das dichteste Moos dem heiligen Cristoforo über die Knie hinaufkriecht und dem heiligen Sebastian Kresse und Spitzkraut kühlend über die Pfeilwunden streicht! – Wer weiß von Umbrien, der in diesem einzigartigen Gubbio, unter dem blauen Bergschatten, nicht mit den Kindern des Sakristans in den Johannesturm hinaufkletterte? In unsern deutschen Landen der Ordnung wäre ein solcher Aufstieg an schwindligen Wänden, über fehlende Stufen und breite Bretterlücken, bald mit, bald, wo es am gefährlichsten ist, ohne Seil, eine Waghalsigkeit, die das Gesetz mit zehn Mark Buße belegte. Aber hier ist's ein unvergeßliches Abenteuer, wenn man mit einem Fuß ins Bodenlose hinausgerät, wenn ein Schwarm Fledermäuse einem übers Gesicht streicht, und wenn das kleine Töchterchen Teresa einem auf der schwankenden Leiter kurzweg das Nastuch aus dem Rock reißt und sich das rosig gestülpte Gubbiernäschen darin schallend ausschneuzt. Droben am hohen Glockenfenster wird's schlimm. Die Kinder trippeln übers äußerste Kranzgesimse wie junge Katzen auf und nieder und spucken weit hinaus auf den Markt hinunter. Doch das ist alles nichts mehr, wenn der behende Schlingel Beato seine Frechheiten zeigt. Er sperrt das Maul auf, daß man sieht, wie er sich am Zucker seines Onkels, des Konditors Belli Bellini, alle Milchzähne bis auf die zwei mittleren ungeheuren Schaufeln ausgerissen hat, springt an die ruhige Glocke, schwingt sie zu so ungeladener Zeit auf und ab und fliegt plötzlich, bevor sie erklingen kann, an ihrem Schwengel zur Lucke hinaus, hoch über die Häuslein, die Menschlein, das ganze Städtlein durch schwindelblaue Lüfte. Dann saust er wieder herein, zum andern Fenster hinaus, zappelnd vor Tollheit und knirschend vor Lebensübermut. Starr seh' ich zu, das Blut will mir vor Grauen stocken. Aber Pepa und Teresa jubeln vor Stolz über ihren Bruder. Plötzlich, mitten im Glockenschwung, springt der Bub aus der Erzschale herunter zu uns, und der freie Schwengel schlägt gewaltig an den Mantel. Bravo, bravissimo!

Was tust du, Halunke? Die Leute hören es ja. Die Polizei wird kommen. Um Gottes willen, hör auf!

Aber der Spitzbube lacht mich nur aus und läßt es noch ein Weilchen weiterläuten, so prachtvoll und feierlich, als wäre morgen Allerheiligen oder der Einzug des Erzbischofs von Perugia. Und niemand kümmert sich unten um uns. Die Glocken in Umbrien dürfen wie jede andere Zunge reden, so oft und so laut es ihnen beliebt.

Wer von den vielen Baedekergläubigen kennt Gubbio? Wahrhaftig, ich sage euch, eine Woche Gubbio gäbe euch mehr italienische Freuden als die Hetze via Milano-Firenze-Roma-Napoli! Freilich, ihr müßtet im Sommer kommen. Der italienische Sommer ist großartig in Umbrien. Keine Fremden! Keine Bummler! Keine Eindringlinge als du allein, Glückskind! Die Italiener unter sich! Sei denn bescheiden und tue wie alle Einheimischen! Trinke Nostrano, iß Risotto, löffle Minestrone und schlecke den dottergelben Zambiglione! Liege unter einem kühlen Säulenbogen zu Mittag und spiele Harmonika am Abend oder Boccia über die Via ducale hin mit ein paar Handelsjungen! Was italienischer Stil, latinische Gelassenheit, antikes Phlegma ist – nicht etwa Faulheit, o nein! –, großartiges antikes Phlegma, das lernst du erst hier, außerhalb der großen Städte, in den Bergen und kleinen Borghi, wo man noch altes Hirtenblut und die Seßhaftigkeit der Bauern in alle städtische Verschmitztheit gerettet hat.

Liebes Gubbio in den Bergen, ich werde dich nie vergessen! Wie oft im Brausen unserer nordischen Stadt und in der Geschäftigkeit unseres nüchternen, von Dampf und Elektrizität regierten Lebens, denke ich an dich und sehne mich nach deiner so gemütlichen, sorgenlosen Klause! Oh, ich hoffe, dich wiederzusehen und deine uralten Ölbäume, deinen ewig schnupfenden Prevosto und deine zierlichen Töchter, die sonntags nach der Vesper mit verknüpften Händen in langer, die Straße sperrender Reihe von der Unterstadt zur Oberstadt spazieren, die jungen Burschen necken und singen:

Gianino will mich pflücken, Ei, ei!
Als ob ich eine Pfirsich wär'! Ei, ei!
Lern' Haselnüsse beißen,
Ha, ha!
Und Röslein aus den Disteln reißen,
Dann komm, dann komm, vielleicht,
Bis dann Bianca sich erweicht
.

Auch Beato, den Sigristensohn, will ich wiedersehen. Ah, wie er dann erst läuten wird! Ganz Italien muß ihn hören! – Und die Stadtmusik in ihrer farbigen Uniform muß ich wieder auf die Piazza della Signoria marschieren sehen. Und ich will sie wieder den Marsch der Bersaglieri spielen hören. Das wird wieder so zündend sein, daß fast die Pflastersteine zu tanzen beginnen. Und sicher spielt dann Armando Grossi immer noch die Flöte und dudelt immer noch so wunderbare Triolen und Verzierungen in die Melodie wie damals, als ich ihn zuerst vernahm und glaubte, es müsse eine Drossel über den Musikanten fliegen und mittrillern. Auf Wiedersehen, einzig liebes Gubbio!


 << zurück weiter >>