Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Gebt mir meine Wildnis wieder!

Das ist der alte Eremit Petrus, der im verriegelten Schloß bei Fumone von der Türe zum Fenster lief, hin und her, hin und her, mit der fiebrigen Behendigkeit eines zähen, achtzigjährigen Greises, und um der Barmherzigkeit Gottes willen bat, daß man ihn doch zum Gran Sasso oder zur Majella in seine Waldklause heimkehren lasse. Er rief es und weinte es und betete dann seine Psalmen weiter: Benedicite montes et colles Domino... Benedicite glacies et nives Domino!Lobet den Herrn, ihr Berge und Hügel; lobet den Herrn, Eis und Schnee! – Oh, wenn er diese Verse wieder unter den Eichen und Wildkastanien seiner Einsiedelei beten könnte, am Monte Morone, oberhalb Sulmona, gegenüber den grauen und so einsiedlerisch stillen Kämmen der Majella, im Anblick des hellen Januarschnees auf allen Gipfeln! Oh, nur fort aus diesen Marmorsälen und seidenen Kleidern, aus diesen höflichen, glatten Dienerverbeugungen, fort aus dieser herz- und atembeengenden römischen Herrlichkeit in die Gottesfreiheit der wilden Abruzzen!

Der Greis hörte nicht auf zu bitten und zu betteln, und als er es nicht mehr sagen durfte oder konnte, da schrie es seine Seele voll Heimweh weiter. Mit diesem heiligen Schrei nach der Heimat ist der seltsame Mann verschieden.

Der Volksmann Bernardino muß in der Schweigsamkeit des Gebirges sterben, zwei, drei stille Brüder um sich. Und der Eremit Petrus erblaßt in einem päpstlichen Schloß in hohen Ehren und königlicher Haltung. Der eine schreit immer: In die Stadt, in die Stadt, unter die Menschen! Und der andere schreit immer: In die Berge, in die Berge, weit weg von allen Menschen! Wie doch der große Weber der Menschenschicksale dann und wann an seinem Riesenwebbaum das Schifflein so seltsam hin und wider schiebt!

Aber hier, du merkwürdiger Mann, in diesem stillen, großen Kirchenbau vor der Stadt Aquila, so nahe deinen Bergen, deinen Bächen und deinem Schnee, schlummerst du nun zufrieden. Du hast doch wenigstens das Grab wieder da gefunden, wo du deine lebenslange, schöne Heimat besaßest.

Die Geschichte des Petrus Morone, der hier unter den Platten liegt, erschüttert mich immer. Es ist das Trauerspiel zwischen der Härte der Politik und der Weichheit ihres Trägers. Die Härte siegt. Mit dem hochbetagten, himmelvertrauten, aber weltunkundigen Eremiten kommt ein Idyll auf den ersten kirchenpolitischen Posten der Welt, aber wird sogleich vom kalten Zugwind, der auf solchen Spitzen weht, mitleidlos entblättert.

Petrus war in den Naturklausen der Abruzzen um Aquila herum ein hoher Greis geworden, hatte einen Orden gegründet, nicht aus Lust, sondern aus Not, um seinen zahllosen Jüngern Halt und Ziel zu geben. Immer, wenn seine Nacheiferer wieder ein wildes Geklüfte um ihn herum bevölkert hatten, war es ihm zu laut geworden und hatte er sich in ein noch wilderes Gefelse geflüchtet, bis ihn die andrängende heilige Leidenschaft der Jünger zum dritten- und viertenmal in immer strengere Einsamkeiten trieb. Nahe dem achtzigsten Jahr war er so zu einem wahrhaften Heiligen gereift und genoß wegen seines frommen Lebens und seines starken Gebetes einen Ruf weit über die Länder bis Rom und Neapel. Alle Welt wußte davon, nur er wußte es nicht. Dabei war er ein ungelehrter Mann, ohne Erdenkunst und Erdenwissen, ohne die Welt, der er sein Lebtag den Rücken gekehrt hatte, auch nur im gröbsten Fadenschlag zu kennen. Er brauchte das auch nicht, lebte mit Gott, den Vögeln und Sternen und war gleich diesen Geschöpfen so lichtfroh und himmelnahe und seelenzufrieden.

Nun war Papst Nikolaus IV. im Frühling 1292 gestorben. Die Kardinäle versammelten sich zu einer Neuwahl. Aber große und kleine Politik hintertrieb immer wieder die Ernennung eines tüchtigen Mannes. Die französischen Kardinäle wollten einen Franzosen, mindestens einen Freund Karls von Anjou in Neapel, desselben düstern Mannes, der den Staufen Konradin hatte enthaupten lassen. Andere begehrten einen deutschfreundlichen Statthalter Christi. Von einem unabhängigen Kirchenhaupt war keine Rede. Zugleich spaltete sich das Kollegium in eine Orsini- und Colonnapartei, nach den gleichnamigen, zwei sich tödlich hassenden Adelsfamilien Roms. Keine gönnte der anderen die Tiara. So tief war der purpurne Senat gesunken, daß er mehr mit Maklern als mit Gottberatenen verglichen ward. Es kam zu keiner Wahl. Die graue Elster der Politik, nicht die weiße Taube des Heiligen Geistes schwebte über den Häuptern.

Zwei volle Jahre hatte man sich schon beraten. Die katholischen Völker wurden besorgt, der Klerus ärgerte sich, die Regenten sandten Gold und Drohungen, immer wirrer wurde die Sache.

Man änderte den Ort, als ob es damit besser würde. Aber die Intrige folgte den Wählern von einer Stadt in die andere. Endlich, im Hochsommer 1294, versammelte man sich im alten umbrischen Perugia. Und da erinnerte sich wohl mehr als ein Kardinal an den großen Papst, der hier in der Domgruft schlief. Man schämte sich vor dem Toten, man beeilte sich jetzt. Fast ein Säkulum war verflossen, seit Innozenz III. den Hirtenstab der Welt so unvergleichlich stark in die junge Hand genommen hatte. Damals freilich saß den Wählern noch ein heilloser Schrecken vor Barbarossa und mehr noch vor seinem furchtbaren jungen Sohne, Heinrich VI., dem germanischen Cäsar, in allen Knochen. Da erlosch jegliche Intrige. Rasch ward der jüngste, aber gewaltigste Mann des Kollegiums gewählt, auf den weltlichen folgte ein geistlicher Cäsar. Man hörte die Kirche an jenem Tage aufatmen wie zu Konstantins Zeiten.

Wohlan, zur Wahl, o Väter von Perugia! Aber nehmt keinen Innozenz! Jetzt ist ein großer Heinrich oder Friedrich nirgends, wohl aber ein strammer Papst zu fürchten, der in die Wirrnis und Verdorbenheit der Kirche wie ein anderer Elias fahre.

So erkor man einen Heiligen Vater, den die meisten Bischöfe nur dem Namen nach kannten und von dem die lauesten Priester nichts zu fürchten hatten, weil er zwar ein Heiliger, aber ein Tor der Welt war, so ein verwilderter, alter Einsiedler, der viel besser den Amselpfiff von Drosselpfiff als die welsche von der germanischen Politik zu unterscheiden wußte. Man wählte zum Papst den nie gesehenen, aber landberühmten Petrus droben in den apulischen Bergen.

Ist je ein Mensch so erschrocken wie der uralte Petrus Morone, als eines Tages plötzlich durch das Gestrüpp seiner Wildnis samthosige Junker, behelmte Ritter und drei seidenschimmernde Bischöfe brachen, müde und schwitzend von der harten Bergtour, dahinter ein Gezwitscher junger Höflinge und Knappen? Als sie alle die Knie vor dem elend bekutteten, struppigen Klausner bogen, ihn Papa und Pontifex Maximus nannten und ihm dann mit begeisterten Versen die gültige Ernennung zum Herrn der Christenheit anzeigten? Er glaubte es nicht, bis er das Pergament mit dem Siegel des Fischerrings durch seine zitternden Finger gleiten ließ. Nun fiel der Arme zu Boden vor Entsetzen, weinte, wehrte ab, rutschte flehend wie ein Kind von einem Gesandten zum andern, wies auf sein kahles Haupt, seinen verwilderten Bart, seine Hände, braun und knorrig wie Tannenwurzeln. Besonders entblößte er sich in seiner ganzen Unwissenheit an allem, was man unter den Menschen und vor allem auf ihrer obersten Spitze wissen müsse. Er habe ja darum auch die Leitung seiner eigenen Ordensfamilie, so einfacher, roher Waldbrüder, längst niedergelegt und sich ganz still hierher zurückgezogen. Denn er könne kein noch so kleines Gemeinwesen regieren und verwalten, höchstens so eine Klause mit etlichen Waldvögeln, Hasen und seinem eigenen überlästigen, dem Tode verfallenen Menschen. Nein, nein, sie sollen zurückkehren! Es sei ein Irrtum. Er würde dem Heiligen Stuhl Spott und Schaden bereiten. Dies da sei sein Purpur. Er hob seinen halb weißen, halb braunen Habit voll Tannennadeln und Harztropfen über die Fußknöchel. In dem fühle er sich allein wohl.

Je mehr der Eremit in seiner großartigen Schlichtheit sprach, um so wahrhaft erlesener und päpstlicher kam er den Sendlingen vor. Erschüttert hörten sie zu. Eine Ahnung davon, wie tief sie in der Erde steckten und wie viel Himmel so ein Heiliger ihnen bringen könnte, beschlich den weltlichsten Junker und den losesten Pagen. Dennoch vermochten die Bischöfe der hinreißenden, zu Tode geängstigten, auf den Knien flehenden Beredsamkeit dieses außerordentlichen, geistlichen Naturmenschen keine Gegengründe vorzuhalten. Noch tiefer als bei der Begrüßung verneigten sich alle und gingen leise bergab. Sie hatten erwartet, einen neuen Papst zu sehen, und nun eine viel größere und schönere Neuigkeit erlebt: einen wahrhaften Heiligen.

Als die Deputation weggegangen war, glaubte der Alte, aus seiner Jünglingszeit und jener raschen Römerwoche geträumt zu haben, da man ihn zum Priester weihte. So schnell als möglich war er damals aus der heißen Stadt in seine Einöde zurückgekehrt, so daß er nur ein jähes Aufschimmern von Gold und Marmor davon in seiner Erinnerung bewahrt hatte. Flackerte nun dies Anerbieten nochmals vor dem Tod in ihm fast greifbar und heiß wie ein wirkliches Feuer aus der Asche seiner Vergangenheit auf? Seltsam wäre das.

Oder war es eine Versuchung gewesen? So ein schlaues Blendwerk der Hölle, wovon man in den Einsiedler-Legenden so viel liest? Peter Morone lachte wie ein Kind. Dann hat der Widersacher schlecht Theater gespielt. Mit Seide und Gold und hohen Stuhllehnen kann man einen so alten, widerhaarigen Barbaren des Gebirgs wahrhaftig nicht mehr ködern. Das hat der Teufel nun einmal gänzlich dumm angestellt. Geißel und Stachelgürtel und eine noch rauhere und frömmere Aszese hätte er mir im Glorienschein anderer, größerer Eremiten zeigen und damit meinen Neid wecken sollen. Der gehörnte Narr! Nun hat er die gute Gelegenheit für immer verpaßt.

Zufrieden suchte Peter ein paar Schwämme, um sie in seinem Töpflein mit Wasser und Reis aufzukochen, und pfiff ein helles Liedchen aus seinem stillachenden Mund, um den eine weltfremde Seligkeit spielte. So pfeift ein frischer Knabe, wenn er aus einem bösen Traum erwacht, mit festen Füßen in den Tag hineinspringt und merkt, daß das alles nur Spuk und Spinngewebe der Nacht war.

Doch nein, hier war es kein Traum. Petrus war wirklich gewählt. Immer dringendere Deputationen bestiegen den Berg. Die Könige von Neapel und Ungarn kamen höchstselbst herauf und beschworen Peter, sich der papstlosen Welt zu erbarmen. Die Kardinäle drohten, er verschulde den Zorn des Himmels, wenn er sich länger weigere, der Kirche den Frieden zu geben. Wie ein Meer so groß und tief sei das Ärgernis der Christenheit über den seit Jahren verwaisten und widerlich umzankten Hirtenstab Petri geworden. Bald würden ganze Länder an Rom irre und abfallen. Von seinem Ja oder Nein hänge das Schicksal der Welt ab.

So gab der Greis denn verzweifelt nach und ward feierlich nach Aquila hinuntergeführt. Halb Italien lief in die Abruzzen hinauf, um den so wundersam Gekrönten zu sehen. Nun stand wieder einmal ein Heiliger am Steuer der Kirche.

 

Aber sieh da, der Papst blieb Wochen und Monate in der Bergstadt. Sich von seinen Bergen trennen, war ihm beinahe, wie Leib und Seele voneinander scheiden. Die Römer, die Fürstenboten, die Kardinäle mußten zu ihm hinaufkommen. Hier oben erledigte er die Amtsgeschäfte, wohin man erst unter vielen beschwerlichen Tagreisen gelangte. Man bat ihn stündlich, nun doch nach Rom zu ziehen, wohin jeder Papst so sicher als das Licht am Himmel gehöre. Aber beharrlich weigerte er sich. Er ist der erste Papst, der Rom nie sah, und der einzige, der es nie zu sehen wünschte.

Der alte Mann, der sich sein Lebtag selbst bedient hatte, ward jetzt von einem ganzen Troß von Kämmerlingen umgeben. Edelknaben schenkten ihm kniend den Wein in den schweren Goldbecher. Ach, wieviel lieber hätte er mit der hohlen Hand das Wasser aus einem Bächlein geschöpft!

Ganz ungewohnt kamen ihm die dicken, von Edelsteinen strotzenden Ornate vor. Sein Ohr, das ans Rauschen der Eichenkronen gewohnt war, konnte das gleißende Knistern der Seide nicht ertragen. Nie taten ihm, wenn er über grobe Felsen oder knorrige Stämme emporkletterte, die Hände so weh wie jetzt beim Betasten von so viel weichem, wulstigem Samt. O Eichen, o Felsen, o himmlische Wildnis!

Was wußte er von Akten und Kassen und dem Gekritzel der Kanzleien? Was behelligte ihn das bisher? Nie hatte er mit solchem Wisch zu tun gehabt. Sich als Achtziger daran gewöhnen, war nicht mehr möglich. Die pfiffigen Höflinge merkten das sogleich. Wie die Diener goldenes Geschirr stahlen und verkauften, so vergaben die Beamten seines Hofes, weltliche oder doch verweltlichte Herren, Bistümer und geistliche Privilegien um Geld, täuschten dem greisen Papst je nach ihrem Profit eine Sache weiß oder schwarz vor, ahmten seine gröbliche Unterschrift nach. Die Einfalt dieses Kindes des Lichtes ward von den kniffereichen Weltkindern mißbraucht, und die Kirche Gottes litt mehr unter diesem betrogenen Papst als in allen papstlosen Zeiten.


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