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Vierundzwanzig Stunden später. Luff und Ballinger saßen sich an dem großen Mahagonischreibtisch gegenüber, der die meisten Szenen der kurzen Tragödie gesehen hatte.
Ballinger blickte zum Fenster hinaus, während er sprach. Luff spielte gedankenverloren mit einem Hundertdollarscheck vor sich auf der Tischplatte.
Hin und wieder, wenn Ballinger eine Pause zum Atemholen machte, drang entferntes Autohupen in das Zimmer. Als Luff unter einem besonders aufdringlichen, grellen Sirenenton zusammenzuckte, lächelte Ballinger.
»Jaja, es gibt noch eine andere Welt als die raffiniert verhüllte der mordenden Künstler. Da draußen ist man lauter, schriller, aber auch wohl eintöniger ...
Übrigens: Hat es lange gedauert, bis er gestanden hat?«
Luff schüttelte den Kopf: »Fast sah es so aus, als würde er überhaupt nicht mehr den Mund aufmachen. Schien plötzlich die Sprache verloren zu haben. Und dann gestand er, ganz unvermittelt. Alle beiden Morde ...«
Ballinger nickte sinnierend. »Und nie hätte man ihn überführen können, nie hätte man an ihn gedacht, wenn nicht ...«
»Wenn es nicht einen gewissen John Ballinger gegeben hätte?«
»Nein, das wollte ich nicht sagen. Sondern wenn es nicht einen ganz gleichgültigen, dummen, alltäglichen Zufall gegeben hätte. Nämlich, als ich in der Mordnacht auf der Bancroftschen Gesellschaft war, stieß mich Oefele durch sein halb taktloses, halb komisches Benehmen auf ein Bild, dem ich sonst vielleicht gar keine Beachtung geschenkt hätte. Es war das kleine Porträt der Olive Lanson. Und nun kommt der Zufall. Keine zwei Sekunden später ging ich zum unvollendeten Porträt Beverley Bancrofts. Um sofort eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden Bildern festzustellen. Zunächst einmal sah ich, daß sie beide von einem Linkshänder gemalt worden waren. Der Pinselstrich ging von links oben nach rechts unten; dann entdeckte ich bei beiden Bildern die auffallende Verwendung einer bestimmten Mischung von Rot, dann eine gewisse Gleichheit der Hintergrundsauffassung ... kurz, beide Bilder hatten die Charakteristika eines Malers.«
»Aber deshalb brauchten Sie doch nicht gleich darauf zu kommen, daß Berenson der Mörder ist?«
»Nein, aber daß er ein Mörder ist. Das Porträt der Olive Lanson hatte nämlich ihr Mörder gemalt – Vance Albertson, der seitdem spurlos verschwunden war. Und nun schien es so, als ob dieser Vance Albertson auch das Porträt der Beverley Bancroft malt ...«
»Aha, jetzt fange ich an zu begreifen.«
»Klar, nicht wahr, nachdem was ich Ihnen über die Untrüglichkeit der besonderen Merkmale eines Künstlers erzählt habe ... Nun, das war natürlich im Anfang alles noch eine vage Ahnung von mir. Zum Verdacht verdichtete sich das alles erst im Archiv der ›Sun‹, als ich nämlich entdeckte, daß Olive Lanson mit Beverley Bancroft, damals Sanders, zusammen gelebt hatte. Beverley Bancroft mußte also den Mörder Vance Albertson kennen, sogar gut kennen ... Begreifen Sie, jetzt kommen wir auf das Motiv.«
»Na, das ist mir ja alles klar. Auch daß Sie nach Santa Fé« depeschiert haben, daß Sie dann einen dicken Brief voll Einzelheiten über die Erfolge der Haussuchung erhielten, das weiß ich alles. Auch ein begreifliches Motiv hatten Sie gefunden, aber nun gleich auf Berenson als Mörder von Beverley Bancroft zu schließen?«
»Luff, Sie vergessen, daß sich für mich die Verdachtsmomente in diesem Stadium mehr verdichtet hatten, als sie Ihnen jetzt erscheinen. Wir wußten beispielsweise von Anfang an, daß der Mörder auf keinen Fall im Zimmer gewesen sein konnte, daß er auch nicht zwischen Fenster und Kommode gestanden hat. Wir wußten auch sofort, daß niemand durch das Fenster hereingekommen war, und wir wußten vor allen Dingen – durch einen Experimentalvortrag an Ihnen selbst durch mich bewiesen –, daß die Todeswunde nie und nimmer durch einen Stich verursacht sein konnte. Was blieb also übrig? Der Dolch mußte geworfen worden sein!«
Luff schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
»Das berühmte Ei des Kolumbus! Und selbstverständlich konnte die Waffe nur aus dem Fenster des Nebenhauses geschleudert worden sein, weil das der einzige Punkt war, von wo aus der Mörder diesen Wurf anbringen konnte. Aber wie kamen Sie darauf, dem Kerl diese Fähigkeit zuzutrauen?«
»Wie ich Ihnen schon sagte, ich wußte sofort, daß der Dolch nur geworfen sein konnte. In meinem Telegramm an die Polizei in Santa Fé fragte ich nach, ob man diesbezüglich etwas über Berenson wüßte. Na, und darüber wußten sie 'ne ganze Menge. Sie schickten mir einen langen Bericht über die ›Jagdgesellschaft 1912 von Santa Fé‹ und deren neuesten Sport, das Messerwerfen. Daß ein gewisser Kunstmaler Berenson zweimal hintereinander die Klubmeisterschaft gewonnen hatte, interessierte mich selbstverständlich ganz besonders.«
»Und damit war die Beweiskette geschlossen«, nickte Luff.
»Ja, was dann noch kommt, war ja Sache des kleinen kriminalistischen Einmaleins, primitivste Recherchearbeit. Ich meine, die Sache mit dem Haus nebenan und dem Doktor Arnold ...«
»Ja, richtig, wie kamen Sie denn überhaupt auf den?«
»Weil ich im Archiv der ›Sun‹ aus den Zeitungsausschnitten festgestellt hatte, daß Beverley Sanders recte Beverley Bancroft um die Zeit, da Olive Lanson ermordet worden war, mit einem gewissen Doktor Arnold verlobt war. Es war also einigermaßen wahrscheinlich, daß der auch Vance Albertson kennen mußte.«
Luff gab sich jetzt keine Mühe mehr, seine bewundernden Blicke unter bärbeißig heruntergezogenen Brauen zu verdecken.
»Alle Achtung! Ihr komischer Spaziergang zum Zeitungsarchiv hat doch einen Sinn gehabt.«
Ballinger lächelte fein.
»Überhaupt ist die Methode des etwas verrückten John Ballinger nicht so ganz zwecklos gewesen, wie?«
»Und vor allen Dingen nicht erfolglos«, knurrte Luff und schob Ballinger mit wehmütigem Blick den Scheck hinüber.
Ballinger steckte ihn grinsend in die Westentasche. »Verbindlichen Dank. Übrigens muß ich Ihnen was zeigen.«
Er bückte sich und hob ein grauverschnürtes Paket vom Fußboden. Er riß die Hülle ab. »Das habe ich gestern aus dem Nachlaß der Beverley Sanders erstanden. Erinnern Sie sich an die Bronzeuhr vom Kamin? Sie gehörte einmal dem Polizeipräfekten von Paris in den letzten Tagen von Bonapartes Regierungszeit.«
Luff verzog den Mund:
»Jaja, so kommen die Dinge herunter!«
»Zum ersten Male seit langer Zeit haben Sie recht«, Ballinger schlug ihm schallend auf die Schulter. »Die Uhr soll nämlich ein kleines Geschenk von John Ballinger an seinen Freund Inspektor Luff sein.«
* * *