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Genau vor zehn Jahren


Als sie wieder vor der Haustür standen, sah Ballinger auf seine Armbanduhr.

Also auf Wiederschauen einstweilen, Inspektor.« Er streckte Luff die Hand hin. »Ich hab' noch was vor.«

Luff sah aus wie aus allen Wolken gefallen. »Was? Gerade jetzt, wo der Klamauk losgeht?«

Ballinger machte ein zweideutiges Gesicht.

»Ja. Gerade jetzt, wo der Klamauk losgeht.«

Inspektor Luff und die beiden Detektive kletterten in den Polizeiwagen, und Ballinger schlenderte zum Broadway hinunter. Hin und wieder lachte er in das Dunkel hinein.

An der Ecke der 110. Straße ging er in ein Zigarrengeschäft und bat um ein Telefonbuch. Es dauerte nicht lange, und er hatte gefunden was er suchte. Leise vor sich hin flötend, ging er zur nächsten Untergrundbahnstation. Er fuhr bis zur Prospect Park Plaza, und als er dann unvermittelt unter dem frei sich dehnenden Himmel Brooklyns stand, tat er, was alle Bewohner Manhattans unter diesen Umständen tun – er fragte den nächsten Vorübergehenden um Auskunft.

»Immer hier geradeaus«, instruierte ihn der. »Dann die erste Querstraße rechts. Es ist gleich der zweite Block nach dem Park.«

Traumhaft friedlich kam Ballinger diese Gegend vor. Große alte Bäume standen vor den Häusern, und die warme Nachtluft trug den lebenskräftigen Atem grüner, dunstfeuchter Blätter. Um die spärlichen Lampen summten Mückenschwärme. Hier und da fiel ein Lichtschein aus einem offenen Fenster, aber sonst lag die breite Straße zwischen den alten Ziegelhäusern in mildem Dunkel.

Ganz am Ende des Häuserblocks fand er das Haus, das er suchte. Neben dem Eingang las er auf einem Kupferschild: »Doktor James Arnold, praktischer Arzt.«

Eine ganz in Weiß gekleidete Schwester öffnete ihm.

»Ist Herr Doktor zu Haus?« fragte er. »Ja. Sind Sie bestellt?«

Ballinger gab lächelnd zu, daß er es nicht wäre. Er händigte ihr seine Karte aus.

»Er hat nämlich gerade eine Konsultation«, erklärte sie, als sie ihn in das hohe Wartezimmer führte. »Aber ich glaube, es kann nicht mehr lange dauern.«

Sie ließ ihn allein, und Ballinger konnte sich ungestört im Raum umsehen. Ein gekachelter Kamin, vergilbte Kupferstiche an den Wänden, komfortable und geschmackvolle Polstermöbel verliehen dem Raum eine einlullend behagliche Atmosphäre. Ballinger spürte jetzt, wie sehr ihn die letzten Tage mitgenommen hatten. Er mußte geradezu gegen den Drang ankämpfen, sich lang auszustrecken und die Füße auf einen der Stühle zu legen.

Dem Doktor Arnold, überlegte er in träger Behaglichkeit, scheint's offenbar sehr gut zu gehen.

Die Zimmereinrichtung war weder übermäßig neu, noch spürbar alt, alles war von solider und unauffälliger Eleganz. Der vornehme Eindruck, den das Zimmer machte, schien kein zufälliger Effekt zu sein, und nach den Eselsohren in den neuesten Magazinen, die auf dem Tisch lagen, und der Reihe von Kartothekkästen an der Wand zu schließen, mußte der Doktor Arnold eine ziemlich große Praxis haben.

Nach kurzer Zeit bat ihn die Schwester, näherzutreten. Doktor Arnold, hinter einem mächtigen Schreibtisch sitzend, begrüßte ihn mit einem gewohnheitsmäßigen Lächeln. Eine ganz und gar andere Vorstellung hatte sich Ballinger von diesem Manne gemacht. Doktor Arnold konnte höchstens fünfunddreißig Jahre alt sein. Er war mittelgroß und zeigte eine leichte Neigung zur Fülle.

»Bitte setzen Sie sich«, bat er. »Also, wo fehlt es, Herr Ballinger?«

Stimme und Gebärde hauchten jene selbstverständliche Überlegenheit, jenes wohlwollende Selbstbewußtsein aus, das in erster Linie zu dem Beruf eines praktizierenden Arztes gehört.

Ballinger machte keine Umschweife.

»Ich assistiere Inspektor Luff von der Mordkommission im Fall Bancroft. Ich hätte gern einige Auskünfte von Ihnen gehabt. Sie kannten doch, glaube ich, die Tote?«

Der Arzt sah Ballinger mit einem seltsamen Blick an. »Und ob ich sie gekannt habe! Sehr, sehr gut sogar.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Herrgott, es ist mir immer noch unbegreiflich! Beverley soll jetzt tot sein, ermordet! Wer kann dieses lebensfreudige Geschöpf getötet haben? Und warum?«

Ballinger zog die Schultern hoch.

»Das weiß die Polizei auch noch nicht. Der Fall ist wirklich ziemlich verwirrt.« Er nahm eine von Doktor Arnolds angebotenen Zigaretten. »Also Sie kannten Frau Bancroft sehr gut?«

»Um aufrichtig zu sein«, antwortete Arnold, »die Frau Bancroft kannte ich überhaupt nicht, aber eine Beverley Sanders kannte ich einmal sehr gut. Das war nämlich ihr richtiger Name. Vor acht Jahren hat sie ihn abgelegt, und seitdem habe ich sie nur flüchtig hin und wieder gesehen. Ich hatte meines Vaters Praxis hier zu übernehmen, na, und Beverley hatte sich andere Freunde gesucht. Aber so seltsam es auch klingen mag, wenn man bedenkt, wie weit Unsere Lebenswege auseinandergegangen sind: vor langen Jahren waren wir einmal verlobt.«

Ballinger sah auf den Glutrand seiner Zigarette.

»Und wann war das?«

Doktor Arnold überlegte.

»Vor zehn Jahren, genau vor zehn Jahren. Beverley war noch ein kleines Chormädchen und ich Theaterarzt am Bellevue. Ich war gräßlich verliebt in sie und wollte sie natürlich heiraten. Nun, Sie können sich ja selbst denken, was das Ende vom Lied war. Ein junger Arzt ohne Geld und dies schöne, genußsüchtige Geschöpf. An Heirat war nicht zu denken, wenn sie mich wohl auch lieb hatte. Stube und Küche kam für sie nicht in Frage.«

Ein trockenes Lächeln spielte jetzt um seinen Mund. »Obgleich ich glaube, daß sie und Olive Lanson, eine Kollegin, mit der sie zusammen lebte, damals mehr als das hatten ... Also wie gesagt, sie sehnte sich nach rauschenden Erfolgen, und als Männer kamen, die mehr für sie tun konnten als ich, hoben wir unser Verlöbnis auf. Trotzdem aber blieben wir noch Jahre hindurch gute Freunde – bis ich heiratete.«

Ballinger war minutenlang in Gedanken versunken.

»Sie erwähnten Olive Lanson«, nahm er schließlich wieder das Gespräch auf. »War das die junge Dame, die von ihrem Liebhaber erdrosselt wurde?«

Arnold nickte. »Ja, auch eine gräßliche Sache. Beverley war damals über das Wochenende fort, und Olive, die mit zwei Männern Liebesgeschichten hatte, war allein zu Hause. Nun, der eine von den beiden verlor den Kopf, als sie ihm den Laufpaß geben wollte. Er hieß ... Lassen Sie mich mal nachdenken.« Er fuhr sich ein paarmal über das Kinn. »Richtig, jetzt erinnere ich mich. Vance Albertson hieß er. Komischer Kerl. Vielseitig begabt, aber reichlich ziellos. Hat komponiert, ganz brauchbare Verse in Prosa geschrieben und sogar hin und wieder etwas gemalt und gebildhauert. Es scheint, daß er damals spät nachts in ihre Wohnung gekommen ist und sie nach einem heftigen Streit attackierte. Eine der Nachbarinnen hörte den Zank und dann den Hilfeschrei der kleinen Olive. Als die Polizei dann kam, war Albertson natürlich schon fort.« Er schüttelte leise den Kopf. »Seltsam, nicht wahr? Wie ähnlich diese beiden Fälle sich sind.«

Er sah ein paar Sekunden lang versunken in das milde Licht der Tischlampe. Dann zog er plötzlich das Mittelfach seines Schreibtisches auf.

»Und denken Sie sich«, sagte er. »Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief von Beverley bekommen, kurz bevor sie ermordet wurde. Ich glaube, es war am Dienstag.« Er reichte Ballinger das Schreiben hinüber. »Der Brief sagt nicht viel, aber wenn Sie ihn lesen wollen ...«

»Lieber Jimmy«, las Ballinger. »Ich weiß, Du machst nicht gerne Hausvisiten, aber vielleicht machst Du mit mir eine Ausnahme und besuchst mich in dieser Woche einmal an irgendeinem Nachmittag. Ich brauche in einer sehr wichtigen Sache Deinen Rat.«

Unterschrieben waren die wenigen Zeilen mit »Bev.«

»Ich wollte am Mittwochnachmittag hingehen«, sagte Doktor Arnold in leiser Melancholie, »dann kam mir etwas dazwischen, und Donnerstag früh las ich schon, daß sie tot war.«

Um Ballingers Mund legte sich ein grimmiges Lächeln.

»Vielleicht war es gut«, sagte er dunkel, »daß Sie nicht gegangen sind.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Übrigens, Herr Doktor, wie hieß Ihr Vater mit Vornamen?«

»James«, beantwortete der Arzt verwundert die absonderliche Frage. »Genau so wie ich. Aber jetzt ist er tot. Vor einem Jahr habe ich ihn verloren ... und meine Mutter dazu ... Sie kamen beide bei dem fürchterlichen Untergrundbahnunglück um.« Er seufzte leicht. »Und zur Trauer habe ich bisher kaum Zeit gehabt. Mein Vater hatte eine sehr weit ausgedehnte Praxis, und ich mußte Hals über Kopf hineinspringen.«

»Sind Sie zurzeit sehr überlastet?« fragte Ballinger.

»Nein, augenblicklich geht es. Die meisten meiner Patienten sind in die Sommerferien gegangen.«

»Wäre es Ihnen dann vielleicht möglich, morgen gegen zwei Uhr in Beverley Bancrofts Villa zu sein?«

Doktor Arnold war offensichtlich verwirrt.

»Warum? ... Ja, sicherlich. Aber was für einen Grund könnte das? ... Ich ...«

Ballinger hob die Hand und lächelte.

»Ich möchte es lieber noch nicht sagen, Doktor.«

* * *


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