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Inspektor Luff tritt auf


Sanders schien unfähig zu jeder Bewegung zu sein. Hin und wieder öffnete er den Mund, ohne auch nur ein Wort herauszubringen. Die schreckensstarren Augen hatte er nicht von seinem Gast abgewandt.

Ballinger kam auf ihn zu.

»Ermordet? Wer sagt das?«

Sanders quälte sich eine Antwort heraus.

»Fräulein – Frau Peters ... die Haushälterin. Sie hat sie ... eben hat sie sie gefunden.«

Er griff mit flatternden Händen zum Telefon. Hielt plötzlich inne:

»Die Garage. Ich – ich hab' die Nummer vergessen.«

Ballinger zog ihn zur Tür. »Das ist doch gleichgültig. Wir nehmen ein Taxi.«

Als sie durch die Nacht rasten, versuchte er den versteinten Mann an seiner Seite auszuforschen. Beverley, das erfuhr er aus den zerrissenen, heiseren Sätzen ihres Bruders, war in ihrem Schlafzimmer erstochen worden. Das Mädchen hatte sie schreien hören, war ins Zimmer gestürzt und hatte sie auf dem Boden liegend aufgefunden, mit durchschnittener Kehle.

Ob sie tot war?

Sanders wußte es nicht. Die Haushälterin hatte von »ermordet« gesprochen. Aber sie kann sich ja geirrt haben. Vielleicht – vielleicht ...

Herrgott, warum fuhr der Kerl nicht schneller!

Als sie die Stufen des alten Sandsteinhauses hinaufstürzten, kam ein Ambulanzauto herangerast. Sie hörten seine Bremsen quietschen, als Sanders sich gegen die Tür warf, die widerstandslos aufging. Durch das leere Empfangsgeschoß liefen sie die Treppe hinauf in die zweite Etage. Am Ende des Vestibüls, an der Schlafzimmertür, hockte mit aschfahlem Gesicht die Zofe, die Hände über der Brust verkrampft.

Sie blieben bei ihr stehen. Das große Schlafzimmer, fast über die ganze Breite des Geschosses gehend, schien auf den ersten Blick in vollkommener Ordnung zu sein. Wie fast alle Räume des Hauses war es in französischem Rokoko gehalten. Ein riesiges Muschelbett stand zwischen den beiden hohen Fenstern. Am Fußende stand eine alte Mahagonikommode. Als Gegenstück befand sich an der gegenüberliegenden Seite eine hohe Truhe mit zwei kleinen Sesselchen daneben. Ein Diwan mit vielen Kissen schloß den Fußteil des Bettes ab.

Dessen seidene Steppdecke war unzerknüllt. Alles war in Ordnung und ungebrauchter Bereitschaft; jedes Ding schien an seinem vorbestimmten Platze zu stehen. Selbst die beiden hochhackigen Seidenpantöffelchen am Fußende des Diwans.

Eine Dekoration von klarer, zierlich geordneter Eleganz. Eine seltsame Dissonanz dazu nur der ausgestreckte Körper auf dem Parkett zwischen Kommode und Bett. In einen blauen Morgenrock gehüllt, lag Beverley Bancroft mit ausgestreckten Armen auf der linken Seite, ein Bein krampfig hochgezogen, das andere berührte einen Bettpfosten. Neben ihr kauerte zusammengekrümmt die Haushälterin. Mit zitternden Fingern preßte sie ein blutdurchtränktes Frottiertuch gegen den klaffenden Spalt in Beverleys Nacken.

Sie sprang erschreckt auf, als Ballinger und Sanders in das Zimmer traten. Als sie etwas zu den beiden Männern sagen wollte, trat hinter ihnen ein Mann in der weißen Uniform eines Ambulanzarztes in das Zimmer. Ohne müßige Fragen kniete er neben Beverley nieder, fühlte den Puls, ließ aber währenddessen keinen Blick von der kurzen, flachen, speerspitzenartigen Waffe, die neben ihrer linken Schulter lag. Nach einigen Sekunden preßte er seine Hand gegen ihre Schläfe und stülpte ein Augenlid um.

»Tot«, sagte er kurz, als er aufstand.

Ein erstickter Aufschrei ließ Ballinger herumfahren. Die Zofe war in Ohnmacht gefallen. Als die Männer sie auf das Bett legten, traten ein Sergeant und zwei Schutzleute in das Zimmer; kurz darauf folgten drei Männer in Zivilkleidung. In einem von ihnen erkannte Ballinger mit einem schnell prüfenden Blick Inspektor Thomas Luff, Leiter der Mordinspektion, mit dem er in jüngeren Jahren in einigen Fälschungsaffären viel zusammengearbeitet hatte.

Luff, ein kräftiger, breitschultriger Mann mit grauem, kurz gehaltenem Haar und gestutztem Schnurrbart, übernahm sofort, wie selbstverständlich, die führende Rolle.

»Also wer war's?« fragte er knapp.

Er besah sich eingehend die Haushälterin und Sanders. Als sein Blick auf Ballinger fiel, erhellte sich plötzlich sein Gesicht.

»Teufel! Was machen Sie denn hier?«

Ballinger zeigte mit dem Kopf auf Sanders.

»Ich bin mit ihrem Bruder hergekommen«, antwortete er und schüttelte herzlich die ausgestreckte Hand des Inspektors.

»Wissen Sie was über die Sache?« wollte der wissen.

Ballinger schüttelte den Kopf.

»Nicht viel. Ich bin knapp vor Ihnen gekommen und habe noch keine Chance gehabt, auch nur ein einziges Detail zu erfahren. Die Haushälterin«, er zeigte auf die kleine gedrungene Frau, »war um die Zeit im Hause. Sie und das Mädchen, glaube ich.«

Der Inspektor drehte sich langsam um und sah ernst auf den Körper am Boden.

»Kehle durchgeschnitten, wie?«

Dann wandte er sich an einen der beiden Detektive, die mit ihm gekommen waren, einen muskulösen, schlaksigen Kerl mit rotem Haar und scharfen Gesichtszügen.

»Nehmen Sie lieber das Messer fort, Farland, bevor sonst irgend jemand seine Fingerabdrücke darauf verewigt.«

Er winkte der Haushälterin.

Schüchtern gehorchte sie.

»Ihr Name?«

»Frau Carry Peters, Herr.«

»Sie arbeiten hier?«

»Jawohl. Ich bin die – Haushälterin.«

Luff hüstelte.

»Wissen Sie, wer es getan hat?«

Sie schüttelte entsetzt den Kopf.

»Ich habe keine Ahnung, Herr.«

»Haben Sie irgend jemand im Hause gesehen oder gehört?«

»Nein.«

Der Detektiv zündete seine Zigarre an und löschte mit einer heftigen, schlenkernden Handbewegung das Feuer.

»Also erzählen Sie mal alles, was Sie wissen.«

»Ich – ich weiß nicht viel«, zögerte die Frau. »Ich habe geschlafen, als es geschah. Marie hier«, sie zeigte auf das Mädchen, das, von heftigem Schluchzen geschüttelt, auf dem Bett lag, »hat mich geweckt. Sie kam in mein Zimmer und schrie. Und dann erzählte sie mir, daß die gnädige Frau erstochen worden wäre. Da hab' ich dann meinen Morgenrock übergezogen und bin hierhergelaufen. Und da hab' ich sie gefunden, wo sie jetzt liegt, nur, sie war noch nicht tot. Aber bewußtlos war sie, sie hat schrecklich geblutet. Da bin ich dann ins Badezimmer gelaufen und habe ein Handtuch geholt und hab' versucht, das Blut zu stillen, aber ich hab' ja gleich gesehen, daß es nicht viel Zweck hat. Der Stich war ja viel zu tief. Gar nichts konnte ich weiter tun.«

»Und als sie ins Zimmer kamen, war da noch jemand hier?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Erinnern Sie sich, um welche Zeit der Mord geschah?«

»Ja, ganz genau. Es kann ein oder zwei Minuten nach drei Viertel drei gewesen sein. So um diese Zeit kam die Marie in mein Zimmer gestürmt, und da hab' ich mich im Bett aufgesetzt und die Nachttischlampe angeknipst. Im Dunkeln aber hab' ich den Wecker umgestoßen, und als ich daraufsah, war es etwas nach drei Viertel drei.«

»Wo ist Ihr Zimmer?«

»Im dritten Stock. Direkt über diesem Zimmer.«

Luff nickte.

»Sie sagen, Sie haben versucht, das Blut zu stillen, und konnten es nicht. Was haben Sie dann getan?«

»Ich – ich wußte nicht, was ich tun sollte. Zuerst wollte ich auf die Straße laufen und um Hilfe rufen. Aber dann dachte ich an den Herrn Sanders, ihren Bruder, und da hab' ich ihn angerufen. Und nachdem ich ihm gesagt hatte, was geschehen war, habe ich sofort dem Fräulein vom Amt Bescheid gesagt, daß sie schleunigst einen Arzt schicken soll und daß unsere gnädige Frau erstochen worden wäre.«

Luff zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart.

»Hat Frau Bancroft an dem Abend Besucher gehabt, die Sie kannten?«

»Ja. Aber wer alles da war, weiß ich nicht genau. Sie brachte ein paar Leute mit, als sie aus dem Theater kam. Ich hörte Klavier spielen und sprechen. Aber ich weiß nicht, wer das alles war. Ich lag schon im Bett und wollte schlafen. Marie bleibt in solchen Fällen immer auf. Ich muß nämlich morgens früh heraus.«

Die Ankunft Doktor Radcliffes, des Arztes der Mordkommission, unterbrach die Vernehmung. Der große Mann mit dem ernsten Gesicht kam leise in das Zimmer, begrüßte den Inspektor mit Handschlag, nickte den beiden Detektiven kurz zu und begann sofort seine Untersuchung.

Inspektor Luff rief den untersetzten Detektiv heran, der mit ihm und Joe Farland gekommen war.

»Die Eingänge haben Sie bewachen lassen, nicht wahr, Clavin?«

Der Detektiv nickte.

»Durchsuchen Sie aber lieber einmal das ganze Haus. Ich glaube zwar nicht, daß wir etwas finden, aber man kann es ja versuchen.«

Er ging zum Bett und sah auf das blasse, tränenüberströmte Gesichtchen in den Kissen.

»Na, fühlen wir uns jetzt ein bißchen besser?«

Das Mädchen nickte.

»Na schön, dann wollen wir uns mal da hinübersetzen«, er zeigte auf den Diwan, »und dann werden Sie mir erzählen, was Sie wissen.«

Während sich Inspektor Luff und das Mädchen auf dem Diwan niederließen, legten Doktor Radcliffe und der Ambulanzarzt Beverley Bancrofts Körper auf das Bett.

Luff sah das Mädchen ernst an.

»Wo waren Sie, als Ihre Herrin überfallen wurde?« forschte er.

Ballinger, der mit dem Rücken an die Türfüllung lehnte, beobachtete diese Szene trotz des Ernstes der Situation mit einer Art innerer Belustigung. Inspektor Luff hatte sich doch nicht geändert. Er war etwas älter geworden, sein Haar war etwas gelichteter, aber seine Untersuchungsmethoden hatten sich auch nicht im geringsten geändert. Ob Betrügerei, Scheckfälschung oder ein Mord, vor Inspektor Luff bestand kein Unterschied. Immer noch fragte er in der blinden Hoffnung, schließlich doch eine gewünschte und wertvolle Antwort zu bekommen.

Das Mädchen hob langsam den Blick, in dem immer noch der erstarrte Schrecken saß, und antwortete leise und stoßhaft um Atem ringend.

»Ich war in der Küche und hab' Gläser ausgewaschen. Madame war gerade hinauf in ihr Zimmer gegangen, als ich sie schreien hörte« – sie schloß die Augen und schauderte – »oh, so schrecklich! Da lief ich hinauf und – und sah sie da liegen.« Sie zeigte zitternd auf die blutbefleckte Stelle im Teppich, wo Beverley Bancroft gelegen hatte.

»War sonst noch jemand im Zimmer, als Sie hereinkamen?«

»Nein, sie war allein. Aber«, das Mädchen zögerte einen Augenblick, »die Fenster ... die waren beide ganz weit aufgerissen, wie jetzt.«

Der Inspektor sah auf die beiden hohen Fenster neben dem Kopfende des Bettes. Er nickte.

»Sagte sie etwas, als Sie hereintraten?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Sie hat mich nicht gesehen. Sie lag ganz still auf [auf dem Boden], und ich hatte solche Furcht, daß ich, so schnell ich konnte, herauslief zu der Peters.«

»Sie haben geschrien, als Sie die Treppen hinaufliefen?« forschte der Inspektor weiter. »Oder war es Frau Bancrofts Schrei, den die Haushälterin gehört hat?«

»Ich – ich glaube, ich hab' auch geschrien«, meinte die Kleine unsicher.

Inspektor Luff strich sich das Kinn.

»Wer waren Frau Bancrofts Gäste?«

Sie nannte Porcell, Redstone, Doris Nielan und Armando. »Und dann war da noch eine andere Dame und ein Herr, die ich nicht kenne«, setzte sie hinzu.

»Sind das alle?«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Ja, und diese beiden Herren«, sie zeigte auf Ballinger und Sanders, »und Herr Berenson, der Maler. Aber die sind früh gegangen. Vielleicht eine Stunde vor den anderen.«

»Und wann gingen die?«

Das Mädchen überlegte.

»Es war so um zwei Uhr herum, vielleicht auch etwas später.«

Der Inspektor wiegte den Kopf.

»Frau Bancroft wurde um 2,45 erstochen. Sind Sie sicher, daß alle Gäste um diese Zeit fort waren?«

Sie nickte eifrig.

»Oh ja.«

»Sie haben Sie also alle gehen sehen?«

»Nein.« Sie hielt inne. »Ich bin nicht mit ihnen zur Tür gegangen. Ich hatte ja soviel in der Küche zu tun.«

»Wie wollen Sie denn wissen, daß alle gegangen waren?«

»Weil ich, gerade bevor Madame nach oben ging, in den Salon kam, und da war sie ganz allein.«

Luff dachte einen Moment nach.

»Was haben Sie denn so viel in der Küche zu tun gehabt?«

Sie sah etwas verlegen zu Boden.

»Ich mußte ... ich mußte so viel zu trinken zurechtmachen. Der Herr am Flügel hatte einen so großen Durst.«

Sanders trat vor.

»Ich kann Ihnen die Namen der zwei Gäste sagen, die das Mädchen nicht kennt, Inspektor Luff. Es waren die Schauspielerin Ruth Raynor und Carl von Oefele, der berühmte Pianist.«

Luff dankte kurz und wandte sich dann an Farland, der mit einem Vergrößerungsglas den Fußboden betrachtete.

»Na, Fingerabdrücke gefunden, Joe?«

Farland schüttelte mißmutig den Kopf.

»Nein, Chef, nichts. Am Fensterrahmen habe ich nichts gefunden, und derjenige, der das Messer gebraucht hat, trug offensichtlich Handschuhe. Der Griff ist sauber wie eine Seehundschnauze. Na, und die Türklinke ist vollkommen verschmiert, da kann man überhaupt nichts heraussehen.«

»Wo ist Clavin?« wollte Luff wissen.

»Der sucht im Hause herum. Hat den Polizeisergeanten mitgenommen.«

Luff winkte der Haushälterin und dem Mädchen.

»Sie beide können jetzt verschwinden, ich glaube, das ist alles für heut nacht. Aber das Haus verlassen Sie auf keinen Fall, verstanden?«

Die beiden Frauen gingen hinaus, und Luff blinzelte zu Ballinger herüber.

»Na, alter Freund, haben Sie den Mörder schon entdeckt?«

Ballinger zuckte die Achseln.

»Vielleicht könnte ich, wenn ich mir genug Mühe gebe.«

Luff griente.

»Meine Erlaubnis haben Sie«, antwortete er. »Farland soll Ihnen sogar sein bestes Vergrößerungsglas dazu leihen.«

Er ging zum Bett hinüber und beobachtete eine Zeitlang die Tätigkeit des Arztes.

Doktor Radcliffe richtete sich auf und rieb die Hände mit einem Taschentuch.

»Eine verdammt akkurate Arbeit.« Er zeigte auf den langen, klaffenden Spalt in Beverleys Hals. »Der Schnitt hätte nicht abgezirkelter sein können, wenn der Bursche einen Zollstock genommen hätte. Das Messer ist direkt hinter der Jugularvene eingedrungen, hat sie zerschnitten und dann noch die Trachea durchbohrt.«

»Sofort tot gewesen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie ist vielleicht fünf oder zehn Minuten später gestorben.«

Inspektor Luff brummte: »Hm! Die Haushälterin hat aber gesagt, sie wäre vollkommen bewußtlos gewesen. Kommt mir komisch vor.«

»Aber nein«, meinte Radcliffe. »Ganz und gar nicht. Sie ist vermutlich sofort ohnmächtig geworden und nicht wieder erwacht. Das ist fast immer so in solchen Fällen. Wie ich schon sagte, die Trachea ist durchbohrt, aber der Tod ist nicht durch Ersticken, sondern durch innere Verblutung eingetreten.«

»Wir wollen uns mal das Messer ansehen.«

Doktor Radcliffe reichte es ihm. Luff untersuchte es mit etwas verständnislosem Gesichtsausdruck. »Ein komisches Ding.«

In seiner Praxis hatte er die absonderlichsten Mordinstrumente gesehen. Aber etwas Derartiges noch niemals. Es war eine Lanzenspitze aus dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts und mit einem langen, flachen Handgriff versehen. Das glitzernde Blatt aus dünnem Damaszener Stahl war vielleicht zwanzig Zentimeter lang und verjüngte sich von einer Breite von fast acht Zentimetern zu einer scharfen Spitze. Es trug eine feine, fast unsichtbare Gravur. Auch der Handgriff aus schwerem Silber war eingelegt.

Sanders warf einen kurzen Blick darauf, schauderte und verließ das Zimmer. Aber Ballinger, dem man einmal den Vorwurf gemacht hatte, mehr Antiquar als Mensch zu sein, beugte sich mit angeregtem Interesse über die Waffe. »Unser Mörder hat offensichtlich einen guten Geschmack gehabt.«

Der Arzt sah ihn groß an und zog die Augenbrauen hoch. Ballinger lächelte leicht:

»Das war nur ein Kommentar zu dem Messer, Doktor.«

»Das ist Herr Ballinger«, erinnerte sich jetzt der Inspektor. »Wir haben früher öfters zusammen gearbeitet. Sie müssen nicht alles Ernst nehmen, was er sagt. Er quatscht hin und wieder reichlich krauses Zeug.«

Der Arzt zwang sich ein Lächeln ab.

»Meiner Meinung nach ist ein Messer so gut wie das andere«, meinte er. »Sie schneiden alle, wenn sie scharf genug sind.«

Dann begann er seine Instrumente einzupacken. Luff schlenderte im Zimmer umher. Er blieb neben Farland stehen, der emsig den Inhalt der Kommoden untersuchte. Dann ging er zu Ballinger zurück, der an eines der Fenster neben dem Bett getreten war.

Schlaff hingen die blauen Vorhänge in der stummen Luft; die weitaufgerissenen Fenster umrahmten schweigende Rechtecke von samtenem, drückendem Dunkel. Luff leuchtete mit seiner Taschenlampe hinaus. Kein Vorsprung, kein Balkon war zu sehen, nur die nackte Mauer. Fünfzehn Meter tiefer zeigte der zitternde Lichtkreis den gepflasterten Hof mit seiner hohen Mauer. Vielleicht zwanzig Meter lagen zwischen dem Haus und dem angrenzenden Gebäude, dessen vorhanglose Fenster von dickem Staub grau verklebt waren.

»Ohne Leiter konnte der Mörder hier auf keinen Fall hereinkommen«, äußerte sich Luff nach einer Weile.

Farland unterbrach seine Untersuchung der Kommoden.

»Ein Zeichen von einer Leiter war nicht zu entdecken«, erklärte er. »Ich hab' das Fensterbrett genau untersucht und die Mauer daneben und darunter. Und ohne 'ne Spur zu hinterlassen, konnte niemand hereinkommen. Clavin war außerdem schon draußen. Er sagt, der Hof sei verdammt dreckig, aber von Fußspuren nichts zu sehen.«

»Was ist mit dem Dach?«

»Das liegt zwei Stockwerke höher, und ohne Seil konnte da keiner herunterkommen. Clavin war oben, aber er hat nichts gefunden.«

Der Arzt hatte fertig gepackt und schloß seinen Koffer. Ballinger nahm noch einmal die Mordwaffe in die Hand.

»Der Mörder muß ein ziemlich sicheres Auge gehabt haben, wie?«

Radcliffe sah auf.

»Warum?«

»Oh«, Ballinger ließ das Messer auf das Bett fallen und ging mit dem Arzt zur Tür. »Sie haben doch selbst über die Wunde gesagt, daß sie nicht genauer sitzen könnte, wenn der Mörder den Fleck mit einem Zollstock abgemessen hätte.«

Im Erdgeschoß fanden sie Sanders vor dem unvollendeten Porträt Beverleys.

»Vor ein paar Stunden noch«, sagte Sanders gepreßt, »war das hier nur ihr Bild, aber jetzt – jetzt ist es lebendiger, wirklicher als der Körper, der da oben liegt.«

Ballinger ging schweigend fort. Eine Zeitlang beobachtete er Clavin und den Sergeanten bei ihrer Stöberarbeit in Schubfächern und Schränken. Was hofften sie da zu finden? Einen Brief, der ihnen das Wie und Warum des Mordes schilderte? Ein Diagramm, das den Täter und seinen Aufenthalt bezeichnete? Er schüttelte den Kopf. Je mehr er von den Methoden der Polizei sah, desto unverständlicher erschienen sie ihm.

Er stand vor dem Kamin und spielte mit einer der kleinen Tabatieren, als Luff die Treppe herunterkam. Ballinger sah, wie er mit der Mordwaffe in der Hand zu Sanders trat.

»Ich glaube, wir brauchen Sie hier nicht mehr länger aufzuhalten, Sanders«, sagte Luff. »Den Fall werden wir vermutlich bald aufgeklärt haben. Der römische Dolch hier wird uns sicher auf die richtige Fährte bringen.« Er sah nachdenklich auf das kleine, matt glitzernde Ding aus Stahl. »Gerade das ist es, was wir brauchen. Bestimmt ist dieser Dolch eine äußerst kostspielige Angelegenheit, und wer ihn besessen haben mag, hat ihn auch bestimmt einmal diesem oder jenem Freund gezeigt. Wir brauchen jetzt nur noch herauszubekommen, wem er gehört.«

»Sicherlich«, sagte Sanders geistesabwesend, als er aus dem Zimmer ging.

Er war kaum fort, als Ballinger zu dem Kriminalisten trat.

»Es tut mir leid, aber ich muß Ihnen eine Illusion nehmen, Inspektor. Erstens ist das Ding da in Ihrer Hand kein römischer Dolch, sondern ein französisches Speerblatt aus dem 17. Jahrhundert, und zweitens nehme ich mit ziemlicher Sicherheit an, daß es Frau Bancroft selbst gehört hat. Vermutlich hat sie es als Brieföffner benutzt.«

»Wieso?«

»Ich kann mir ganz und gar nicht vorstellen, daß der Mörder so frevelhaft dumm gewesen sein soll, sein eigenes Messer zu benutzen; besonders wenn es solch seltenes Stück ist. Aber wenn Sie irgendeinen Zweifel haben, können wir ja die Haushälterin befragen.«

Als Frau Peters hereintrat, hielt er ihr die Speerspitze entgegen.

»Kennen Sie das?«

Sie nickte.

»Ja, das Ding hat immer auf dem Schreibtisch der gnädigen Frau gelegen.« Sie zeigte in eine entfernte Ecke des Raumes.

»Wann haben Sie es zum letzten Male gesehen, Frau Peters?«

Die Frau überlegte.

»Ich glaube vorgestern.«

»Dienstag?«

Sie nickte.

»Haben Sie gestern auf dem Schreibtisch Staub gewischt?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Und war das Messer noch da?«

»Nein.« Sie schüttelte bestimmt den Kopf. »Ich weiß es ganz genau, es lag nicht da. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht, denn die gnädige Frau hat öfters solche Sachen verlegt.«

Ballinger nickte freundlich.

»Danke schön, das ist alles.«

Der Inspektor sah ihr grämlich nach, als sie aus dem Zimmer ging.

»Das kompliziert die Sache.«

Ballinger zündete sich eine Zigarette an.

»Macht sie aber auch interessanter, Inspektor.«

Luff sah ihn mißmutig an: »Na, dann können Sie ja den Fall aufklären.«

Ballinger lachte. »Ich hätte nichts dagegen«, antwortete er leichthin. Dann wurde er ernst und warf die Zigarette in den Aschenbecher.

Er stand auf.

»Ich will Ihnen was sagen, Inspektor! Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Sie den Mörder bis zum Sonnabendabend nicht gefunden haben, werde ich Ihnen den Täter nennen. Wetten wir. Ich setze tausend Dollar gegen hundert. Na?«

Der Inspektor starrte ihn an.

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Selbstverständlich. Warum nicht?«

Luff sah ihm fassungslos ins Gesicht. Schließlich begann er breit zu grinsen:

»Schön, wenn Sie ein solcher Idiot sind, mir so nebenbei tausend Dollar zu schenken, ich habe nichts dagegen.«

Ballinger setzte sich wieder.

»Also, da ich jetzt ein finanzielles Interesse an dem Problem habe, kann ich auch eine Äußerung wagen?«

»Los!«

»Die Haushälterin«, sagte Ballinger bedachtsam, »hat uns erzählt, daß ihr erster Gedanke war, Sanders, den Bruder der Ermordeten, anzurufen. Kommt Ihnen das nicht auch etwas seltsam vor? Sanders kam nicht oft hierher, und außerdem bezweifle ich stark, daß sie seine Telefonnummer aus dem Gedächtnis wußte. Bestimmt aber wußte sie die von Porcell, der Beverleys Gatte war. Bis vor kurzer Zeit hat er ja noch hier gewohnt, und außerdem ging er hier dauernd aus und ein. Das natürlichste für sie wäre dann doch also gewesen, ihn zuerst anzurufen. Warum hat sie das nicht getan?«

Luff rief nach Farland.

»Wo ist die Haushälterin? Hat sie sich schon schlafen gelegt?«

Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist draußen in der Küche.«

»Herein mit ihr.«

Als die Haushälterin ins Zimmer trat, bot ihr Luff einen Stuhl an.

»So, nun erklären Sie mal«, fragte er, »wie es kam, daß Sie heute nacht zuerst Herrn Sanders anriefen?«

Sie sah ihn erschreckt an.

»Wieso? ... Ich – ich dachte zufällig zuerst an ihn. Ich weiß nicht warum.«

»Kommt mir sehr komisch vor«, sagte Luff scharf. »Er kam doch nicht oft hierher, wie?«

Sie nickte heftig.

»Doch. Er kam sehr oft zu der gnädigen Frau.«

»Wie oft?«

»Oh ... vielleicht einmal in der Woche.«

»Wissen Sie seine Telefonnummer aus dem Gedächtnis?«

»Nein. Aus dem Gedächtnis nicht, aber die Nummer ist in dem kleinen Verzeichnis da neben dem Telefon.«

»Und Sie sind sicher, daß Sie ihn zuerst angerufen haben?«

Wieder nickte sie heftig.

»Jawohl, ganz sicher.«

Ballinger stand auf und trat neben den Inspektor.

»Übrigens, Frau Peters, soweit ich mich erinnere, gaben Sie als Zeit des Mordes drei Viertel drei an. Ist das richtig?«

Sie nickte bestätigend.

»Sobald Sie Ihre Herrin sahen, entdeckten Sie sofort, daß sie in einem gefährlichen Zustand war?«

Wieder ein schweigendes Nicken.

»Und Sie konnten nicht viel tun, um ihr zu helfen?«

»Gar nichts konnte ich tun«, erwiderte die Frau leise. »Ich versuchte, das Blut zu stillen, aber ich sah gleich, daß ich es nicht konnte.«

»Dann sind Sie sofort die Treppe hinuntergelaufen und haben Herrn Sanders angerufen?«

»Das hab' ich ja schon gesagt.«

Ballinger sah auf die kupferne Uhr auf dem Kaminrand und dann auf seine eigene Armbanduhr.

»Stimmt Ihr Wecker mit der Uhr dort überein?«

Sie nickte.

»Ja, ich stelle ihn immer danach.«

»Aber«, Ballinger lächelte harmlos, »es war schon nach drei Uhr, als Sie Herrn Sanders anriefen. Das sind mehr als fünfzehn Minuten. Haben Sie solange gebraucht, um die Treppe herunterzulaufen?«

Die Haushälterin sah zu Boden und biß sich auf die Lippen.

»Ich ...«, stammelte sie.

»Also die Tatsache ist die«, schnitt Ballinger ihr leise und bestimmt das Wort ab, »daß Sie zunächst einmal versuchten, Herrn Porcell anzurufen. Warum wollen Sie denn das verbergen?«

Er wartete geduldig, aber sie antwortete nicht.

»Soll ich beim Amt nachfragen?« meinte er schließlich. »Um diese Zeit werden nicht viele Gespräche geführt, und das Fräulein wird sich bestimmt erinnern.«

Die Frau hob den Kopf.

»Ich – ich habe ihn zuerst angerufen«, gab sie dann zu. »Aber es hat sich niemand gemeldet.«

Luff beugte sich vor.

»Warum wollten Sie denn das vor uns verbergen?«

»Das wollte ich nicht«, verteidigte sie sich. »Bestimmt nicht!« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich dachte nur, es wäre nicht so wichtig. Und dann hätten Sie nur gedacht, daß er vielleicht – vielleicht etwas – damit zu tun hat. Und ich weiß bestimmt, das hat er nicht. Nein, das ist unmöglich. Er hat sie ja so sehr geliebt.«

»Das zu entscheiden überlassen Sie nur uns«, knurrte Luff. »Nehmen Sie sich in acht, daß Sie jetzt alles erzählen, was Sie wissen, oder Sie bringen sich selbst in eine böse Klemme.«

Als die Haushälterin hinausging, wandte er sich verstimmt an Ballinger:

»Nur das eine ist klar: wer die Frau getötet hat, war heute abend in ihrer Gesellschaft. Durch die Fenster ist er auf keinen Fall gekommen; er hätte dann Spuren hinterlassen müssen. Die Frage ist nur, ob der Täter – oder die Täterin – noch geblieben ist, als die anderen gingen, oder ob er später zurückgekommen ist.«

Er winkte Farland heran.

»Wie ist das mit der Vordertür, Joe?«

Der Mann sah ihn fragend an.

»Ich meine, ist ein Riegel dran? Und wenn, ist er so angebracht, daß man ihn von außen öffnen kann?«

Der Detektiv schüttelte den Kopf.

»Nein, Chef, ein Riegel war nicht vor. Aber die Tür klemmt ein bißchen. Man muß sie schon ziemlich zuknallen, damit das Schloß faßt.«

Luff schien nachdenklich.

»Also kann jemand so tun, als ob er hinausgeht, kann den Anschein erwecken, daß er die Tür zuschlägt, und nachher leise wieder hereinkommen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, nickte Farland. »Und außerdem ist da noch ein ausgezeichnetes Versteck.«

Er ging in das Vestibül und zeigte auf eine Tür unter der Treppe.

»Das hier. Aber ich habe nicht feststellen können, ob sich jemand drin versteckt hat. Weder Fingerabdrücke zu sehen, noch irgendwas in Unordnung gebracht.« Luff öffnete die Tür und sah in den Raum, der anscheinend zur Aufbewahrung alter Kleider gebraucht wurde.

»Ja, nichts zu sehen.« Er wandte sich an Farland. »Sie haben doch die Namen von all den Leuten, die heute abend hier waren. Lassen Sie ein paar Uniformierte zur Wache hier, und ihr übrigen fahrt los und sammelt die Gesellschaft ein. Bring' sie zum Büro.«

Er sah unruhig um sich.

»Wo ist denn der Ballinger?«

Farland grinste.

»Der fingert an den komischen Dingern auf dem Kamin herum. Anscheinend denkt er, eine von den buckligen Vasen da wispert ihm den Namen des Mörders ins Ohr.«

* * *


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