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Menschenleben im Kuvert


Man hörte noch von draußen Doris Nielans trippelnde Schritte, als Ballinger aufstand und nach seinem Hut griff.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Luff erstaunt.

»Zur nächsten Zeitungsredaktion«, sagte Ballinger vieldeutig, »und danach vielleicht zur Western Union, Zeitungskorrespondenz.«

Luff war entsetzt. »Mann, wo denken Sie hin! Alles, was Sie hier hörten, ist vertraulich, streng vertraulich.«

Ballinger verzog das Gesicht zu einem breiten Lachen. »Keine Angst, ich gebe keine Informationen. Im Gegenteil, ich will mir welche holen ... Wissen Sie, jedesmal wenn ich ein Bild oder ein altes Stück Möbel zu identifizieren habe, mache ich mich zunächst einmal mit allen Persönlichkeiten vertraut, die als Erzeuger in Frage kommen. Danach ist dann die Arbeit sehr leicht. Und hier ... Jeder Tötungsakt hat, wenn er nur etwas aus der freiwilligen Absicht heraus entstanden ist, einen entschiedenen, eigenen Charakter. Ebensowenig wie es zwei gleiche Fingerabdrücke in Ihrer daktyloskopischen Abteilung gibt, ebensowenig gibt es zwei Menschen, die in der gleichen Weise morden. Meine Absicht ist jetzt, über jede der Persönlichkeiten, die am Mordabend versammelt waren, soviel wie möglich herauszubringen. Mehr oder weniger gehören sie alle zur prominenten Schicht der Stadt, also kann mir bei meiner Unternehmung schon das nächstbeste Archiv von Nutzen sein. Auf jeden Fall muß man den Versuch machen.«

Luff drehte ihm skeptisch den Rücken zu: »Einen Dreck werden Sie erfahren.«

Im Redaktionsraum der »Sun« schienen tausend Teufel losgelassen zu sein. Die erste Ausgabe wurde zu Papier gebracht, Schreibmaschinen knatterten wie die Maschinengewehre, Telefone schrillten, Boys stolperten zwischen Papierkörben und Redakteurbeinen umher.

Die Ermordung der Diva Beverley Bancroft war hier eine Angelegenheit der knallenden Schlagzeile, der kühnen Aufmachung, des sensationellen Umbruchs. Als Ballinger verwirrt und betäubt in einem Gang stehenblieb, stürzte ein Boy mit einem hoch feuchten Bürstenabzug an ihm vorüber. Ballinger las mit einem haschenden Blick in fetten, schreienden Lettern: »Beverley Bancroft ermordet.«

Darunter gesetzt war ein Brustbild der Schauspielerin.

Der weißhaarige Mann, der hinter einem riesigen Schreibtisch unter dem Transparent »Anmeldung« und »Auskunft« hockte, rief einen Boy heran.

»Führ' den Herrn zur Morgue!«

Morgue bedeutete in der Journalistensprache soviel wie Archiv. Im Redaktionsgebäude der »Sun« nahm die Morgue einen ganzen Saal mit zwei Galerien ein. Ein Heer von Angestellten arbeitete Tag für Tag mit Schere und Kleisterpinsel, schnitt Zeitungsmeldungen, Artikel aus, ordnete Namen und Ereignisse.

Sind Sie jemals verhaftet worden? In einem Verkehrsunfall verletzt? Haben Sie eine Schönheitskonkurrenz gewonnen? Eine sensationelle Scheidung hinter sich? Also kurz, hat Ihr Name jemals in der Zeitung gestanden? Wenn ja, werden Sie sich hier in der Morgue wiederfinden, sauber und alphabetisch registriert und in einem großen braunen Umschlag aufbewahrt. Niemand entkommt. Reich und arm, prominent und ordinär – alles liegt hier nebeneinander. Ist der Umschlag angeschwollen von Ausschnitten, ist er abgegriffen, zerfetzt vom häufigen Gebrauch, dann bedeutet das, daß Sie eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt sind. Ist er flach, sauber, nur von einem oder zwei Ausschnitten gefüllt, dann sind Sie nur einer von Millionen.

Ein Mann stirbt. Ein paar Worte flattern durch den Telegrafendraht. Und eine halbe Stunde später erscheint die Zeitung auf der Straße mit einem zweispaltigen Bericht. Die Einzelheiten seiner Krankheit, Ergebnisse eines Ausschnittes der vorigen Woche; die Geschichte seiner Karriere, Resultat verschiedener älterer Ausschnitte. Die Morgue hat ihren Zweck erfüllt. Das braune Kuvert wird an seinen Platz zurückgelegt. Etwas später am Tag nehmen es gleichgültige Hände noch einmal heraus; ein neuer Ausschnitt kommt hinzu.

Ballinger erklärte dem Archivleiter kurz sein Anliegen. Er wäre der Assistent des Inspektors Luff, der den Fall Bancroft bearbeitete. Er hätte gerne mal Einblick in alles genommen, was im Archiv über die Tote und ihre Gäste aus der Mordnacht vorhanden sei.

Der Archivar schob ihm mit kurzem Aufblicken einen Notizblock zu: »Schreiben Sie die Namen auf.«

Ein Boy verschwand mit dem Zettel im Labyrinth der Korridore aus Kartothekkästen. Nach wenigen Minuten erschien er wieder mit einem Arm voll brauner Umschläge.

»Der Schreibtisch dort drüben ist unbesetzt«, erklärte er, »wenn Sie dort Platz nehmen wollen.«

Das Kuvert, das Beverley Bancrofts Namen trug, war am dicksten von allen. Ballinger häufte die Zeitungsausschnitte vor sich auf, nahm ein Notizbuch zur Hand und ging an die Arbeit. Eine lange Geschichte erzählten diese Ausschnitte, die jeder einen roten Datumsstempel trugen. Von ihrem langsamen Anstieg zur Prominenz sprachen sie; von ersten schüchternen Anfängen mit ihrem Namen im letzten Absatz einer Kritik; von ihren schließlichen Erfolgen mit ihrem Namen in der protzenden Titelzeile.

Wie Ballinger feststellte, hatte sie den Namen Bancroft erst vor acht Jahren als Bühnennamen angenommen. Bis dahin war sie Beverley Sanders, ein durch nichts hervorragendes Mitglied des Chors.

Fast alle Ausschnitte erzählten von einer Beverley Bancroft, nur wenige von einer Beverley Sanders. Einer berichtete kurz von einem leichten Autounfall, ein anderer – aus der Spalte der Theaternotizen – von ihrer Verlobung mit einem gewissen Doktor Arnold. Augenscheinlich war die Verbindung mit ihm in diesem Stadium stecken geblieben, denn es erschien keine weitere Erwähnung davon. Zum Schluß fand Ballinger noch ein paar kurze Meldungen über die vergebliche Suche nach dem Mörder von Beverleys Kollegin, des schönen Chorgirls Olive Lanson.

Ballingers Gedanken schweiften ab. Kurios, dachte er, jetzt schien das Kopfblatt der Zeitung nicht groß genug zu sein, einer wartenden Stadt die Einzelheiten von Beverley Bancrofts Ermordung zu berichten, und vor einigen Jahren noch hätte es nicht mehr Aufmerksamkeit erregt als das Schicksal der kleinen Olive Lanson. Hätte jener Mörder, Vance Albertson, der kurz in den Ausschnitten erwähnt war, damals ergriffen werden können, dann hätte es ein oder zwei kurze Sätze in der Zeitung gegeben. Kreischende Schlagzeilen aber würden die Aufklärung des Mordes von Beverley Bancroft begleiten.

Das Material über Porcell und Redstone war ihm bereits bekannt, und über von Oefele und Berenson war nichts vorhanden als ein paar kurze Notizen aus dem Feuilleton. Dagegen fand er im Umschlag mit dem Namen Armando etwas, was ihm des Aufschreibens wert erschien. Vor ein paar Jahren war der Spanier verhaftet worden, weil er im Streit um ein Mädchen einen anderen Mann über den Haufen gestochen hatte. Da das Opfer aber genesen war und den Strafantrag zurückgezogen hatte, war es zu keiner Verhandlung gekommen.

Nach einer Stunde war Ballinger mit der Durcharbeitung des Archivmaterials fertig. Er ging unverzüglich zum Gebäude der amerikanischen Telefon- und Telegrafengesellschaft und setzte ein langes Telegramm auf. Die Unterschrift mußte er sich etwas überlegen, dann unterschrieb er schließlich »Capitain John Ballinger, per Adresse Inspektor Thomas Luff, Polizeipräsidium«. Er wandte sich zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel. Auf ein leeres Telegrammformular schrieb er folgendes an Armando:

»Wir bitten um Ihre Einwilligung, durch Inserate ankündigen zu dürfen, daß Sie einzig und allein Wagnell's Edelkolophon für Ihren Bogen benutzen.«

Er unterzeichnete »Wagnell & Co., Musiker-Bedarfsartikel.«

Dann rief er einen Boy heran. »Bringen Sie das an die angegebene Adresse, aber geben Sie es nur Herrn Armando persönlich.« Er zerriß eine Fünfdollarnote, gab dem Boten die eine Hälfte und behielt die andere. »Hier ist meine Karte. Bringen Sie mir die Antwort auf den Brief, und Sie bekommen den Rest des Geldes.«

* * *


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