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Einen Vorteil brachte mir die vizekönigliche Erfindung einer Dreschmaschine jedenfalls. Sie wurde die Ursache, daß mein Baumwollpflug Aussicht hatte, in seiner verbesserten Gestalt noch im laufenden Frühjahr die Reparaturwerkstätten zu Bulak zu verlassen. Als ich nämlich am Tage nach den Audienzen den arabischen Unterdirektor der staatlichen Maschinenfabrik besuchte, um die Arbeiten für die Norak einzuleiten, fand ich ihn bereits mit dem amtlichen Schreiben aus der Geheimkanzlei Seiner Hoheit in der Hand, das, wörtlich genommen, mir sämtliche Werkstätten des Landes zur Verfügung stellte. Nun war ich Achmed Ali Bey, dem besagten Direktor, längst ein Dorn im Fleisch, da ich schon öfter seinen Seelenfrieden mit hastigen Besuchen und schriftlichen Weisungen von hoher und höchster Stelle gestört hatte. Das plötzliche Auftauchen des Baumwollpflugs war ihm ein besonderes Ärgernis gewesen. Er hatte deshalb auch sein Möglichstes getan, die erforderlichen Arbeiten unter allen erdenklichen Vorwänden auf die Seite zu schieben. Nun gar eine vollständige Dreschmaschine nach verrückt neuen Grundzügen und ein Befehl von Effendina selbst, sie augenblicklich fertigzustellen! Wer sollte denn die zwanzig Lokomotiven reparieren, die ihm Jeffrey-Bey, der Oberdirektor, erst gestern fluchend auf die Seele gebunden hatte. Er erhob beide Arme gen Himmel und beklagte sich bei seinem Schöpfer bitterlich, daß er geboren worden.
Ich tröstete ihn, so gut ich konnte und versprach, ihm mit allen mir selbst zu Gebote stehenden Mitteln beizustehen. »Ich sehe ja wohl ein« sagte ich, »daß es die Leistungsfähigkeit und namentlich die geistigen Kräfte von Bulak übersteigt, zwei so wichtige Arbeiten, wir diese Norak und den Baumwollpflug gleichzeitig fertigzustellen. Ich schlage deshalb vor, und übernehme hierfür die volle Verantwortlichkeit, mit der Norak nicht zu beginnen, bis der Baumwollpflug die Werkstätte verlassen hat. Damit dies, der Norak wegen, in möglichster Bälde geschehe, würde ich mir täglich die Ehre schenken, Seiner Hochwohlgeborenen« – man versteigt sich im Vulgärarabischen bis zu den Höflichkeiten des deutschen Briefstils – »einen Besuch abzustatten. Auch habe ich meinen vorzüglichsten Monteur, Herrn Fritschy, mitgebracht, der sofort beginnen könnte, seinen Leuten an die Hand zu gehen.« – Dies alles gefiel ihm nur halb; eine solche Überstürzung der Dinge war unerhört. Doch wirkte das vizekönigliche Schreiben, das ich ihm lächelnd unter die Augen hielt, so kräftig, daß vier arabische Werkführer herbeigerufen und mit zornigen Worten angewiesen wurden, Herrn Fritschys Befehlen mit der denkbar größten Bereitwilligkeit zu gehorchen.
Die weitere Folge dieser Verhältnisse war, daß ich in der nächsten Zeit jeden Morgen nach Bulak ritt, um mit Achmed Ali Bey die Fortschritte des Baumwollpflugs zu bewundern. Da der Weg an Shepheards Hotel vorbeiführte, so bekam ich mehr von meinen dortigen Freunden zu sehen als je zuvor. Die elektrische Spannung, welche die Besprechungen mit Ismael Pascha in dem kleinen Kreise hinterlassen hatten, wollte nicht weichen. Sie schien eher zu wachsen. Und dies war nicht unnatürlich. Denn eine Entscheidung in der Hauptfrage hatte jener Tag in keiner Weise gebracht, so sehr sich auch jeder der zwei Brüder in die Überzeugung hineinarbeitete, daß seine Sache einen großen Triumph errungen habe. Bei dem vizeköniglichen Frühstück, mußte sich Joe selbst sagen, war nicht mehr viel herausgekommen. Ismael Pascha sprach mit Oppenheim über die Geldverhältnisse der Zuckerindustrie und stellte uns seinen Haus- und Hofgelehrten, Herrn Mansur el Baggara vor, der nur arabisch verstand. Allein die Einladung an sich durfte als Beweis angesehen werden, daß Seine Hoheit die wahre Bedeutung der großen Pyramide erfaßt hatte, und wo war dann Ben mit seinen verruchten Plänen? – Dieser glaubte, für seine Aussichten einen viel festeren Boden gefunden zu haben als ein nichtssagendes Frühstück. Er arbeitete angestrengt und vertiefte sich in Berechnungen der Millionen, die die Ausführung seines großen Gedankens kosten und einbringen mußte. Smart, der Alexandriner Bankier, besuchte ihn zweimal, um sich Notizen zu holen, welche mit der in nächster Zeit aufzunehmenden Anleihe in Zusammenhang gebracht werden konnte. Mit jedem Tag gewann die Sache weitere greifbare Anhaltspunkte und wuchs an Größe und Bedeutung. Es war fast zu viel für Bens Nerven. Er sah verstört aus, wenn er sich nicht beobachtet glaubte. Die nahende Sommerhitze mochte damit zu tun haben, aber die größere Hälfte der Schuld fiel doch auf die Spannung, mit der er der weiteren Entwicklung seiner Aussichten entgegensah. Selbst mir schien es, als ob dieselben eine ernste Wendung genommen hätten.
Ein sicheres Zeichen hierfür war – meinte O'Donald –, daß Ben den Besuch seines Feindes, des englischen Konsuls erhielt. Mr. Coalville wußte gewöhnlich, woher der Wind kam. Daß er sich überwand, einen Landsmann aufzusuchen, der ihm in so ungebührlicher Weise die Meinung gesagt hatte, bewies, daß dieser Landsmann im Begriff war, eine Rolle zu spielen, welche man nicht mehr ignorieren durfte. An Joe ging er vorüber, ohne ihn zu sehen. Armer Joe, dachte Ben, der dies wohl bemerkt hatte.
Aber auch Joe erhielt seine Besuche. Zweimal erschien der gelehrte Mansur El Baggara in seinem Zimmer, überschüttete ihn mit einem Strom von arabischen Höflichkeiten, lächelte ihn an, stotterte sogar ein paar französische Worte und blieb dann schweigend sitzen wie eine Wachsfigur. – Der herbeigerufene Dragoman holte nicht viel mehr aus ihm heraus. Doch schien El Baggara etwas auf dem Herzen zu haben. In den langen Pausen des unmöglichen Verkehrs suchten seien triefenden Augen vergeblich Erleuchtung an der Zimmerdecke. Das drittemal blieb er eine volle Stunde sitzen, ohne dem Zweck seiner Besuche näher zu kommen, die der Doktor nachgerade mit großer Geduld hinzunehmen gelernt hatte. Als er mir davon erzählte, glaubte ich ihm einen Wink geben zu müssen:
»Sie erinnern sich, was uns der Zahnkünstler von dem sonderbaren Herrn erzählte? Wollen Sie, daß die Träume des Vizekönigs eine Ihnen günstige Deutung zulassen, so drücken Sie dem Mann das nächstemal, wenn er sich verabschiedet, zehn Pfund in die Hand oder schicken ihm heute in einem Blumenkörbchen fünfundzwanzig. Im Interesse Ihrer großen Sache hätten Sie dies schon längst tun sollen. Beobachten Sie dann seine Mienen. Lächelt er, so ist es gut. Lächelt er nicht, so haben Sie die Summe zu verdoppeln. Zeigt er tugendhafte Entrüstung, so fürchte ich, müssen Sie mit zehnmal so viel kommen.«
»Sie vergessen, Herr Eyth,« versetzte Joe sehr ernst, »daß es sich nicht bloß um eine große, sondern um eine heilige Sache handelt; nicht um materielle Bestrebungen, wie die meines armen Bruders. Einmal bin ich, leider Gottes, vom geraden Weg abgewichen. Was war die Folge? Ich hinke heute noch und werde mir's nie verzeihen. Nein, Herr Eyth, einmal und nicht wieder!«
»Ich hielt es für meine Pflicht, Sie auf die krummen Wege aufmerksam zu machen, die nun einmal hier landesüblich sind. Ich rate Ihnen nicht, sie zu betreten«, sagte ich beschämt. –
Fast komisch war das Verhältnis der beiden Brüder zueinander. Jeder bemitleidete den anderen insgeheim und begegnete ihm mit einer scheuen Herzlichkeit, wie man Menschen behandelt, die man an der Grenze geistiger Zurechnungsfähigkeit hinschwanken sieht, oder von denen man weiß, daß sie einer unabwendbaren Katastrophe ahnungslos entgegentaumeln. Sie gingen sich nicht mehr aus dem Wege wie vor kurzer Zeit. Sie suchten Gelegenheiten auf, sich kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Beide sagten sich im stillen, wie schmerzlich es sei, sehen zu müssen, wie dieser unselige Bruder in seiner Verblendung verharre; aber es sei augenscheinlich unmöglich, den wunden Punkt noch einmal zu berühren. Es bleibe nichts übrig, als die Lösung des Knotens in dem armen Gehirn einer höheren Fügung zu überlassen.
Buchwald arbeitete ungewöhnlich fleißig an seinem großen Bild. Es gestaltete sich, soweit ich es beurteilen konnte, zu einem nicht gewöhnlichen Werk. Joe, der ein ausgesprochenes künstlerisches Gefühl hatte und vor allem den Geschmack seiner Landsleute kannte, prophezeite dem Werk einen bedeutenden Erfolg und war von allem bezaubert, außer von der Hauptfigur, dem Cheops, oder, wie er ihn seit einiger Zeit ohne Scheu nannte, dem Melchisedek. »Aber in den unwissenden Kreisen von Künstlern und Kritikern,« erklärte er, »wird man das Göttliche, das in dieser Gestalt liegen sollte, nicht vermissen. Das Bild kann London im Sturm erobern. Buchwald ist auf dem Weg, einer unserer großen Künstler zu werden, wenn es ihm gelingt, sich noch etwas mehr zu vertiefen.«
Sakuntala sah den Maler nicht häufiger als gewöhnlich. Es schien eine beiderseitige Verabredung zu sein. Sie lebte still dahin, sammelte Pflanzen, malte auch wieder und überließ sich wie ein glückliches Kind der Führung Berthas, die sich alle Mühe gab, ihre alte Lebens- und Tatenlust wiederzufinden und zu verbergen, welche Mühe sie dies kostete. Es war gut, daß neben ihren Altertumsstudien ein neues, ungewöhnlich lebhaftes Interesse für die moderne Entwicklung Ägyptens, namentlich aber für die Fabriken zu Bulak in ihr erwacht war.
Trotz aller Nebenbeschäftigungen fühlten jedoch alle, wie die erwartungsvolle Spannung in dem kleinen Kreise mit jedem Tage wuchs. Zum Glück war Fräulein Schütz eine gesunde praktische Natur; sie allein sah, daß es so nicht fortgehen könne und etwas geschehen müsse. So rückte sie eines Morgens mit dem Gedanken heraus, daß sie alle einen gemeinsamen Ausflug nach den Pyramiden machen sollten, die jetzt, bei dem niedrigen Nilstand, leichter zu erreichen wären als vor einigen Monaten. Sie war selbst erstaunt, wie freudig der Vorschlag aufgenommen wurde. Allerdings konnte sie auch nicht ahnen, daß dieser Bereitwilligkeit bei beiden Brüdern das gleiche – und ein sehr eigentümliches – Gefühl zu Grunde lag. Als ich die Thinkersche Gesellschaft, den Plan besprechend, beim Frühstück zusammen fand, wurde ich bestürmt, mich dem vielversprechenden Picknick anzuschließen. Ich hatte keine Ursache, es abzulehnen, da jetzt die Arbeiten in Bulak ihr Geleise gefunden hatten und in Schubra nichts Ungewöhnliches vorlag. Herr O'Donald habe leider abgesagt, erzählte Fräulein Schütz. Er sei von Geschäftssorgen ganz niedergedrückt und behaupte, eine Besprechung mit Herrn Smart und Oppenheim zu haben. »Da könnte«, fuhr sie nicht ganz unbefangen fort, »Herr Fritschy wieder einmal ein wenig mithelfen; denn Arbeit gebe es übergenug bei solchen Ausfahrten.« – Ja, auch Herr Fritschy könne mithelfen, wenn Fräulein Schütz seiner Unterstützung bedürfe und er Lust habe, gab ich zu. Und Fritschy hatte Lust, wie sich am nächsten Tage zeigte, an dem wir, acht Mann hoch, in Feiertagslaune einem köstlichen Morgen entgegenritten.
Die richtige Karawanen- und Pyramidenstimmung kam allerdings nicht über uns, ehe wir, auf der anderen Seite des Nils, Gise hinter uns hatten und an kümmerlichen Baumwollreihen und halbverdursteten Kleefeldern hinreitend, den gelben Wüstensaum vor uns sahen und über demselben die gewaltigen Dreiecke emporstiegen, die bei jedem Aufblick mächtiger anzuwachsen schienen. Die weite sonnige Landschaft mit ihren kaum angedeuteten Wegen und den vor uns liegenden Hügeln ohne jede Spur von Pfad, die man in der klaren Luft stundenlang mit der Hand greifen zu können glaubt, erfüllte uns mit jenem Gefühl der Freiheit von Leib und Seele, welches bei den meisten in ausgelassene Heiterkeit umzuschlagen drohte. Nur bei Joe Thinker schien diese Wirkung ausbleiben zu wollen.
Unsere Esel, muntere kräftige Tierchen, die Bertha mit Hilfe Ibrahim ben Musas schon am Abend zuvor vor dem Gasthof ausgesucht hatte, waren in ihren gewohnten Geschäftstrab gefallen; die Reiter hatten die ihrem Behagen zusagende Ordnung gefunden. Voran Fräulein Schütz, geleitet von ihren getreuen Knappen Fritschy auf der einen und von Buchwald auf der anderen Seite. Warum sich dieser Heuchler in so auffälliger Weise an das Fräulein herandrängen durfte, die ihn aufs Unnötigste in Anspruch nahm, hing mit jenen Seelenregungen des Weibes zusammen, von denen wir Männer gewöhnlich nicht ahnen, daß sie uns ein Rätsel sind, bis wir dessen Lösung erfahren. Den dreien folgte Miss Thinker auf einem wahrhaft königlichen Tier von schneeweißer Farbe, das ich aus meinem Esels-Marstall von Schubra heraufgeschickt hatte. Neben ihr ritt Joe, der, wenn sein Auge nicht an der Pyramide hing, sich nicht enthalten konnte, bewundernd an Sakuntala emporzusehen. War das das kleine braune Hindumädchen, daß vor sechs Jahren zu seinem Schrecken in Glenisloch angekommen war? Dann kamen Ben und ich. Auch er hatte mit einem gewaltsamen Entschluß die Sorgen des Tages hinter sich gelassen und plauderte munter über dies und das, sichtlich bemüht, sich und anderen die alles verzehrenden Gedanken ferne zu halten. Morgen waren die acht Tage verflossen, die sich der Vizekönig als eine Art Bedenkzeit bestimmt hatte. In nächster Zeit mußte die Entscheidung fallen. Ben war seiner Sache zwar sicher, natürlich! Trotzdem klopfte sein Herz, wenn er daran dachte, was der Morgen bringen könnte. Er hatte in den letzten Wochen übermäßig gearbeitet; die Aufgabe in all ihren Verzweigungen ging doch etwas über seine Kräfte. Heute wollte er in der reinen Wüstenluft das Gleichgewicht seiner Nerven wiederfinden. Hinter uns kam der würdige Ibrahim ben Musa und ein weiterer Esel, dem in wohlgepackten Lastkörben und Satteltaschen das körperliche Wohl der ganzen Karawane anvertraut war. Man hatte für einen vollen Tag reichlich Sorge getragen. Die Thinkersche Gesellschaft gehörte nicht zu den Leuten, die den Pyramiden einen flüchtigen Touristenbesuch abstatten, und alle fühlten, wenn auch in verschiedenem Grade, daß der heutige eine ganz besondere Bedeutung habe.
»Denn sehen Sie«, sagte Ben, indem er seinen Esel an den meinen heranschob, um weniger laut sprechen zu müssen, »Ich habe mich zu dem Ausflug namentlich meines Bruders wegen entschlossen. Ich habe ihn um seinetwillen eigentlich ersonnen und nur zum Schein unsere Bertha vorgeschoben. Es ist vorauszusehen: Wenn ihm in den nächsten Tagen die Entscheidung des Vizekönigs mitgeteilt werden muß, wird er schwerlich länger in Kairo bleiben. Er ist nicht rasch in seinen Entschlüssen, aber in diesem Falle, fürchte ich, wird es bei ihm zu einer Art Katastrophe kommen. Er wird sich selbst von mir nicht halten lassen und über Hals und Kopf abreisen. Denn es ist nicht nur die Pyramide, es sind all seine verdrehten Theorien, die mit dem Entschluß Ismael Paschas fallen müssen. Das hält er nicht aus, und ich kann's ihm nicht verargen. Da wollt' ich ihm heute noch einmal Gelegenheit geben, das ganze Bild seiner Träumereien so recht con amore zu genießen. Man verschmerzt alles mit der Zeit und so denke ich mir, wird ihm dieser Tag eine freundliche Erinnerung für den Rest seines Lebens bleiben. Wer weiß, wir werden noch ruhig darüber plaudern können, wenn in zehn oder zwölf Jahren mein Stauwerk diese halbverdorrte Wüste, auf der wir jetzt reiten und Hunderte von Quadratmeilen landabwärts in einen immergrünen Garten verwandelt hat.«
»Sie scheinen Ihrer Sache sehr sicher zu sein, Herr Thinker«, sagte ich bedenklich.
Er schob seinen Esel noch etwas näher an mich heran, so daß sich unsere Steigbügel aneinander rieben, und flüsterte aufs Vertraulichste:
»Ich war dies von Anfang an, natürlich. Aber ich weiß jetzt von Coalville – der eingebildete Haubenstock besucht mich nicht ohne Grund –, wie die Sachen wirklich stehen. Der Vizekönig braucht eine annehmbare Entschuldigung, um ein neues großes Anlehen aufnehmen zu können. Da kommt ihm mein Projekt gerade recht. Sie sehen, ich mache mir keine Illusionen. Nichts ist schlimmer im praktischen Leben, als sich von Illusionen einschläfern zu lassen. Aber helfe, was helfen mag. Die meisten großen Dinge in der Welt entstanden aus Ursachen, die sie nichts angingen. Ich glaube, die Philosophen in Ihrem Vaterland nennen dies das Gesetz der Kausalität. Der Witz ist, die falschen Ursachen beim Schopf zu fassen und richtig zu gebrauchen. Dafür haben die Philosophen in Ihrem Vaterland noch keine erschöpfende Bezeichnung gefunden. Höchstens, und kopfschüttelnd, finden sie den Vorgang unlogisch und merken nicht, daß alles im Leben außerhalb ihrer Bücher unlogisch ist und daß eben darin das Leben des Lebens besteht. Woraus in ihren Köpfen und anderen schon manchfache Verwirrung entstanden sind.«
An dieser Stelle verursachte ein Esel eine kleine Unterbrechung, vielleicht nicht zum Nachteil unseres philosophierenden Freundes. Mit Vorbedacht hatte sich Fräulein Schütz das munterste Tierchen ausgesucht, das auf der Esbekiye zu finden war, hatte hierbei aber doch ihre eigene Reitkunst etwas überschätzt. War es nun der erhebende Anblick der Pyramiden, an deren Fuß große Fütterung zu erwarten war, oder die Morgenluft oder die beständigen handgreiflichen Neckereien, zu denen die besonders langen Ohren des Esels Veranlassung gaben: Lady Palmerston – dies war sein oder vielmehr ihr Name, wenn sie sich vorwiegend in englischer Gesellschaft befand – ging zum zweitenmal mit unserer Bertha durch. In rasendem Galopp verfolgte sie der getreue Fritschy und etwas zurückhaltender Buchwald, während die übrige Gesellschaft beim Schauspiel in atemloser Bewunderung und in der stillen Hoffnung nachsah, das mutige Fräulein ohne Schaden an Leib und Leben und mit Berücksichtigung aller Regeln des Anstandes absitzen zu sehen. Diese Hoffnung wurde diesmal nicht getäuscht. Hinter einem Tamariskengebüsch, das der Esel rücksichtslos durchbrach, muß die Katastrophe erfolgt sein, denn er erschien auf der anderen Seite des Buschwerks wild jauchzend, aber ohne Fräulein Schütz, ja ohne Sattel. Nun natürlich begannen wir alle auch zu galoppieren, ohne zu jauchzen. Es wäre unpassend gewesen. Ehe wir die Unglücksstätte erreichen konnten, hatte Buchwald den Esel eingefangen, Fritschy den Sattel und Fräulein Schütz sich selbst wiedergefunden, denn sie trat, etwas rot im Gesicht, sonst aber wohl und munter aus dem Busch hervor. Nun aber mußten ernstere Maßregeln mit dem wilden Tier ergriffen werden. Nach kurzem Wortgefecht, in welchem die edelsten Gefühle des Muts und der Opferwilligkeit zutage traten, wurde Fräulein Schütz' und Fritschys Sättel vertauscht. Wie zu erwarten, gelang es dem Manne ohne Schwierigkeit, die allzu muntere Lady Palmerston auf den Pfad der Pflicht zurückzuführen, so daß die Karawane ihren geordneten Marsch fortsetzen konnte.
»Ein ganz vortreffliches Frauenzimmer, unsere Bertha«, nahm Ben die Unterhaltung wieder auf. »Ich weiß nicht, was ich täte, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn sie den unglücklichen Gedanken haben sollte, uns mit irgendeinem anderen Esel durchzugehen. Aber dazu ist sie viel zu klug; das ist das Beruhigende. Bei Sakuntala mag ja etwas dieser Art über kurz oder lang eintreten. Ende des Sommers wird sie ihr eigener Herr. Wer weiß, ob sie uns dann nicht eines ihrer Märchen vom Zug des Herzens erzählt und wieder in Indien oder in irgend einem anderen exotischen Traumland verschwindet. Ehrlich gesprochen, ich habe Kundel nie recht verstehen können. So klein und kindlich sie zu uns kam, sie ging über meinen Horizont. Mit Joe wußte sie sich von Anfang an besser zu stellen. Sie sehen, wie beide heute wieder zusammen schnäbeln!«
Wer nicht in die Verhältnisse hineinsah wie ich, hätte glauben können, das Wort sei nicht ganz unpassend gewählt. Sie ritten so nah beisammen als möglich. Sakuntala neigte sich nach rechts, Joe nach links, so daß sich sein eines altgriechischen Helden würdiger Korkhelm und ihr niedliches Hütchen berührten, denn sie saß um so viel höher als er. Aber ich wußte genau, daß sie harmlose Dinge besprachen: Erlebnisse im Pfarrhaus zu Glenisloch oder von Spaziergängen um Sydenham, Kindergeschichten aus Indien und dergleichen. Für die große Erklärung, die über kurz oder lang kommen mußte, war dies alles nur Vorspiel. Auch wußte ich von Buchwald, daß er eine solche für seine Sache hielt; wie recht und billig. Daß aber Joe der bevorzugte Onkel war und daß man etwas von dem bevorzugten Onkel erwartete, das konnte ein Geistigblinder in der Gruppe sehen, die flüsternd vor uns hertrabte.
Ohne weitere Störung oder unliebsam Beschleunigung unseres Ritts ließen wir die Dörfchen El Tabiye und El-Kum-al-Aswud hinter uns, die zu dieser Jahreszeit auf dem nächsten Weg nach den Pyramiden liegen und freuten uns, laut und im stillen, des überwältigenden Anwachsens des Riesenbildes, das bald frei und offen vor uns stand, bald zwischen den spärlichen Gruppen von Sykomoren und Palmen durchblickte, denen wir in weiten Abständen am Rand vertrockneter Wassertümpel oder neben dem verfallenen Grab eines Schechs begegneten. Erst als wir, El Kafr zur Linken, an dem steilen Hang emporritten, der zu den Pyramiden hinaufführte, stießen wir auf ein fast unbesiegliches Hindernis der Fortbewegung. Die Bewohner des Dorfs hatten entdeckt, daß ihr Freund, der schwarze Zauberer, den sie neuerdings auch mit dem Titel eines MagnunMagnun heißen die Araber Irrsinnige, denen sie, als von Gott berührt, mit ehrerbietiger Scheu begegnen. beehrten, samt seinem Jünger zurückgekommen war. Schrille Rufe tönten von Hütte zu Hütte. In Scharen strömte jung und alt uns entgegen. Auf den Feldern warfen Männer ihre Hauen, Mädchen ihre Körbe weg und liefen freudig schreiend auf uns zu. Etliche Weiber eilten schon mit Körben auf dem Kopf herbei, in denen hastig zusammengeraffte Datteln und Zwiebeln, Eier und Ziegenbutterkügelchen durcheinander kollerten. »Schnell! schnell! Er kommt wieder! Der Vater der Zauberei ist zurück!« riefen sie sich lachend zu. Die Begrüßung war stürmisch und fast rührend. Sie küßten Joe die Hände und die Rockschöße, sie suchten seine Steigbügel zu verehren. Glaubten sie in diesem Sinn genug getan zu haben, so fielen sie über Buchwald her, der als minder ehrwürdig liebevollere Ausbrüche ihrer Freude erdulden mußte. Das Merkwürdige war; aus dem Geschrei und Jubel der Leute hörte man nicht einmal das Wort ›Bakschisch‹ heraus. Sie hatten es wohl alle auf der Zunge, aber niemand sprach es aus. Ich wußte es ja längst: Sie waren wunderliche, großgewachsene Kinder; aber auch in Kindern steckt manchmal ein erstaunliches Anstandsgefühl. Erst als sich der Begrüßungstaumel gelegt hatte und sie merkten, daß auch Fremde in unserer Gesellschaft waren, kam ein schüchternes ›Bakschisch, ja Hoaga!‹ da und dort aus dem Hintergrund und bald darauf der Chor kleiner schriller Stimmen: »Bakschisch, Bakschisch!«
Auf der Höhe, am Fuß der Cheopspyramide wurde Halt gemacht. Es war notwendig, einen Kriegsrat zu halten, um die weiteren Vorgänge des Tages festzustellen; auch war nach dem langen Ritt ein kleiner Imbiß nicht zu verachten. Fritschy und der Dragoman machten sich an die Arbeit. Unter den gewandten Händen Berthas waren auf einem gutbehauenen Felsblock, den das zerfallene Pyramidchen von Cheops Tochter geliefert hatte, die nötigen Vorbereitungen rasch getroffen. Während jedoch zwei kalte Hühner und die bessere Hälfte eines rosigen Schinkenbeines einträchtig verschwanden, stellten sich in anderer Richtung große Meinungsverschiedenheiten ein. Ben äußerte den Wunsch, das Innere der Cheops-Pyramide noch einmal, und zwar aufs eingehendste zu besichtigen. Namentlich wollte er die Kammern des Königs, der Königin und die fast nie besuchte unterirdische Grabkammer untersuchen. Aus Rücksicht auf Joe gab er den Zweck, der diesem Wunsche zugrundelag, den er mir aber heimlich mitgeteilt hatte, öffentlich nicht preis. Er wollte darüber klar werden, in welcher Weise das Steingefüge im Innern am schnellsten und billigsten auseinanderzureißen wäre, und ob der einfachste Gedanke, die Entzündung einer gewaltigen Masse von Dynamit in den Kammern und Gängen des Baus, zum Ziel führen könnte.
Joe seinerseits hatte zwar keine Ahnung von den verbrecherischen Hintergedanken seines Bruders, doch kannte er dessen Gesinnung nur zu wohl. Es widerstrebte ihm, mit einem Mann die heiligsten Räume des geweihten Baus nochmals zu betreten, der ein solches Unverständnis für ihre Bedeutung zu Schau trug. Mit rücksichtsvoller Umgehung dieser seiner wahren Gründe führte er deshalb alles Erdenkliche an, was gegen den Besuch der Innenräume sprechen konnte und es gelang ihm schließlich auch, Ben zu einer gemeinsamen Besteigung des Gipfels zu bewegen. Dies gefiel Sakuntala nicht, die eine eigentümliche Scheu davor empfand, in großer Gesellschaft mit Buchwald die Stelle wieder zu sehen, wo sie ihm zum erstenmal sozusagen ihr junges Leben anvertraut hatte, Buchwald, der schon seit mehreren Wochen die Sprache ihrer leisesten Bewegungen verstand, unterstützte sie laut und entschlossen.
Bertha wollte vor allen Dingen die Haushaltung in den Grabhöhlen wieder eingerichtet wissen. Wenn man einen ganzen Tag hier bleibe, was ja sehr nett sei, so müsse man doch ein Heim haben, in dem man sich zusammenfinden, ausruhen, essen und trinken und überhaupt ein menschenwürdiges Dasein führen könne. Fritschy sah die begeisterte Rednerin bewundernd an und nickte heftig. Ich sah diese Zersplitterung der Ansichten nicht ungern. Sie stimmte mit meiner Theorie, daß das Leben um so genußreicher wird, je kleiner die Gesellschaft ist, in der wir es genießen. Heimlich gehe ich in diesem Sinne bis zur Einheit herunter. Ich schlug deshalb vor, daß wir uns in kleine Gruppen spalten sollten und jede versuchen möge, nach ihrer eigenen Façon vergnügt, wenn nicht selig zu werden, wie dies der große Preußenkönig gewünscht habe. Dies fand lauten Anklang und man begann sofort Entwürfe nach dem neuen Grundsatz auszuarbeiten.
Fräulein Bertha, mit Fritschy, dem Dragoman und dem Speiseesel wollten sofort die Grabkammern aufsuchen, um unsere Heimstätte zu bauen. Sakuntala bat Buchwald, sie an die Stelle zu führen, von wo er sich den Blick auf sein großes Bild gedacht habe. Auch den Punkt, von dem aus die reizende Skizze der Sphinx aufgenommen worden sei, die er ihr male, würde sie gerne besuchen. Sie wolle ihr eigenes Skizzenbuch nicht umsonst mitgebracht haben. Ben und Joe beschlossen, nicht ohne einiges Zaudern auf beiden Seiten, gemeinsam den Gipfel zu besteigen. Jeder versicherte leichthin, dem anderen etwas zeigen zu können, was er sicher noch nicht beachtet habe. Innerlich hofften beide, gegenseitig sich dort oben das Geständnis abringen zu können, daß das Schicksal der Pyramide den eigenen Anschauungen entsprechend entschieden sei, sobald man mit freiem offenem Geist und von oben herab die ganze Sache überblicke.
»Und dann –« rief Fräulein Schütz fröhlich, indem sie, zum Ärger der im Kreis umhersitzenden Freunde aus Kafr, den Rest des Schinkenbeins wieder einpackte, »dann, wenn ihr alle genügend verbrannt und verhungert seid, gegen Mittag, kommt ihr heim und findet die Tafel gedeckt und ein Mahl, wie sich's die alten Ägypter nicht besser hätten wünschen können.«
»So sei es!« sagte ich. »Das ist neuester Kriegsbrauch: Getrennt marschieren und vereinigt schlagen.«
Denn das ist das Schlimme größerer Gesellschaften: Man schämt sich nicht, die schlechtesten Witze, die jedermann hundertmal gehört hat, laut und lärmend auszusprechen und ist sicher, dankbare Zuhörer zu finden. Je größer die Gesellschaft, um so schlechter darf der Witz sein; je schlechter der Witz, um so größer wird die Dankbarkeit.
Buchwald winkte mich auf die Seite. Er wollte mich zu Rede stellen, obgleich ich an dieser Zersplitterung der Kräfte sehr unschuldig war. – »Du könntest mir einen wirklichen Freundesdienst erweisen, Eyth«, sagte er fast ängstlich. »Geh mit dem Brüderpaar auf den Gipfel. Wir dürfen nicht wagen, sie allein zu lassen. Wenn du gesehen hättest, was ich von dort oben herab sehen mußte, würdest du mich verstehen. Sie waren nicht weit davon, Mord und Totschlag zu begehen, ehe wir sie trennen konnten. Und oben ist es zehnmal gefährlicher, wegen des Abstürzens.«
Ich blinzelte listig mit den Augen; aber es war ein falscher Verdacht, der sich in mir regte. Buchwald wollte mich nicht aus dem Wege schaffen, dazu war er viel zu ehrlich. Er war wirklich besorgt, ein Zusammenstoß der feindlichen Elemente in solcher Höhe könnte ein Unglück herbeiführen. Da mir die zehnte Besteigung der Pyramide noch immer das gleiche Vergnügen machte wie die erste, so kostete es mich keine Überwindung, seiner Bitte zu entsprechen. Ben sowohl als Joe schienen erfreut über meinen Entschluß. Ich war ihnen ein willkommener Puffer, gegen den sie die Stöße richten konnten, die dem Bruder galten. –
Fünf Minuten später war der Kriegsrat aufgelöst, und jede der drei Abteilungen setzte sich in verschiedener Richtung in Bewegung. Munter kletterte Joe über die gewohnten Felsblöcke, deren Höhe im unteren Zehntel der Pyramide einen guten Turner erfordert. Er zählte liebevoll die Schichten, denn jede war ihm ein besonderer Freund geworden und fast an jede knüpfte sich die Erinnerung an ein kleines Erlebnis. Hier war er ausgeglitten und hatte sich das Knie verstaucht, dort hatte ihm ein Araber aus Versehen sein Frühstück aufgegessen. Diese Schicht war merkwürdigerweise genau zweimal so hoch, als die nächste. Dort – Ben! beachte dies wohl! – dort kommen wir schon auf die fünfzigste Stufe, die genau in der Höhe des Bodens der Königskammer liegt. Du bemerkst den immer wiederkehrenden Fünfer. Aber das Merkwürdigste ist: auf dieser Höhe ist der Umfang der Pyramide 25 827 Pyramidenzoll, und Laplace, der große Astronom, berechnet den Kreislauf der Präzession der Tag- und Nachtgleichen auf 25 816 Jahre. Wer will nun entscheiden, ob sie Laplace um elf Jahre, oder die Pyramide um elf Zoll getäuscht hat?
Ben war außer Atem und krebsrot im Gesicht, lange ehe Joe an eine Ruhepause dachte. Allerdings wurde der letztere auch trotz alles Scheltens und Bittens von seinen alten Freunden, den Arabern, in einer Weise nach oben gezerrt und geschoben, die jedem anderen zur Qual geworden wäre. Aber er konnte den guten Leuten die Freude nicht verderben. Und wenn er auch vier der eifrigsten seinem Bruder zu Hilfe schickte, so blieben ihm noch immer sechs, die darauf bestanden, dem Vater der Zauberei handgreifliche, fast schmerzhafte Liebesdienste zu leisten.