Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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19. Kapitel
El Molid en Nebbi

Ibrahim ben Musa, der Dragoman, zeigte einen ungewöhnlichen Eifer, als er hörte, was seine Herren zu tun beabsichtigten. Er war in seiner Jugend selbst aktiver Derwisch gewesen und verdankte es nur dem unerforschlichen Willen des Höchsten, daß ihn das Schicksal aus diesem heiligen Stand in den weniger heiligen eines Dragomans geschleudert hatte. In jenen Tagen war er mit einem armen deutschen Sprachforscher in Berührung gekommen, der selbst fast wie ein Derwisch lebte und sich sechs Jahre lang abquälte, den Koran so zu übersetzen, wie ihn die Araber unserer Zeit verstehen. Er war einer jener Männer gewesen, auf die unser Vaterland, als eine seiner Spezialitäten, mit Recht stolz ist, und lag schon seit fünfzehn Jahren zu Alt-Kairo in einem vergessenen Grab. Ibrahim aber war noch immer stolz auf seinen gelehrten Freund und auf die Frömmigkeit seiner Jugend. Deshalb beschloß er, die Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen und seinen zwar ungläubigen, aber wohlwollenden Gebietern von heute den wahren Glauben in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit zu zeigen. Schon in der Abenddämmerung durchstreifte er freiwillig und ohne Extra-Bakschisch die buntbelebten südlichen Teile der Esbekiye und ihrer Nachbarstraßen, tauschte da und dort mit alten Freunden eine langwierige Begrüßung aus, besah die mit jedem Jahr wechselnde Einrichtung des Festplatzes und erkundigte sich, wann und wo die Hauptfestlichkeiten der Nacht stattfinden würden. Nunmehr, drei Stunden nach Sonnenuntergang, geleitete er die ihm anvertraute kleine Gesellschaft durch das nächtliche Jahrmarktsgewühl, das um das Haus des Schech el Bekri, des Hauptes aller Derwische, summte. Hier befanden sie sich im Mittelpunkt des bunten Treibens der Festnacht, in welchem ihnen nur der kundigste Führer den richtigen Weg bahnen konnte.

Fräulein Schütz, einfach besorgt und doppelt neugierig, hatte den Ärmel seines Kaftans erfaßt und ließ nicht mehr los. Fritschy führte sie am andern Arm und ließ sich willig erklären, was sie soeben dem Dragoman abgerungen hatte. Hinter ihnen kam Buchwald mit Sakuntala, die äußerlich sehr ruhig war, deren dunkle Augen aber einen eigentümlichen Glanz annahmen, als das dumpfe Murmeln und Brausen der Volkswogen lauter anschwoll. O'Donald umkreiste die Gruppe wie ein rühriger Schäferhund seine Herde und wußte mit einem derben Spazierstock Platz zu schaffen, wenn das heute besonders milde Grüßen und Lächeln Ibrahims nicht mehr ausreichte. So, während sie langsam vordrangen, verschlang sie das Gewühl der Menge. Doch hätte niemand gewünscht, die phantastischen Bilder, die sie auf allen Seiten umgaben, rascher an sich vorübergehen zu lassen.

Zwischen der nördlichen und der südlichen Seite der damals weit größeren Esbekiye – sie ist jetzt zu zwei Drittel überbaut – lag ein versumpftes Stück Land, das während der Zeit des hohen Nils einen Teich bildete, jetzt aber, gegen das Ende des März, mit Gestrüpp und halbverdorrtem Unkraut bedeckt war. In gewöhnlichen Nächten herrschte auf dem südlichen Teile die Stille eines Fellahdorfes; heute diente derselbe als Hauptfestplatz des Molid en Nebbi. Kairenser aus allen Schichten der Bevölkerung, Fellachin der Umgegend, Beduinen aus den Oasen des Westens und von Suez her, Araber, Syrer, Türken drängten sich durcheinander, selbst hohe persische Mützen und bunte Riesenturbane auf dem Kopf pechschwarzer Neger aus dem innersten Sudan ragten da und dort über das Gewimmel der Köpfe hervor. Wie sich auf der nördlichen Seite des Platzes das Völkergemisch Europas in seiner oft wenig würdigen Weise vergnügte, so schien sich hier im Süden Asien und Afrika zu begegnen. An den Rändern des Festplatzes und in den engen, heute buntbeleuchteten Gassen, die auf denselben einmünden, hatten sich Händler von Eßwaren niedergelassen. Schaukeln und ächzende Schaukelräder bewegten sich über dem See der Köpfe im unruhigen Lichte von hundert flackernden Kerzen und Lämpchen und dampfenden Pechfackeln. Da und dort drängte eine kleine Prozession murmelnder Männer, Laternen auf hohen Stangen tragend, nach den Zelten, die sich an verschiedenen Stellen erhoben und den Sammelpunkt eines bestimmten Derwischordens bezeichneten. Dutzende von hölzernen Kronleuchtern hingen an unsichtbaren Stricken in der Luft und beleuchteten dort einen Kreis lauschender und lachender Zuhörer, die sich um einen Märchenerzähler drängten, hier eine Gruppe, welche ein Possenreißer von dämonischer Häßlichkeit unterhielt, dort einen Schlangenzauberer, der sich vergeblich bemühte, Raum für seine Vorstellung frei zu machen, hier einen halbnackten Riesen, welcher eine blitzende Klinge bis ans Heft in den eigenen Rachen stieß, oder stöhnend und pustend brennendes Werg kaute.

Doch Ibrahim drängte vorwärts, bis er am Eingang einer der Nebenstraßen einen kleinen nach drei Seiten geschlossenen Platz erreichte, wo es, vor einer kleinen Moschee, etwas ruhiger zuging. Hier sprachen die Leute mit gedämpfter Stimme und drängten mit freundlicher Höflichkeit an einander vorüber. In der Mitte des Platzes stand ein hoher Mast, an dem wohl zehn Leuchter hingen. Hinter demselben, unmittelbar vor der Moschee, befand sich ein hölzernes Gerüst von der Höhe eines kleinen Hauses, das viele hundert Lämpchen trug. Sie waren so angeordnet, daß sie weit hinaus in die Nacht in arabischer Schrift die Worte strahlten: Es ist kein Gott, außer Gott.

Gegenüber der Moschee und ihrem Minarett, auf dessen Spitze eine einsame Lampe ausgehängt war, die wie der Abendstern ruhig über der summenden, siedenden Menge leuchtete, befand sich ein arabisches Kaffeehaus. Hier endlich hielt Ibrahim still. Die Leute, die dichtgedrängt einen offenen Raum umstanden, machten höflich Platz. Der Kaffeewirt brachte auf Ibrahims Wink eine niedere Bank aus Weidengeflecht herbei und nach kurzer Frist saßen die Damen in der vordersten Reihe der Zuschauer, die den freien Platz umgaben, auf dem der Hauptsikr der Nacht abgehalten werden sollte.

Wohl sechzig Derwische, einige im Kaftan der Handwerker und kleinen Kaufleute der Stadt, andere im blauen Hemd oder im braunen Mantel der Fellachin, einige mit grünen, andere mit weißen Turbanen, viele nur mit dem braunen Filzmützchen armer Bauern und Tagelöhner bedeckt, saßen, einen langgestreckten ovalen Ring bildend, am Boden und warteten flüsternd oder still vor sich hin murmelnd auf den Anfang der Feier. In der Mitte des Rings ragte der Lichter tragende Mast, gegen die beiden Enden waren zwei meterhohe Wachskerzen in hölzernen Ständern aufgestellt. Am oberen Ende des Rings standen vier Sänger, hinter denselben ebensoviele Musikanten, von denen zwei mit kleinen Trommeln, die andere mit einer Klarinette und einer Laute versehen waren. O'Donald, der schon öfter einen Sikr gesehen hatte, erklärte der unaufhörlich fragenden Bertha, was er zu erklären wußte, so daß Ibrahim, der sich in der Ausübung seiner Berufspflicht beeinträchtigt fühlte, schließlich halblaut zu der still dasitzenden Sakuntala sagte: »Er weiß alles, wie ein Papagei aus Indien.«

Es dauerte eine Viertelstunde, ehe ein Derwisch, der nur durch seinen etwas größeren grünen Turban vor den andern hervorragte, sich langsam erhob. Er trat in das Innere des Rings und rief laut: El Futa! – Wie das Gemurmel der fernen See klang es, als nun der ganze Kreis die erste kurze Sure des Korans sprach. Auch einige der Zuschauer beteten mit und Ibrahim flüsterte, so laut er es zu tun wagte, eine englische Übersetzung in Sakuntalas Ohr, die ihm sein früherer Herr beigebracht haben mußte. Der Jahrmarktslärm ringsumher schien zu verstummen. Die Geister Arabiens senkten sich auf die murmelnde Versammlung.

»Im Namen des Allbarmherzigen! Lob und Preis Gott, dem Herrn der Welt, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tage des Gerichts. Dir wollen wir dienen und zu Dir wollen wir flehen, auf daß Du uns führest den rechten Weg: den Weg derer, die Deiner Gnade sich freuen und nicht den Weg derer, über welche Du zürnest und nicht den der Irrenden.«

»Das ist ganz schauerlich«, sagte Bertha leise zu Sakuntala, »man könnte glauben, diese Leute beteten wirklich.«

»Tun sie es nicht?« fragte Miss Thinker.

»Wo denkst du hin! Es sind doch nur halbe Heiden; eigentlich beten können sie nicht«, sagte Fräulein Schütz sehr bestimmt. Weitere Erklärungen konnte sie nicht beifügen, denn die Sänger, die ebenfalls vorgetreten waren, begannen mit durchdringender näselnder Stimme ein langes Gebet zu singen. Als es dem Ende nahe war, erinnerte sich Ibrahim plötzlich seines Berufs und sprach halblaut mit:

»An Gott haben wir genug; kein Hüter ist mit ihm zu vergleichen. Es ist keine Kraft noch Macht außer Gott, dem Hohen, dem Großen. O Gott! O unser Herr! O Du freigebig Vergebender. O Du Allgütigster! Höre uns! Amen.«

Jetzt begannen, noch immer sitzend, die sechzig Sikir, wie man die Teilnehmer an einem Sikr nennt, in langsamem Takt nach einer einförmigen Mollmelodie, die sich endlos wiederholte, ihr Lied: La ila ha illallah! La ila ha illallah! La ila ha illallah! Es ist kein Gott, außer Gott! – und bei jeder Wiederholung der großen Wahrheit des Islams beugten sie Kopf und Körper zweimal nach vorn. Es war ein Schwingen und Wogen des ganzen Rings, wie wenn es ein Riesenleib wäre, den eine Riesenseele bewegte und als ob die Riesenseele nur einen Gedanken hätte: den einzigen.

»Mir wird zumut, wie wenn ich auf der hohen See wäre«, flüsterte Bertha. »Hast du kölnisches Wasser hier, Sakuntala? Bitte!« –

Keine Frage, es war eine langwierige, anstrengende Art, seinen Gott zu verehren. Über eine Stunde dauerte das einförmige Singen und nur dreimal wurde, nach einer kurzen Pause, die einfache Melodie des ›La ila ha‹ gewechselt. Von Zeit zu Zeit rief der Vorbeter im grünen Turban ›Mescheb!‹ ›Hilfe!‹ in die Nacht hinauf Manchmal klang dies wie eine wehmütige Klage aus tiefstem Erdenelend, manchmal laut und stürmisch, wie in heißem Gebetskampf mit dem Höchsten, während das einförmige Singen, bald zu lautem Geschrei anschwellend, bald zurücksinkend in dumpfes Murmeln, ununterbrochen seinen Fortgang nahm. Fräulein Schütz war so still geworden wie Sakuntala und sah mit starren Blicken dem Schaukeln des Rings, dem wilden Sich-hin-und-herwerfen der braunen Gestalten zu. Es wurde nicht langweilig, so lange es dauerte. Jenes geheimnisvolle Etwas, das bewegte Menschenseelen ausstrahlen, wie Nachtblumen ihren Duft, zog selbst die Männer unwiderstehlich in seinen betäubenden Bann.

In den zwei Pausen, die dem Wechsel der Melodie des ›La ila ha‹ vorangingen, sangen die vier Sänger Lieder, die sie mit sanftem Schlagen ihrer Handtrommeln begleiteten. Lieder der Sehnsucht und der Liebe, wenn man sie wörtlich nimmt; Lieder, merkwürdig ähnlich denen, die vor dreitausend Jahren Salomo dichtete. Ibrahim ben Musa machte einen vergeblichen Versuch, ihren Sinn zu übersetzen, gab ihn aber bald als hoffnungslos auf, besonders weil er nach dreiviertel Stunden nicht mehr widerstehen konnte, das Lailaha mit zu murmeln und im Takt der Derwische hin- und herzuschwingen. Fräulein Schütz blickte hilflos zu Fritschy auf, auch sie begann leise zu pendeln. Sakuntala sah starr vor sich hin; sie schien zu träumen.

Nachdem die dritte Melodie lange genug gesungen war, standen die Derwische auf. Die Sache wurde offenbar ernster. Einige drückten dem Nachbar die Hände, als wollten sie Abschied nehmen; doch blieben sie, jeder auf seinem Platze, stehen. Das Singen begann aufs neue und wurde laut bis zum Heulen, die Bewegungen immer unbändiger. Wohl fünf Minuten lang warfen sie den Oberkörper seitwärts nach links und rechts; dann ebensolange nach vorn und hinten, so daß da und dort ein Turban abfiel, und die Schöpfchen auf den kahlen, glattrasierten Schädeln wild in der Luft flatterten. Vier der Leute, die unter einem besonderen Gelübde standen, hatten Mähnen, wie aufgelöste Frauenhaare und warfen sie wechselweise bei jedem ›Lailaha‹ nach hinten und nach vorn, so daß sie aussahen, wie die zerfetzten Fittiche eines schwarzen Adlers, der sich im Todesringen zerschlägt. Wuchtig schob sich jetzt der ganze Ring vorwärts, in langsamer Drehung von links nach rechts; unruhig flackerten die Lichter auf dem Maste; eine der großen Wachskerzen war erloschen. Eine wilde unverstandene Bewegung schien durch die ganze Luft zu gehen.

In diesem Augenblick sprang ein großer schwarzbrauner Mann in weißem Burnus mitten in den Kreis, warf den Mantel zur Erde und fing laut an zu schreien: Allah – Allah – Allah, allah, allah, la, la la la, fünfzig-, hundertmal la la la in immer schnellerem, sich überstürzendem Tempo wiederholend. »Mesched! Mesched!« – »Hilfe! Hilfe!« rief der Vorsänger dazwischen, das Allah des Wütenden übertönend, während der ganze Ring sich nichts um diese Szene zu kümmern schien und unbeirrt sein La ilaha-Schreien fortsetzte. Buchwald starrte fast entsetzt in die verzerrten Züge des sich in Krämpfen windenden Beduinen, der ihn von Zeit zu Zeit mit irren Gegenblicken streifte. Er stand nur sechs Schritte von ihm. Es war kein Zweifel: er kannte den Mann: Hassan, den Imam von Kafr.

Buchwald war kein Feigling, aber ein Schauer rieselte ihm über den Rücken. Es war etwas so Fremdes, so Unerklärliches, diese Gewalt, die den Mann hin- und herwarf; diese Mischung von Verzückung und Haß, die aus den weißen Augen, aus dem fast schwarzen Gesicht nach ihm herüberblitzte.

Allah, Allah la la la la!

Der Schaum trat dem Mann auf die Lippen. Plötzlich erstarrte sein ganzer Körper; er rang keuchend nach Atem und schloß die Augen. Dann öffnete er sie wieder wie irr nach den Sternen suchend. Da fiel sein Blick auf Sakuntala. Ein wundermildes Lächeln flog über die verzerrten Züge; es war als ob das Bewußtsein wie mit einem Schlag zurückkehrte. Er richtete sich hoch auf; eine prächtige Bildsäule mitten im Tosen der Derwische. Dann sanken seine erhobenen Arme schlaff herab. Sein Körper stürzte vornüber. Er hätte mit der Stirn auf den Boden geschlagen, wenn nicht der Vorsänger mit einem Sprung an seiner Seite gewesen wäre und ihn aufgefangen hätte. Sanft, wie die Mutter ein Kind anfaßt, legte dieser die leblose Gestalt auf die Erde. Es war all das eine bei einem guten Sikr gewöhnliche Erscheinung. Der Imam war ›mebus‹ geworden. Gott hatte ihn heimgesucht.

Die Derwische schrien fort, wilder und wilder: »La ila ha illallah!« Aus der Menge der Umstehenden antwortete jetzt da und dort ein lautes »Allahu«. Hinten bei der Moschee fing ein gemeiner Soldat, in der Uniform der ägyptischen Kamelsreiter, dort drüben, bei dem Stand des Scherbetverkäufers, ein alter weißbärtiger Händler das »Allah, Allah, la, la, la« zu schreien an und drängte sich durch die Menge, um noch in den Ring zu kommen, ehe der Anfall sich vertobt hatte.

Sakuntala stand mit sichtlicher Anstrengung auf.

»Gehen wir!« sagte sie dumpf zu Buchwald, ohne imstande zu sein, das Auge von dem noch immer regungslos daliegenden Imam abzuwenden.

Fräulein Schütz saß noch auf ihrem Korbbänkchen, wiegte den Kopf hin und her und flüsterte »Allah, Allah la la la«. Dann sprang sie plötzlich auf und warf sich mit einem Schrei in die Arme des entsetzten Fritschy. Sie war offenbar nicht mehr bei sich, riß sich wieder los, und begann zu schluchzen. Der Dragoman nickte verständnisvoll mit dem Kopf. O'Donald, ebenfalls nicht wenig erschrocken, bot ihr seinen Arm, und so, Fritschy auf der einen, den Prokuristen auf der andern Seite, drängten sie sich aus dem Gewühl.

Nach wenigen Minuten befand sich die ganze Gesellschaft in der mondbeglänzten Stille der mittleren Esbekiye. Über dem Festplatz, aus dessen einförmigem Brausen man nur noch das dumpfe Schlagen der Trommeln und das rhythmische Händeklatschen der alten, verbotenen Tanzweisen hörte, lag es wie roter Nebel, düster und blutig. Alle atmeten auf, als sie sich wieder auf dem Weg zu Shepheards Hotel zurechtfanden, wie man Atem holt, wenn man aus den feuchtwarmen Gängen eines Bergwerks ans Tageslicht tritt. Fräulein Schütz schämte sich nicht wenig, aber sie lachte wieder. Fritschy lachte nicht, obgleich er sich auch schämte. Er fühlte, daß er nicht weit davon gewesen war, ebenfalls mebus zu werden. Mesched! Mesched! klang es ihm noch immer in den Ohren.

 

Auch in Schubra stand am folgenden Morgen alle Arbeit des Pflügens und Säens, des Grabens und Bauens, des Schmiedens und Schlosserns still. Die Fellachin liefen scharenweise nach Kairo, und die Schmiede und Schlosser stolzierten in neuen safrangelben Schuhen müßig und feierlich durch das Dorf. Den Fellachin folgend ritt ich nach Kairo, um zunächst bei Shepheard anzufragen, ob jemand meiner dortigen Freunde Lust habe, das Doseh anzusehen, jenes weltbekannte und noch immer merkwürdigste Schauspiel, das sich an das Geburtsfest des Propheten knüpft. Ich fand den kleinen Kreis um Ben Thinker noch beim Frühstück, jedoch nicht in der rosigsten Laune. Herr Ben wollte von dem ›Unsinn‹ nichts wissen, der seinen Mädchen den Kopf schon genügend verdreht habe. Solchen Verrücktheiten nachzulaufen! Ich, ein Ingenieur! Er verstehe mich nicht. Überhaupt! –

In dem ›Überhaupt‹ lag ein schwerer Vorwurf. Ich hatte die Unvorsichtigkeit begangen, teilnehmend nach Herrn Joe zu fragen.

»Und Sie, Fräulein Schütz?« wandte ich mich an die Ex-Gouvernante, »interessiert Sie das Wunderbarste, was man in Kairo sehen kann, ebenso wenig? Es ist einer der seltenen Fälle, bei denen es sich, wenigstens scheinbar, um die Aufhebung der Schwerkraft handelt.«

»Dummes Zeugs!« schaltete Ben ein.

»Wird dabei geallaht?« fragte sie, von ihrem Buch, der Geschichte der Mamelukensultane, aufsehend.

»Und wie!« antwortete ich, in der Hoffnung, dadurch vielleicht auch Miss Sakuntala zu bestimmen. Der Gedanke an meinen Freund Buchwald war völlig wirkungslos. Ich konnte diese liebliche Gestalt, dieses träumerische Gesicht, diese tiefblauen Augen unter der schmalen reinen Stirne und dem rabenschwarzen Haar nicht sehen, ohne daß mich alle Entsagung zu verlassen drohte. Übrigens war es ja harmlos, indische Prinzessinnen aufs heimlichste zu verehren.

»Dann nie – nie in meinem Leben!« rief Fräulein Bertha leidenschaftlich. Glücklicherweise hatte mir Fritschy auf der Veranda mit noch immer verstörter Miene erzählt, was sich ereignet hatte, so daß ich keiner weiteren Erklärung bedurfte.

»Sie müssen die Sache nicht zu ernsthaft nehmen«, tröstete ich sie. »Das hat schon starke Männer gepackt, wie Ihnen O'Donald bestätigen kann. Es liegt in der Luft des Morgenlandes, die wir alle erst hier atmen lernen.«

»Nie mehr in meinem Leben!« wiederholte sie unerbittlich. »Überdies: Wir müssen uns ausruhen für den Abend. Sakuntala auch. Wir haben Nerven wie vernünftige, wohlerzogene Wesen. Wer weiß, wie lange auf einem türkischen Ball getanzt wird. Und dann die Masken! Wir haben alle Hände voll zu tun!« – –

Ich hatte das Doseh einmal, aber in Gesellschaft einer Schar schnatternder europäischer Gänschen gesehen, die mir die Stimmung gründlich verdarben. Diesmal wollte ich es ernsthafter nehmen, aber doch nicht ganz allein gehen, schon weil vier oder sechs Augen mehr sehen als zwei, wenn sie einigermaßen zusammenpassen. Ich ritt deshalb zu Buchwald, den ich neben Joe Thinker vor seiner Staffelei traf.

Das große Bild machte Fortschritte. Von der Technik der Malerei verstand ich zu wenig, um mir hierüber ein Urteil zu gestatten. Man kann dies zur Not entbehren, denn in der Technik wird nie der wahre Wert eines Kunstwerks liegen. Der Eindruck aber, den der riesige Pyramidenbau machte, auf dem es wimmelte wie über einem Ameisenhaufen, war packend. Dabei hatte jedes der hundert Figürchen eine ausgeprägte Physiognomie, jede Gruppe einen bestimmten Volkscharakter, als ob die ganze Menschheit an dem Bau mitgearbeitet hätte und doch lag über dem ganzen jene einheitliche Ruhe, die jedem wahrhaft großen weltgeschichtlichen Vorgang zukommt, so stürmisch bewegt er im einzelnen erscheinen mag. Die Gestalt des Pharao, der das große Werk leitet, und wie ein Prophet in Demut seine Eingebungen von oben erwartet, während er nach unten mit zermalmender Festigkeit seine Sklaven beherrscht, atmete trotz dieser Doppelseitigkeit seines Wesens eine Wahrheit, die ich hinter der Kraft und dem Verständnis meines Freundes Buchwald nicht gesucht hätte. Oder hat vielleicht ein Künstler auch seine Eingebungen, die er wiedergibt, ohne sie eigentlich zu verstehen? – Herr Joe war trotz allem nicht zufrieden. Der Erbauer der Pyramide war ihm nicht halb gottähnlich genug. »Er vermag es eben nicht zu fassen«, klagte er mir, Buchwald wehmütig auf die Schulter klopfend, »um was es sich in Wahrheit bei diesem Bau gehandelt hat. Man muß sich vor allen Dingen klar machen, wie der heilige Johannes ausgesehen hat, als er mit seiner Adlerfeder die Offenbarung niederschrieb.«

Buchwald war bereit, mich zu begleiten. Er konnte noch immer neue Modelle für seine Arbeiterscharen brauchen und jeder Volksauflauf lieferte ihm Stoff zu seinem Bild. Joe schloß sich gerne an, wenn er sich auch nur zerstreuen wollte. Eine Berechnung bezüglich der Eklipse und der neuentdeckten Luftkanäle in der Kammer der Königin, auf die er große Hoffnungen gesetzt hatte, war nach dreitägiger harter Arbeit fehlgeschlagen: sie hatte das Gegenteil von dem ergeben, was er vorauszusehen geglaubt hatte. Er war deshalb in einer Stimmung, in der man zu allem bereit ist, selbst zur Sünde, fremden Göttern zu dienen.

»Haifa!« rief Buchwald, seine Pinsel zusammenwerfend. Aber es kam keine Antwort.

»Es ist ein Elend mit dem Menschen«, seufzte er, »man gewöhnt sich an alles. Sie hielt mein Malzeug in Ordnung wie einen Juwelenladen. Seit gestern ist sie verschwunden. Nun stehe ich hier und kann meine Pinsel selber waschen. Die kleine Katze fehlt mir förmlich.«

»Du hast kein Talent für Einsiedelei!« sagte ich lachend. Dann gingen wir.

Der Zufall begünstigte uns über Erwarten, obgleich Joe alles erdenkliche Unheil für den Tag vorhergesagt hatte. Als wir aus dem düstern Seitengäßchen in die Muski eintraten, riß uns sofort der Strom eines Menschengedränges fort, wie es nur in einer Straßenenge Kairos und unter Menschen möglich ist, die in der Mehrzahl barfuß gehen und mit einem Baumwollhemd bekleidet sind. Am oberen Ende der langen Straße, wo sie sich in den innersten Gassen der Altstadt verliert, erschien in diesem Augenblick trommelnd und pfeifend, schreiend und singend die große Prozession der Saadiyederwische, die, zahllose Banner schwingend, mit lautem Jauchzen auf uns zukamen. In ihrer Mitte ritt auf einem kleinen weißen Pferde ihr Schech, der zugleich das Amt des Hauptpredigers an der berühmtesten Moschee Kairos, der Gama el Hassanen, bekleidet. In einer Hausnische geborgen konnten wir den größeren Teil des unordentlich, aber rasch dahinströmenden Zuges an uns vorübergehen lassen, bis wir uns dem frommen Reitersmann gegenübersahen. Es war ein kleiner Herr mit schneeweißem Barte, kleinen Mausäuglein unter gewaltigen weißen Augenbrauen und einem blassen Gesicht voll gewinnender Freundlichkeit. Sein Turban war grün, der fast das ganze Pferd mit bedeckende Burnus weißlich gelb, und das Pferd, ein Araber aus alter, guter Familie, weiß wie Schnee. Das Tier wurde von zwei weißgekleideten Saisen sorgfältig am Zügel geführt, während sich Hunderte herandrängten, um es zu berühren, oder die Steigbügel des Schechs zu küssen. Er selbst schien dies kaum zu bemerken, denn er saß völlig regungslos, beide Hände über dem hohen Sattelknopf gekreuzt, in dem thronartigen Sattel. Seine Lippen zitterten, seine Augen waren rot, wie wenn er geweint hätte. Die Lider waren minutenlang geschlossen. Nur selten schlug er sie auf und sah dann gen Himmel, als ob ihn diese Erde nichts mehr anginge.

Tobend wälzte sich der Zug aus der Muski und bog dem südlichen, arabischen Teil der Esbekiye zu, nach links ab. Von allen Seiten kamen Trüpplein von Derwischen der verschiedensten Orden, mit ihren Bannern in allen Farben, die meisten buntgestickt, mit Gebeten und Koransprüchen bedeckt. Auch der Lärm wurde mannigfaltiger. Trommeln und Pfeifen, und ganze Musikbanden arbeiteten sich ab, die Aufregung des Volkes zu schüren, das sich in einer goldschimmernden Riesenstaubwolke jetzt langsam vorwärts wälzte. Man war kaum noch hundert Schritte vom Ziel, dem Hause des Schech el Bekri entfernt.

Hier hielt die Prozession. Mit Mühe und vielem Geschrei gelang es, vor dem Pferde des Schechs etwas Raum zu schaffen. Das Gedränge war fürchterlich, in dem wir drei Ungläubige staken, und obgleich uns niemand zu beachten schien, war es doch nicht unangenehm, über zehn Turbane hinweg Ibrahim ben Musa zu entdecken, der sich wacker zu uns durchdrängte. Da und dort hörte man jetzt einzelne Rufe: ›Allah, Allah‹, wie sie gestern und seit zehn Nächten an dieser Stelle zu wildem Brausen angeschwollen waren. Unmittelbar vor dem Schech, in dessen Nähe wir uns zu halten wußten, warfen sich drei, vier, dann ein Dutzend, dann immer mehr, fünfzig, sechzig Männer mit dem Gesicht nach unten neben einander auf die Erde, streckten die Beine und legten den Kopf auf die übereinandergeschlagenen Arme. Sie brauchten nicht viel zu rücken, um einen soliden, mit Menschenleibern als Schwellen gepflasterten Weg zu bilden. Wo sich noch eine Lücke zeigte, warf sich mitten durch das Volk brechend, oder von den Nächststehenden geschoben ein Fellah, ein Wasserträger, ein Derwisch neben seine Brüder. Die Zuschauer, die sich bis an die nackten Fußsohlen und die beturbanten Köpfe herandrängten, bildeten zwei dichte Menschenmauern, zwischen denen sich die lebendige Gasse hinzog. Am oberen Ende derselben wartete der betende Schech auf seinem Pferde. Alles in nächster Nähe wurde jetzt still. Nur die Daliegenden murmelten ohne Aufhören in die Ärmel ihrer Kaftane: Allah, Allah, Allah; so daß ein tiefes Murmeln, ein sanftes Rauschen aus dem lebendigen Boden zu kommen schien. Dann liefen zehn Derwische, auf kleine Trommeln schlagend und laut nach Allah rufend, rasch die Gasse entlang.

Und nun kam das von den Saisen geführte Pferd des Schechs heran. Auch die Lippen des Alten flüsterten jetzt unaufhörlich Allah! Allah! während das Pferd mit ängstlicher Vorsicht den rechten Vorderhuf auf den Rücken des ersten Mannes setzte. Es fühlte den weichen, lebendigen Grund und zog den Fuß wieder, wie erschreckt, zurück. Die Saise standen schon, der eine auf dem Kopf, der andere auf den Beinen des dritten Mannes, zogen an den Zügeln und sprachen dem klugen Tiere freundlich zu. Es versuchte das Experiment mit dem linken Vorderfuß. Allah, Allah, Allah! murmelte der Mann unter seinem Hufe, heftiger betend; aber noch immer wagte das Tier nicht, aufzutreten. Jetzt wurde es von hinten erst von zwei, dann von sechs Derwischen geschoben. Auch der Schech neigte sich nach vorn und klatschte es sanft auf den Hals. Nun trat es auf. Nun war es mit allen vier Beinen auf den ersten vier Leibern. –

Allah! Allah! Allah! – Der kleine feierliche Zug durch die lebendige Gasse setzte sich in Bewegung.

Allah! Allah! Allah! – Dazwischen ein leises Stöhnen – ein Röcheln – ein unterdrückter Schrei. –

Allah! Allah!

Jetzt aber erstickte wilder, wachsender Lärm das feierliche Gemurmel. Hinter dem Pferde sprangen Mann um Mann, schreiend, ächzend, jauchzend, die getretenen Gläubigen in die Höhe und warfen sich unter die Volksmenge, von Freunden und Verwandten umarmt und beglückwünscht, wenn sie noch jubeln konnten, rasch auf die Seite geschleppt, wenn einer, nach Luft schnappend, ernstlich verletzt schien. Dies galt als Beweis, daß er sich nicht mit reinem Herzen und Gewissen zum Doseh gedrängt hatte. Denn der wahrhaft Gläubige, erklärte Ibrahim im Tone unerschütterlicher Überzeugung, fühlt den Huf des Pferdes kaum. Der Irrende, der Sünder kann daran sterben, wenn er von Reue nichts weiß. Der Ungläubige wäre des Todes sicher. Doch kommt derartiges nie vor. Denn wo würde der Unwürdige den Mut hernehmen, sich dieser Prüfung zu unterwerfen?

Der Schech war am Ende des wohl hundert Mann langen Pfades angelangt. Die Gasse, deren lebendiger Boden sich hinter seinem Pferd lärmend erhoben hatte, war verschwunden. Der ganze Platz hatte sich in eine wogende, brausende Menschenmenge verwandelt, über der im grellen Mittagssonnenlicht hundert Fahnen wallten und die, wie mir schien, aus tiefstem Herzen Gott lobte, daß das Doseh vorüber war. Fast unbemerkt war der geistliche Reiter samt seinem Pferd und wohl fünfzig Derwischen seines Ordens unter dem Torweg verschwunden, vor dem das Doseh sein Ende erreicht hatte. Das Volk umstand jetzt das Haus des Schech el Bekri und wartete auf die Rückkehr der Saadiyes. Es bringt Glück, den Blick des alten Herrn zu erhaschen, wenn er mit dem Segen des Meisters aller Derwische auf dem Haupte heraustritt.

Meine Bemühungen, mit meinen Freunden in das Innere des stattlichen alten Hauses nachzudrängen, schienen anfänglich aussichtslos. Freundlich aber unerbittlich wurden wir von den Boabs des Schech el Bekri daran erinnert, daß wir bei diesem Fest nichts zu tun hätten. Was den Ungläubigen zu sehen vergönnt war, hätten wir gesehen. Erst als ich mich in meinem besten Arabisch auf Halim Pascha berief, dessen vielgeschätzter Diener ich sei, ließ man uns durchschlüpfen, und nur ein schwarzbrauner Derwisch, der ebenfalls zurückgewiesen worden war, wünschte: »ein Salzkorn in das Auge derjenigen, die den Propheten nicht segnen!« hinter uns her.

Im kleinen halbdunkeln Hof des Hauses war der Schech abgestiegen. Es war köstlich kühl und still hier, nach dem Tumult, der Hitze und dem Staub auf dem Platze draußen. An der schattigsten Stelle der Ostwand befand sich eine Mauernische, welche die Gebetsrichtung gegen Mekka andeutet. Dort saß der alte Herr bereits auf einem Gebetsteppich, einen Rosenkranz in den Händen, unablässig leise murmelnd, während Tränen aus seinen halbgeschlossenen Augen in seinen Bart rieselten. Vier Imame zu seiner Rechten, vier zur Linken hatten sich an seiner Seite niedergelassen. Alle erhielten nach einiger Zeit von zwei alten Dienern ein Täßchen Kaffee, das sie dankend in die Hand nahmen, aber nicht berührten. Vom Schech el Bekri, dem der Besuch galt, war nichts zu sehen. Dieser, behauptete Ibrahim, der von tiefster Ehrfurcht ergriffen war, betet jetzt auf dem Dache des Hauses für seinen Bruder. Alle übrigen Personen standen in tiefem Schweigen, einen Halbkreis bildend, um die Gruppe unter der Gebetsnische. Hinter denselben fand sich zu meiner Beruhigung auf einer umgestürzten alten Säule ein ziemlich verstecktes Plätzchen für die drei Ungläubigen, für die ich mich verantwortlich fühlte.

Nach zehn Minuten traten sechs Derwische aus dem Halbkreis vor den Schech. Jeder derselben war mit einer kleinen Handtrommel ausgestattet, die er mit einem Lederstreifen schlug, während alle, einen Sikr beginnend, bei jedem Schlage Allah hei; Ja hei – Gott ist lebendig; o Lebendiger – riefen und sich nach links und rechts verneigten. Ein pechschwarzer Nubier und ein Tscherkessenjunge, weiß wie ein europäisches Mädchen stürzte sich in den Kreis und begann das tolle Allah, Allah la la der von Gott Heimgesuchten, bis beide, zuerst der Neger, dann der Tscherkesse zu Boden stürzten und noch immer Allah stöhnend sich vor die Füße des Schechs wälzten. Niemand schien sie zu beachten. Der Sikr, ruhiger und würdiger, als der in der gestrigen Nacht, nahm seinen Fortgang und kam zu Ende mit dem wohl hundertmal wiederholten sanften Ruf »Ja daim!« O Ewiger. – Nun ging die ganze Versammlung am Schech vorüber und küßte ihm die Hand, worauf er mit seinen acht Begleitern in feierlicher Stille unter einem Pförtchen verschwand, das nach den oberen Gemächern des Hauses führte. Die öffentliche Feier hatte ihr Ende erreicht.

Es galt jetzt, sich eine Gasse durch die wogende Volksmenge zu brechen, die noch immer mit lärmender Geduld – eine orientalische Eigenschaft, die in Europa fast unbekannt ist – vor dem Hause des Schech el Bekri wartete. Weniger das drohende Geschrei Ibrahims, als die Ellbogen und der sanfte Druck von Buchwalds Rücken, der Gläubige und Ungläubige ineinander schob, brachte das Wunder fertig. Noch ein paar Schritte und wir hatten glücklich den fast menschenleeren Teil der mittleren Esbekiye erreicht.

Joe Thinker, der alles schweigend beobachtet hatte, seufzte jetzt auf und sagte fast traurig:

»Da haben wir es wieder einmal gesehen, was der Glaube vermag, auch der unsinnigste. Es war ein wirkliches Pferd, das auf die Leiber der Unglücklichen trat: es waren wirkliche Tränen, die über die Wangen des alten Schechs liefen.«

»Und es war der wirkliche Gott, den sie anriefen«, sagte ich, etwas ärgerlich. Ich hatte in diesem Punkt meine eigenen Gedanken.

Joe sah mich strafend an. Dann sagte er mild: »Darüber ließe sich streiten.« Sein Blick aber sagte deutlicher als Worte: »Nicht mit Ihnen. Schließlich sind Sie doch nur ein Ingenieur, und ein Deutscher. Wer weiß, ob Sie die Fähigkeit besitzen, auch nur an die Offenbarungen der Pyramide zu glauben.«

Ich mußte ihm die Antwort schuldig bleiben, denn in diesem Augenblick stürzte plötzlich Buchwald vorwärts, einer Gruppe von Leuten zu, die zwanzig Schritte vor uns hinter einem riesigen Busch von Kaktusbirnen halb verborgen war.

Auf dem Boden ausgestreckt lag ein Mann, scheinbar ein Fellah, in langem kaftanartigem Hemd. Der Turban war ihm abgefallen. Sein Kopf ruhte im Schoß eines verschleierten arabischen Weibchens. Vor ihm kniete eine europäisch gekleidete Dame. Auch ihr war der Hut vom Kopf geglitten. Sie drückte, allem Anschein nach ängstlich erregt, ein weißes Taschentuch abwechselnd auf Mund und Schläfe des besinnungslos Daliegenden.

Es war Sakuntala. Neben ihr stand Fräulein Schütz mit einem Fläschchen in der Hand, hinter ihr O'Donald und Fritschy. Die Herrn, von der ganzen Szene wenig erbaut, trugen jene Hilflosigkeit zur Schau, die den meisten Männern derartigen Samariterdiensten gegenüber eigen ist.

»Aber was um Himmels willen macht Ihr hier?« fragte Joe erschrocken, indem er ebenfalls ein Fläschchen hervorzog. Es enthielt Whisky, den er als treuer Sohn seiner schottischen Heimat für alle Fälle der Not mit sich führte.

Sakuntala hatte keine Zeit zu Erklärungen. Sie goß wieder einige Tropfen aus Berthas kleinem Kristallbehälter auf ihr Taschentuch und drückte es auf das Gesicht des Ohnmächtigen. Es war ein dunkelbrauner, aber fast klassisch schöner Kopf von ursprünglich finstern trotzigen Zügen, die jetzt in ihrer Hilflosigkeit eine unbeschreibliche Schwermut ausdrückten.

»Hassan!« rief Buchwald, fast entsetzt.

In diesem Augenblick schlug die kleine Araberin, die den Kopf des Mannes in ihrem Schoße hielt, die Burka zurück und sah ihn mit großen Augen an. Es war Haifa.

Fräulein Schütz aber begann hastig flüsternd zu erklären:

Sie hatten sich im Hotel gelangweilt, nachdem die Masken für den Abend besorgt waren. Das Doseh wollten sie ja eigentlich nicht sehen, aber sie konnten sich nach dem Lunch auf den Weg machen, um Onkel Joe zu suchen. Herr O'Donald und Fritschy erboten sich, sie zu begleiten. Dann aber hätten sie weder Herrn Joe noch den Dosehplatz gefunden: das Gedränge war zu toll. Und auf dem Rückweg habe sie das Stöhnen des Mannes und das Klagetrillern der Kleinen in das Gebüsch gelockt. Der Mann sei – so erklärte es Herr O'Donald – von dem Pferd des Schechs bös getreten worden. Miss Sakuntala habe eine Essenz bei sich gehabt – man hätte ja doch vielleicht auf das Doseh stoßen können –, die in Indien die Toten lebendig mache, und da seien sie nun daran, ihre Wirkung an dem armen Menschen zu versuchen.

Sie lächelte kopfschüttelnd. In diesem Punkt waren die Freundinnen offenbar nicht ganz gleicher Ansicht.

Buchwald war neben dem Manne niedergekniet. Sakuntala richtete sich in die Höhe.

»Ich fürchte, er hat ein paar Rippen gebrochen«, sagte der Maler. Seine anatomischen Studien gestatteten ihm, den Fall nicht ohne Sachverständnis zu beurteilen.

»Es wirkt!« flüsterte Sakuntala und stand auf.

In der Tat: der Imam öffnete die Augen. Haifa beugte sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung über ihren Bruder und küßte seine Stirne. Die Besinnung schien dem Daliegenden noch nicht zurückgekehrt zu sein. Die weitoffenen Augen starrten, wie seelenlos, gerade aufwärts, in das Blau des Himmels. Dann kam ein leises Stöhnen.

»Bitte, drücken Sie ihm das Taschentuch noch einmal auf den Mund«, bat Sakuntala und Buchwald gehorchte.

Jetzt fiel der Blick Hassans auf den Maler und wie wenn ein elektrischer Schlag den Mann getroffen hätte, fuhr er in die Höhe. Der Beduine war wieder da, lebendig genug.

Da sah er Sakuntala. Sie kannte diesen Blick. Es war derselbe, der sie gestern Nacht getroffen hatte, ehe Hassan in der Mitte des Sikrs zu Boden gestürzt war. Ein Blick voll Sehnsucht, voll heißer Liebe, voll Ergebung; ein Blick in eine andere Welt, die der Mensch nie erreichen konnte.

Ob er an sein Paradies dachte? Er schloß die Augen wieder. Die geballten Fäuste lösten sich und der Kopf sank zurück in Haifas Schoß.

»Kommen Sie«, sagte O'Donald ungeduldig. »Wir können hier wirklich nichts mehr tun. In ein paar Tagen ist der Kerl wieder so gesund wie der Fisch im Wasser. Ich kenne das. Sie sind wie die Katzen, diese Fellachin.«

»Komm, mein Kind!« sagte Onkel Joe und nahm Sakuntalas Arm. »Ich glaube, dort kommen seine eigenen Leute.«


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