Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als sie mit ihrem Raube den Tanzsaal erreichten, fanden sie dort schon zahlreiche kleine Gruppen, die, um ein ähnliches Beutestück geschart, sich friedlich und fröhlich darein teilten. Die Ruhe der Erschöpfung und die Befriedigung eines harterkämpften Sieges lag auf allen, während oben auf den Galerien die Musik einsetzte und in feierlicher Weise den Krönungsmarsch aus dem Propheten anstimmte. Langsam füllte sich der Saal wieder. Plaudernd spazierten Herren und Damen auf und ab, während sie sich lachend oder murrend die Abenteuer der letzten Stunde erzählten. Der eine konnte nicht genug rühmen, wie fett die Austern, wie mild der Gazellenbraten gewesen war, die andern berichteten jammernd, daß sie sich mit einem Senftopf oder einer leeren Bouillontasse hätten begnügen müssen. O'Donald bat Joe, sich vorsichtig umzuwenden und nach hinten zu sehen. Dort saß auf dem Boden, im Schatten eines mit Palmen bemalten Kaminschirms, das Rotkäppchen seinem Wolf gegenüber. Zwischen ihnen stand eine halbgeleerte Flasche Champagner. Fräulein Schütz war im Begriff, die Hälfte einer wuchtigen Gänseleberpastete in ihr Körbchen zu packen, während Fritschy, das Sektglas sinnend in der Hand haltend, der hausmütterlichen Arbeit mit andächtigem Ernst zusah. Joe lächelte. »Es hat etwas für sich, eine Genossin um sich zu haben«, sagte er, fast so nachdenklich wie Fritschy.

Jetzt spielte die Janitscharenmusik einen Straußschen Walzer, und da und dort begannen tanzfrohe Pärchen vorbereitend zu schaukeln.

»Wo Miss Sakuntala sein mag«, fragte O'Donald. »Sie ist mir einen Walzer schuldig und die blaue Donau ist gerade gut genug für mich, wenn ich den Trauermarsch aus Saul nicht haben kann.«

»Dort drüben steht mein Bruder, der es wissen sollte«, versetzte der Doktor. »Ich habe sie auch seit einer Stunde nicht gesehen. Er ist rücksichtslos gleichgültig gegen seine Mündel, finde ich. Das sind die Folgen davon, wenn man sich von Ideen niederer Gattung völlig aufsaugen läßt.«

»Er weiß, daß sie auf eigenen Füßen steht«, entgegnete der Prokurist, »und hat den Kopf zu voll von Wasser. Sie ahnen allerdings nicht, wie wichtig dies in Ägypten ist. Kennen Sie den Herrn, mit dem er sich unterhält?«

»Osman Effendi, immer Osman Effendi! Was er bei dem halbreifen Jungen sucht? Eine zweite seiner Unbegreiflichkeiten!«

»Ich meine nicht Osman«, sagte O'Donald. »Betrachten Sie den andern aufmerksam, bitte; den älteren, dicken Herrn im Stambulrock, mit seinen zwei Sternen. Das ist Osmans Papa, Sadyk Pascha. Merken Sie noch immer nicht, wozu Ihr Bruder den Jungen braucht? Sehen Sie nur, wie sie ineinander hineinreden! Wenn das so fortgeht, lieber Herr Thinker, wird Sadyk ein Wasserschwärmer, und Ihr Bruder hat nächste Woche seine Audienz beim Vizekönig an der Hand des großen Mannes. Dann müssen Sie wohl oder übel Ihre Pyramidenträume einpacken.«

Thinker faßte den Afrit krampfhaft am noch übriggebliebenen Flügel und zog ihn in eine Fensternische.

»Halten Sie wirklich die Gefahr für so nahe?« flüsterte er aufgeregt.

»Hier in Ägypten ist alles möglich«, war die Antwort; »aber bitte, lassen Sie meinen Flügel los. Ich habe nur noch einen und ich stehe Ihnen gerne Rede und Antwort, so lange wir Miss Thinker nicht entdecken.«

»Sie kennen das Land, werter Freund«, drängte Joe; »Und sie wissen, was auf dem Spiel steht. Das größte, heiligste –«

»Ja; Sie haben mich über all das mehrfach unterrichtet«, unterbrach ihn der Prokurist; »aber ich bin der nutzloseste Taugenichts, wenn es sich um heilige Bauten handelt. An den Herrn dort drüben hätten Sie sich machen sollen, der heute, wie Allah, schützen und zerstören kann, was er will. Statt dessen haben Sie's mit unserem Konsul verdorben, der zur Not hätte Vorspann leisten können, haben Woche um Woche verstreichen lassen, und nun sitzen wir da!«

»Und Sie wissen kein Mittel, das Entsetzliche abzuwenden?« stöhnte Joe, mit verzweifelnden Blicken in den Saal hinausstarrend. »Wenn ich direkt zum Vizekönig ginge?«

»So einfach ist dies nicht«, sagte der Prokurist mitleidig. »Sie würden ausgelacht.«

»Wenn Sie –«

»Wo denken Sie hin! Ich würde meine Reputation als ein vernünftiger Finanzmann für den Rest meines Lebens einbüßen und schlimmer verhöhnt werden als Sie. Ihre Sache muß durch Sadyk gehen oder einen der königlichen Paschas, Halim vielleicht, Tussun. – An einen andern Weg habe ich wohl schon gedacht – aber – er ist unmöglich, fast unmöglich!«

»In der Lage, in die mich mein leiblicher Bruder gestürzt hat«, rief Joe, voll Bitterkeit, das Auge noch immer auf die Gruppe der drei Herren geheftet, die in eifriger Beratung begriffen schienen, »in meiner Lage darf ich keinen Versuch für zu verzweifelt halten, der dem Gang der Dinge Einhalt tun könnte, die sie dort drüben besprechen. O daß ich Ihnen die Bedeutung der Sache zum Bewußtsein bringen könnte!«

O'Donald hatte seinen einzigen Flügel sinken lassen und sah aus wie die Hoffnungslosigkeit selbst. Nur das leise Blinzeln in seinen Augen verriet, daß ein Gedanke in ihm arbeitete.

»Wollen Sie mich ruhig anhören?« sagte er nach einer Pause.

»Sprechen Sie, bester Freund, sprechen Sie!«

»Und nicht tun, als ob Sie mich und den ganzen vizeköniglichen Palast zerschmettern müßten.«

»Sie können mir nichts sagen, was ich nicht dankbar hinnehmen werde, wenn Sie mir einige Hoffnung machen können, das Entsetzliche abzuwenden. Werden Sie mein Retter!«

»Sie kennen Madame Geraldine?«

Joe starrte seinen Retter an:

»Die Tingeltangel-... die Ballettperson?«

»Die Künstlerin«, sagte O'Donald ernsthaft. »Die ganze Stadt behauptet, daß sie Sadyk Pascha um den Finger wickeln könne. Ich halte sie für ein kluges Persönchen, die keine Dummheiten macht – ohne triftige Gründe – und die Welt kennt. Ich möchte sogar behaupten, ihr Verhältnis zu unserm neuesten Potiphar ist ehrenhaft, in gewissem Sinne: so etwas Nichten- und Onkelhaftes. Man weiß, es gab verliebte Onkel in der Weltgeschichte.«

Der Prokurist wedelte lebhaft mit seinem linken Flügel. Er konnte das Vergnügen kaum verbergen, das ihm die Wendung des Gesprächs bereitete. Joe raffte sich auf.

»Nun?« fragte er.

»Geraldine kennt auch Sie. Erinnern Sie sich der Kuchenkügelchen, die sie Ihnen vor einigen Tagen zuwarf?«

»Herr O'Donald!« rief Joe, mit fast drohendem Ernste.

»Ich dachte mir's!« entgegnete O'Donald und ließ seinen Flügel wieder schlapp zur Erde sinken.

»Bitte, fahren Sie fort«, sagte der Doktor nach einer Pause, als ob er jede Silbe mit Gewalt herauspressen müßte.

»Wenn Sie jetzt schon beleidigt sind, Herr Thinker, hat es keinen Zweck fortzufahren«, entgegnete O'Donald gekränkt.

»O mein lieber Freund«, rief Joe, mit einem plötzlichen Ausbruch überwallenden Gefühls, »Sie wissen nicht, was ich für den großen Gedanken, dem mein Leben geweiht ist, zu dulden imstande bin.«

»Nun, Verehrtester, die Sache ist so tragisch nicht«, tröstete ihn der Prokurist. »Wenn Sie Madame Geraldine für Ihre Sache gewännen? Wenn die Künstlerin – Sie verdient wahrhaftig, so gut wie manche andere, als Künstlerin angesehen zu werden – Sadyk Pascha mit Ihren Wünschen bekannt machte? Es handelt sich ja zunächst nur um eine wohlvorbereitete Audienz beim Allerhöchsten. Wenn dann Sadyk, und so weiter, und so weiter. – Bedenken Sie, wir sind in Ägypten. Wir haben mit einem Hof zu tun, der seit kaum einem Jahrzehnt aus der Barbarei des Mittelalters heraustritt. Er befindet sich heute ungefähr im Zeitalter Ludwigs XIV, in etwas kleinerem Maßstab, mit orientalischem Behang. So sehe ich das Leben hierzulande an und bin nicht schlecht dabei gefahren. Wollen Sie ähnliches in Ihren Angelegenheiten erreichen, so müssen Sie den historischen Boden studieren, auf dem Sie stehen und, wo es unvermeidlich ist, sich danach einrichten.«

»So – sozusagen historisch – angesehen, gewinnt die Sache allerdings ein etwas besseres Aussehen«, sagte Joe nachdenklich. »Sie sind ein entsetzlich kluger junger Mann, Herr O'Donald, aber ich fürchte es wird mir nicht möglich sein, mich Ihrem achtzehnten Jahrhundert anzupassen.« –

»Achtung, jetzt kommt etwas!« rief der Prokurist, schlug heftig mit dem Flügel und stellte sich auf die Zehen. Die Türen des kleinen Speisesaals, die bisher geschlossen gewesen waren, flogen auf und Ismael Pascha, Lesseps am Arm führend, trat an der Spitze seiner glänzenden Tafelrunde in den Tanzsaal, über den die Klänge der neuesten ägyptischen Nationalhymne mit mächtiger Paukenschlagbegleitung hereinbrauste. Es war ein wunderliches Paar: die zierliche, ritterliche Gestalt des französischen Diplomaten und der kleine, fette Orientale, die beide, so lange sie lebten, sich zu überlisten bemüht waren und beide einer glänzenden Höhe zustrebten, hinter der, in ferner, aber sicherer Zukunft, ein tiefer Absturz lauerte. Ein behagliches Lächeln lag auf den Zügen des Vizekönigs, der mit listigen, halbgeschlossenen Augen nicht unfreundlich um sich blinzelte. Was ihn umgab: die lichtstrahlende Halle, die festlich geschmückten Gäste aus allen Himmelsgegenden des Morgen- und Abendlandes mußte seinem Ehrgeiz schmeicheln. Das war doch anders als in Stambul; hier war er Souverän und verteilte seine Huld, wie er wollte. Von Gruppe zu Gruppe gehend wechselte er mit diesem und jenem ein paar Worte. Auch bei Sadyk blieb er stehen und Joe beobachtete angstvoll jede Bewegung seines Bruders, der sich sichtlich vorbereitete, den Vizekönig am Rockknopf zu nehmen. Aber es kam nicht dazu. Der Fürst ließ Lesseps los, nahm Sadyk am Arm, winkte den Bankier Oppenheim herbei, eine Figur, die der seinen merkwürdig ähnlich war und ging mit beiden dem Ausgang zu.

Alles folgte, die Musik mochte Webers Aufforderung zum Tanz noch so hinreißend spielen. Dem Pro entsprechend, das auf allen Tischchen und Säulengesimsen umherlag, ging es jetzt nach dem sogenannten großen Kiosk, wo die verschiedensten Unterhaltungen eines nächtlichen Gartenfestes ihren Anfang nehmen sollten, ohne die Tanzlustigen in ihrem Vergnügen zu stören. Doch wer wollte tanzen, wenn Effendini nicht mehr zuzusehen geruhten? Auch die meisten Masken verschwanden und tauschten, der Anweisung des Programms weiter Folge leistend, ihre phantastischen Trachten gegen bequemere Anzüge ein, die sie in den Garderoben niedergelegt hatten.

Die Bilder, die der Kiosk im Innern und in seiner nächsten Umgebung bot, waren feenhaft. Park und Teiche strahlten im Licht von tausendfarbigen Lampen. Die zahllosen kleinen und größeren Gemächer erschienen wie die bedachte Fortsetzung eines tropischen Gartens, der durch Fenster und Türen eingedrungen war. Hier war nicht mehr zu befürchten, beim Pflücken einer Rose aus einem reizenden Bosquet in eine Kalkgrube zu stürzen oder beim Öffnen einer eleganten Portière auf eine Gruppe von Mauerleitern oder Zimmermalertöpfen zu stoßen. Das kleine Wunderwerk aus Guß- und Schmiedeeisen war fertig und zeigte, was unsere geschickte Zeit aus der Poesie der alten Baukünstler zu machen versteht; eine schwebende Alhambra aus zierlichen Säulen, durchbrochenen Wänden, geschnitzten Erkern, Nischen und Decken mit ihren hängenden Stalaktiten. Und den phantastischen Blumen, den üppigen Gewächsen, die sich an Säulen und Wänden emporrankten und aus jedem Winkel hervorquollen, sah man nicht an, daß sie noch vor wenigen Tagen aus allen Himmelsgegenden herbeigeströmt waren. Der stille große Teich draußen verriet nicht, daß er von einer in weiter Ferne keuchenden Pumpe nur mit der größten Anstrengung ein paar Stunden lang bis an den Uferrand gefüllt erhalten werden konnte. Das Ganze war so feierlich schön, daß das laute Schwatzen und Lachen der Hunderte, die sich jetzt über die Parkwege und die Zimmer und Zimmerchen des Kiosk ergossen, eine Zeitlang nur gedämpft weitersummte, bis sich die Gäste daran erinnerten, daß ihr königlicher Wirt wünschte, sie möchten sich hier zu Hause fühlen.

Bald fand auch jeder, was ihm das Angenehmste war. Um die Blumenbeete und auf den Gartenbänken saßen und standen kleine Gruppen in behaglicher Unterhaltung, Zigaretten rauchend und ihre Täßchen Kaffee schlürfend, welche schwarzbraune Diener auf riesigen Messingplatten in alle Winkel von Park und Haus trugen. In einigen Sälen saßen bereits still dampfende Türken und Araber, die nach dem unverständlichen Treiben im Tanzsaal glücklich schienen, die Ruhe eines Schibuk gefunden zu haben. In zwei halbrunden Zimmern erzählte mit näselnder Stimme ein Schaer seine nie veraltenden Geschichten von Abu Seyd oder von Es Zahir. In zwei andern sang ein Sänger die heißen Liebeslieder eines vergangenen Jahrhunderts, begleitet von der unergründlichen Musik eines arabischen Quartetts, aus Hackbrett, Geige, Laute und Flöte bestehend, wie man sie wohl noch in arabischen Kaffeehäusern älteren Schlages trifft. In einem unter Palmetten fast begrabenen Gemach im linken Flügel tanzten abwechslungsweise die drei berühmtesten Chawasi des Landes, die man aus Edfu verschrieben hatte, denn aus Kairo sind die alten Tänzerinnen seit Jahren verbannt. Trotz des verborgenen Eingangs und der eigentümlich düsteren Ausstattung des engen Raumes hatten sich hier auch Gäste aus Europa eingefunden, die sich gegenseitig versicherten, ausschließlich des Studiums alter Volkssitten wegen anwesend zu sein. Ein ähnlich verborgenes Gemach entdeckte die Spürnase O'Donald's nach kurzer Zeit auch im linken Flügel des Kiosk, wo zwei Roulettetische aufgestellt waren, an denen bereits eifrig gespielt wurde. Hier herrschte die vornehme Stille, die in den Spielsälen von Spa und Monaco üblich ist. Bemerkenswert war, daß, wie sich bei den arabischen Tänzerinnen drüben, die nur für das Ergötzen der Orientalen bestimmt waren, eine beträchtliche Anzahl bewundernder Franken eingestellt hatte, so hier, an den Spieltischen, die der Vizekönig für die Europäer hatte aufstellen lassen, eine ebenso große Zahl arabischer und türkischer Herren die Kultur des Westens studierten. Woraus Joe Thinker in trüben Gedanken den Schluß zog, daß sich die Menschen überall traurig ähnlich sehen, während O'Donald in derselben Tatsache einen gewissen Trost fand, soweit er eines solchen bedurfte.

Weniger erfreulich fand auch er es, daß Osman Effendi am ersten der Spieltische bereits in voller Tätigkeit war, und daß neben ihm Ben, der kluge, gesetzte Ben Thinker von Zeit zu Zeit ein Pfund Sterling auf den Tisch warf. Joe entfernte sich rasch, als er dies ebenfalls bemerkte. Er war zartfühlend genug, nicht zu wünschen, daß sein Bruder sehe, daß er ihn gesehen habe. O'Donald konnte sich nicht enthalten, einige Minuten länger den stillen Beobachter zu spielen. Die Roulettes waren nicht wie die ägyptischen in der Esbekiye mit 24, sondern wie richtige europäische Apparate mit 36 Nummern ausgestattet. Trotz der scheinbaren Ruhe wurde bereits hoch und ernsthaft gespielt. Ein Herr von vornehmer militärischer Haltung war der Bankhalter und die ganze Einrichtung machte den Eindruck, daß sie nur veranstaltet war, damit die Gäste kein Vergnügen missen sollten, das die orientalische Gastfreundschaft des Herrschers von Ägypten zu bieten vermochte. Doch schien die Mehrzahl der Spieler das Feine dieser Aufmerksamkeit kaum zu würdigen. Die unterdrückte Leidenschaft oder die unverhüllte Geldgier zeigte sich auf den meisten Gesichtern, und das in beträchtlichen Massen hin- und herwandernde Geld hatte seine Wirkung wie überall. Osman verlor, soweit der Prokurist bemerken konnte; Ben gewann, schob aber die Beute lachend seinem jungen Freund zu, der sie mit finstern Blicken wieder verspielte.

»Die alte Geschichte!« sagte O'Donald zu Joe Thinker, den er im Garten wieder einholte; »nur sind die Herrn um einen Schritt weiter gekommen, seitdem wir sie im Café français beobachteten. Osman beutelt Ihren verehrten Herrn Bruder aus, wie es der gewiefteste Hochstapler nicht besser tun könnte, und Ihr Bruder glaubt den kleinen Effendi in der Tasche zu haben, zu bekannten Zwecken. Hoffen wir, daß alles gutgeht. Nur sehe ich die Pyramiden mit dem Kopfe wackeln, das kann ich Ihnen nicht verhehlen. – Achtung! Es stellt dies eine Nacht der Überraschungen vor, in der es nützlich ist, Augen und Ohren bei sich zu haben.«

Sie waren im Schatten einer riesigen Palmettengruppe scharf um die Ecke gebogen und stießen fast mit Madame Geraldine zusammen, die, gefolgt von dreien ihrer französischen Freunde, lachend und plaudernd spazieren ging. Sie hatte einen seidenen weiß- und rotgestreiften Beduinenmantel über ihr Geisterkostüm geworfen und sah aus wie eine Königin von Saba. Hinter ihr trottete noch immer der kleine schwarze Cupido, stolz auf seine Würde, indem er seinen Pfeil als Spazierstock benützte. Halb ernsthaft verneigte sie sich vor Thinker, der verlegen den Hut zog, während sie O'Donald einen spitzbübischen Blick zuwarf.

»Wo ist Ihr Cherusker?« fragte sie, sich umwendend; nachdem sie schon aneinander vorübergegangen waren.

»Das müssen Sie die Götter dieses Parks fragen«, antwortete der Prokurist. »Wir suchen ihn selbst seit eine Stunde.«

»Ich sah ihn, dort unten am Nil, mit der Inderin«, sagte sie, rasch zu ihm tretend und ihn auf die Seite ziehend, während die Franzosen weitergingen. »Lassen Sie ihn mir nicht entwischen!«

»Cherusker sind schwer zu stellen.«

»Und – und –« fuhr die Künstlerin fort, ohne seine bedenkliche Miene zu beachten, »ich habe den Bleistift an meiner Tanzkarte verloren. Können sie mir den Ihrigen borgen?«

»Ein Afrit und ein Prokurist haben alles«, versetzte O'Donald. »Sie wollen noch tanzen?«

»Weiß nicht«, war die hastige Antwort, »aber andere sollen mir tanzen.«

Im nächsten Augenblick war sie mit ihren Franzosen verschwunden.

Indessen hatte Joe bessere Gesellschaft gefunden. Jubelnd, wie wenn sie nach jahrelanger Trennung ihren eigenen Onkel wieder gefunden hätte, flog Fräulein Schütz auf ihn zu; hinter ihr her Fritschy, scheinbar nicht weniger erfreut und noch immer in vollem Maskenanzug. Der Wolf hatte die größere Hälfte jener Champagnerflasche geleert, das Rotkäppchen die kleinere. Sie waren in der glückseligsten Stimmung, über deren Unerklärlichkeit sich Fräulein Bertha öfter aussprach. Das Feuerwerk soll jetzt gleich losgehen, berichtete sie. Wenn man nur wüßte, wo Sakuntala wäre. Herr Ben sei auch verloren gegangen und ihr Körbchen mit der Gänseleberpastete, die sie für Sakuntala mitgenommen habe, sei ebenfalls verschwunden. Aber es sei doch ein herrliches Fest und der Vizekönig ein prächtiger Herr und das Feuerwerk werde gleich losgehen.

Dies war richtig. Ein dichter Kreis von Zuschauern hatte sich schon erwartungsvoll um den großen Teich gesammelt. Auf einer riesigen Vase aus Zement fand Fräulein Bertha mit Hilfe Fritschys zu ihrer und ihrer Begleiter Freude noch einen ausgezeichneten Platz und wenige Minuten später stiegen die ersten Raketen am Nachthimmel empor, als wollten sie den Mond verschlingen, der ruhig und schweigend heruntersah.

Das Feuerwerk stammte aus Neapel. Man versteht diese Dinge in Italien. Bald flammte Himmel und Erde in allen Farben. Zischend und knallend regnete es Sterne und Kometen, flammende Garben und feurige Schlangen und das A und O der staunenden Gäste mischte sich mit dem Geknatter von Schwärmern und Rädern und dem dumpfen Knallen der auf dem See explodierenden Gondeln, zwischen denen blau und grün strahlende Schwäne still hin und her segelten.

Die Vorstellung sollte sich in zwei Abteilungen und zwölf Nummern abspielen, zwischen denen die Janitscharenmusik auf der andern Seite des Teichs einen betäubenden Jubellärm erhob und Fräulein Schütz, das Programm in der Hand, von ihrem Blumentopf herunter die kommenden Herrlichkeiten verkündete. Die Schlußnummer der ersten Abteilung, die auf die europäischen Gäste berechnet war, wurde mit dem lautesten Entzücken begrüßt. Über dem Teich, an einem in der Nacht unsichtbaren Gerüst, flammten plötzlich in allen Farben des Regenbogens die Worte: Ismael Pacha, Viceroi de l'Egypte régénerée. Nachdem dieselben über eine Minute lang ruhig gebrannt hatten, schossen aus den Buchstaben die Worte ›Ismael Pascha‹ mit wildem Geprassel hundert Blitze nach allen Seiten. Als dieses aufhörte, strahlte wieder die Inschrift ruhig aus dem Nachthimmel herab. Nur die vier Buchstaben des Wortes Vice waren erloschen. Der Zusatz hieß jetzt roi de l'Egypte und der Jubel der Zuschauer, namentlich der Herren Bankiers, kannte keine Grenzen. Die Araber allerdings, die das sinnige Spiel am nächsten betraf, hatten den Witz nicht verstanden. Er sollte ihnen in den kommenden Jahren bitter klar werden. Denn die Blitze kosteten ungezählte Summen, die das arme Volk herbeizuschaffen hatte, und mit dem Vice ist auch sein roi verschwunden.

Während sich in der Pause zwischen den zwei Abteilungen alles aufs lebhafteste über das Geschehene unterhielt und phantastische Hoffnungen auf kommende Genüsse austauschte, fühlte sich O'Donald an seinem linken Flügel, von dem er sich noch immer nicht trennen konnte, unsanft berührt. Es war Ben Thinker, der ihn hastig auf die Seite zog. War es das gelbe Licht einer bengalischen Flamme? – Er hatte Herrn Ben noch nie so verstört gesehen.

»Gott sei Dank, daß ich Sie endlich gefunden habe«, sagte er leise. »Wollen Sie mir einen Gefällen tun?«

»Gerne. Aber was ist's mit Ihnen? Sind Sie unwohl? Ist etwas Unangenehmes geschehen?« fragte O'Donald.

»Nein!« war die ungeduldige Antwort. »Aber ich weiß nicht, ob wir rechtzeitig fertig werden.«

»Mit was?«

Darauf antwortete Ben nicht, sondern fuhr fort:

»Wollen Sie meine Damen nach Hause begleiten, wenn sie zu gehen wünschen? Es ist dringend notwendig, daß ich heute abend frei bleibe.«

»Machen Sie keine Torheiten, Herr Thinker.« sagte O'Donald, mit ungewohnter Dringlichkeit.

»Torheiten? – wieso?« versetzte Ben heftig. »Sie sorgen für die Damen, nicht wahr? Das Schicksal meines Stauwerks – bei Gott, das Schicksal von ganz Ägypten hängt vielleicht an diesem Abend.«

»Für die Damen werde ich in diesem Gewühl von Ungläubigen sorgen wie ein Ritter aus den Kreuzzügen«, versicherte O'Donald pathetisch. »Heißt das: sobald ich sie beisammen habe – aber –«

Es war nutzlos, fortzufahren. Thinker war bereits wieder verschwunden und wie ein tausendstimmiges Hagelwetter prasselte ein Raketenschwarm gen Himmel, der den zweiten Teil des Feuerwerks einleitete. Während dasselbe seinen rauschenden Fortgang nahm und immer farbenprächtigere Bilder vor den staunenden Gästen entfaltete, spielte sich in dem dunkelsten Winkel das Parks ein Vorgang ab, von dem nur zwei kleine Kobolde in Menschengestalt das Tatsächliche wahrheitsgetreu erzählen könnten. Erst Wochen später, und Zug um Zug aneinanderfügend, gelang es dem Spürsinn O'Donalds, das rätselhafte Spiel jener Nacht aufzuklären. So und nicht anders, behauptete er, müssen sich die Dinge zugetragen haben:

Kurz, nachdem sich Madame Geraldine von Herrn Joe und dem Prokuristen getrennt hatte, schrieb sie, inmitten ihrer französischen Begleitung, mit von der Geistesarbeit tiefgefurchter Stirne einige Sätze auf die Rückseite ihrer Tanzkarte. Da die Worte gut deutsch, ja mehr als deutsch: ein Gemisch von wienerisch und steierisch mit etwas böhmisch waren, und die Franzosen keine Ahnung von dieser Sprache hatten, der Künstlerin aber trotzdem eifrig behilflich zu sein versuchten, so wurde das kleine Zwischenspiel für eine köstliche Komödie erklärt, die noch stundenlang in Ausrufen von unsinnigem Kauderwelsch nachspielte. Während die Franzosen sich in dieser Weise untereinander vergnügten, nahm Geraldine ihren schwarzen Cupido beiseite, löste das Rosaband, mit dem sie ihn bisher geführt hatte und befahl ihm mit vielen Gebärden und den wenigen arabischen Worten, deren sie mächtig war, den ganzen Garten abzusuchen und Buchwald, den der Kleine wohl kannte, die Karte einzuhändigen. Jetzt erst glättete sich ihre schöne Stirne wieder und lustig lachend ging sie mit den Franzosen zum Feuerwerk.

Der Cupido, ein gescheites, frühreifes Bürschchen, wie man es unter Negern nicht selten findet, verstand mehr von seiner Aufgabe, als man seiner Größe nach hätte vermuten können und tat sein Äußerstes. Er verlor seinen Köcher, er wurde von einem Herrn umgerannt und fast zertreten, er fiel in eine Sandgrube, aber er suchte noch immer vergeblich. Kein Wunder! Der Park war groß, Hunderte von Menschen wogten hin und her und an vielen Stellen, im Schatten von Gerüsten und Gerümpel aller Art war die Nacht pechschwarz.

Nun war vor einer Stunde ein Ereignis eingetreten, das nicht auf dem Festprogramm stand. Die Mauer, welche später den Park umgeben sollte, gehörte auch zu den noch unfertigen Teilen der ganzen Anlage. Da und dort war sie durch einen höchst mangelhaften Bretterzaun ersetzt, und vor diesen Lücken stand Kopf an Kopf die nicht geladene Gesellschaft, die Musik und Feuerwerk und eine Ahnung von all den Herrlichkeiten im Innern mitgenoß, so gut es ging. Der Nil wimmelte von Booten, welche die Bevölkerung von Bulak und Kairo zu diesem Zweck herübergebracht hatten. Die Leute sahen, mit großer Geduld, stundenlang nichts. Als aber das Feuerwerk seinen Anfang nahm, war die entzückte Menge nicht mehr zu halten. Trotz der durch die vizekönigliche Leibgarde schleunigst verstärkten Polizei drangen Hunderte in den Park und schlichen, wie Mäuse kriechend, so nah als möglich an den Teich heran, wo die ›Fantasia‹ abgebrannt wurde. Wie in Europa war auch bei diesem Einfall, trotz Tarha und Burko, das zarte Geschlecht ebenso gewandt und mutig und zahlreicher, als das starke.

So kam es, daß der kleine Neger, als er sich aus seiner Sandgrube herausarbeitete, von einer kleinen Frau erkannt wurde, die fast kreischend aufschrieb

»Ja Salaam! Ja Chalil!«

Chalil spitzte die Ohren. Er vermochte dies im buchstäblichsten Sinn.

»Ja Haifa!« schrie er dann und wollte seine Freundin mit stürmischer Zärtlichkeit begrüßen. Diese aber gab ihm einen derben Schlag in sein rundes schwarzes Gesicht, so daß er sich darauf beschränkte, grinsend seine prächtigen Zähne zu zeigen. Dann erklärten sie sich. Haifa war aus Neugier mit andern Mädchen herübergekommen; auch weil sie wußte, daß ihr Herr hier war.

»Den suche ich!« sagte Chalil und zeigte die Tanzkarte. »Ich suche ihn seit Stunden und glaube bald, daß er fortgegangen ist.« Dann erklärte er weiter, geheimnisvoll, daß die Karte von seiner Herrin geschrieben sei. »Du weißt was sie will!« flüsterte er, mit einem erneuten Versuch, Haifa in die Arme zu schließen.

Haifas große Augen blitzten.

»Gib das Papier!« sagte sie herrisch.

»Willst du es ihm geben?«

»Deshalb verlange ich es.«

»Wahr?«

»Wallah dugri!« schwur Haifa und steckte die Karte in ihr Kleid. »Du sagst deiner Frau, er habe sie erhalten.«

»Ich bin's zufrieden; ich habe das Suchen satt«, sagte der Kleine. »Findest du ihn heute nicht, so siehst du ihn morgen gewiß. Ich gehe zurück zu meiner Herrin. Sie ist mir ein Bakschisch schuldig, weil ich alles so gut besorgt habe.«

Die zwei Kobolde trennten sich. Jetzt begann Haifa, die Burko dicht um den Kopf wickelnd, das Suchen, aber nur zögernd und sehr vorsichtig. Sie schien sich mehr mit ihren eigenen Gedanken zu beschäftigen. Selbst die Wunder, die sie durch die Lücken des Buschwerks durchblitzen sah, hinter dem sie sich möglichst versteckt hielt, ließen sie fast gleichgültig.

»Soll ich? Soll ich nicht?« fragte sie sich, von Zeit zu Zeit stehenbleibend. Mit einem Blick voll Haß, der dem kleinen Gesicht einen wunderlich reifen Ausdruck gab, sah sie die Karte an. Einmal warf sie sie weg; aber sie holte sie wieder. Fast gleichzeitig sah sie, nur wenige Schritte entfernt, Joe Thinker neben der großen Vase, auf welcher Fräulein Schütz thronte. Sie kannte ihn. Sie hatte ihn fast täglich bei Buchwald aus- und eingehen sehen. Es war der große Zauberer, den sie schon in Kafr heimlich verehrt hatte. Ein neuer Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Sie zog die Karte wieder hervor und besah sie auf beiden Seiten. Vielleicht war es ein Amulett, das ihren Herrn bezaubern sollte: ein Spruch aus dem Koran der Ungläubigen. Der Zauberer mußte das verstehen, und sie wußte, er war sein Freund. Jetzt wurde ihr plötzlich klar, was sie zu tun hatte.

Wie ein Kätzchen schlich sie, ihre Burko fester zusammenhaltend, an Joe Thinker heran und zog ihn leise am Frack. Erst merkte er nichts; dann sah er sich unwillig um. Niemand beachtete was vorging, denn eine glänzend aufsteigende Sonnenkugel sandte in diesem Augenblick rote, blaue und gelbe Sterne nach allen Seiten hinaus, die langsam dahinzogen und dann lautlos erloschen. »Es ist förmlich ergreifend!« flüsterte Fräulein Schütz, während Fritschy, aus dem Rachen des Wolfs heraus, einen tiefen Seufzer ausstieß. Er hatte den Kopf der Bequemlichkeit halber wieder aufgesetzt.

Joe, dessen gutes Herz allem was klein und hilflos schien zugänglich war, beugte sich zu dem Weibchen herab, das ihn gezupft hatte. Sie schlug den Schleier zurück.

»Haifa!« sagte er, halb erschrocken.

Sie legte den Finger auf den Mund und gab ihm die Karte.

Er warf einen Blick auf die Seite mit den Tänzen und machte ein sehr verwundertes Gesicht. Haifa konnte ihn kaum zu einer Polka auffordern wollen und das Licht der sternespendenden Sonne war zu matt, um weiteres lesen zu können. Er steckte deshalb die Karte nach kurzem Zaudern in seine Brusttasche. Man konnte ja nicht wissen, was sie zu bedeuten hatte und mit Haifa ließ sich ohne Dragoman nicht sprechen. Also für morgen!

Und als er wieder niedersah, um dies dem Mädchen deutlich zu machen, war sie verschwunden.

»Ah – ah – ah!« jubelte es ringsum. Das letzte Tableau fing an, aufzuleuchten. Es war ein unerwartet würdiger Schluß des Ganzen. Zuerst, scheinbar hoch oben im dunkeln Nachthimmel erschien ein matter Schimmer, wie ein Sternennebel. In demselben zeigten sich rätselhafte Zeichen, die immer heller, immer leuchtender hervortraten und schließlich stand dort oben lautlos strahlend in der prachtvollsten Farbenzusammenstellung, was gestern auch über den Sikris gestanden hatte: La ila ha illallah. Es gibt keinen Gott außer Gott. Dies galt den arabischen Gästen und dem Fest des Propheten. Der Lärm wurde stiller. Die Muhamedaner beugten die Köpfe. Selbst die Christen hörten auf zu schwatzen, als die ruhig strahlenden Buchstaben langsam erloschen und die liegende Mondsichel – der wirkliche Mond – hinter ihnen sichtbar wurde.

Fräulein Schütz ließ sich von der Vase heruntergleiten.

»Sie sagen im Hotel«, flüsterte sie, und es schien als versuchte sie ihre Bewegung abzuschütteln, »sie sagen, Franz Bey, der Architekt des Vizekönigs, habe auch das Programm des Feuerwerks gemacht.«

»Es sollte mich nicht wundern«, versetzte Joe. »Ein Deutscher hat es sicher ausgeklügelt. Selbst hinter den Kindereien, die Ihre Landsleute machen, steckt zum Schluß etwas Tieferes. Die Franzosen hätten zuletzt ein riesiges »I« abgebrannt, um Ismael Pascha zu schmeicheln. Wir Engländer hätten überhaupt nichts derart fertig gebracht.«

»Aber sehen Sie«, rief Fräulein Schütz erschrocken, »die Leute gehen schon. Es muß schrecklich spät sein.«

»Oder früh«, sagte O'Donald. »Über dem Mokkatam dämmert's, und ich versprach, Sie gestern noch nach Hause zu bringen.«

»Wer das heute tut, ist mein Retter«, lachte Bertha. »Ich fürchte mich vor Wölfen. – Aber um Gottes willen, wo ist Sakuntala?«


 << zurück weiter >>