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Wir haben das Problem eines Sinnes und Wertes des Lebens durch die ganze Untersuchung in enger Beziehung zur Gegenwart gehalten, so sei auch zum Schluß gefragt, was die dargebotene Antwort für die besondere Lage der Gegenwart zu leisten vermag, und ob sie sich in solcher Leistung bewährt.
Nach drei Richtungen vornehmlich kann die Hauptthese zur Gegenwart wirken: sie muß die Empfindung der Unzulänglichkeit des Durchschnittsstandes steigern, sie zeigt ein Mittel zur Scheidung des uns umgebenden Chaos, sie gewährt einen Standort, von dem aus sich eine Sammlung der Kräfte anstreben läßt. Sehen wir, wie sich das des näheren ausnimmt.
– Zunächst muß die Überzeugung, daß nur das Aufsteigen einer Weltbewegung in uns unserem Leben einen Sinn und Wert verleiht, und daß es eines unablässigen Kampfes einer echten Geisteskultur gegen die bloße Menschenkultur bedarf, es muß diese Überzeugung das heutige Überwiegen der Menschenkultur uns schlechthin unerträglich machen. Was uns an mannigfachen Erscheinungen dieser Art umgibt, das faßt sich nun durch den Gegensatz mehr zusammen und zeigt zugleich seine völlige Nichtigkeit. Ein unermeßliches Getriebe, ein ruheloses Hasten und Jagen, ein leidenschaftliches sich Überbieten und sich gegeneinander Aufbauschen, das Leben nicht sowohl gegen sich selbst als gegen andere gekehrt, keine inneren Probleme, keine inneren Triebkräfte, wenig reine Begeisterung und echte Liebe, sondern in allem prunkvollen Gerede und selbst bei tüchtiger Arbeit das Interesse von der Pflege und der Förderung des eigenen Ich beherrscht, dabei der Mensch mit seinem Behagen und Belieben der höchste Richter über gut und böse, über wahr und unwahr, demnach das Streben vornehmlich um die Erlangung der Gunst des Menschen und um den Schein bei den Menschen bemüht: das alles ergibt bei äußerlicher Vorhaltung idealer Ziele und Vorspiegelung idealer Gesinnungen durchgängig eine innere Unwahrhaftigkeit, eine widerwärtige Scheinhaftigkeit, eine geistige Flachheit und Leere.
Diese Leere mag der Wahrnehmung so lange entgehen, als der Blick und das Streben am Einzelnen haftet und man für das, was an dieser Stelle vermißt wird, an einer andern einen Ersatz erwarten mag, solange die Hoffnung verbleibt, daß hinter jener ganzen Kulturkomödie irgendwo und irgendwie ein wesenhaftes Leben liegt und wirkt. Wo aber die Frage auf das Ganze gestellt wird und sich damit zeigt, daß nach Preisgebung aller tieferen Begründung des Lebens die bloße Menschenkultur unweigerlich das ganze Gebiet einnimmt, und daß von ihr aus sich jener Leere und Scheinhaftigkeit in keiner Weise entgegenwirken läßt, so stellt sich notwendig für den denkenden Menschen die Sache auf ein Entweder – Oder: entweder gibt es etwas jener bloßen Menschenkultur Überlegenes, oder es entfällt endgültig aller Sinn und Wert des Lebens; die Erhebung des Problems ins Ganze schneidet jede weitere Möglichkeit ab.
Wer mit uns die Überzeugung von der Gegenwart überlegener Kräfte im menschlichen Kreise teilt, der wird sich dem Nein nicht ergeben, der wird auch die Zeit mit jener bloßen Menschenkultur nicht einfach zusammenwerfen. Aber er wird zugleich, was an echter Geistigkeit bei uns wirkt, mit jener bloßen Menschenkultur unerträglich vermengt finden und daraus den dringendsten Antrieb schöpfen, es von solcher Vermengung freizumachen und die Selbständigkeit, die ihm innewohnt, auch bei uns zur Geltung und Wirkung zu bringen. Von hier aus erscheint als eine unerläßliche Aufgabe ein kräftigeres Sichzusammenschließen des geistigen Lebens und Schaffens auf dem Boden unserer Zeit; nur so kann es ein messendes und richtendes Wirken an dem Durchschnittsstande üben und ihm entgegenwirken.
Das Verhältnis der Geisteskultur zum Durchschnittsleben der Menschen gestaltet sich zu verschiedenen Zeiten verschieden, namentlich ist dies Verhältnis bald das einer entschiedenen Abhebung und Gegenwirkung, bald das einer freundlichen Mitteilung und Ausgleichung. Zu jener wird es sich da gestalten, wo das Unzulängliche, Unklare, Verworrene des Durchschnittsstandes voll zur Empfindung gelangt ist; ohne ein Heraustreten daraus und eine Befestigung bei sich selbst kann das Geistesleben dann nicht zu kräftiger Entfaltung kommen. Eine solche Abhebung vom Durchschnitt vollzog das spätere Altertum im Stoizismus, vollzog noch stärker das alte Christentum, es vollzog sie zu Beginn der Neuzeit mit zielbewußter Arbeit die Aufklärung. – Solchen Zeiten verwandelt sich alles, was sie an Lebensentfaltung vorfinden, in ein Problem, eine gründliche Prüfung und Sichtung wird geübt, eine schärfere Ausprägung des Lebens kann nicht erfolgen, ohne daß auch manches ausgeschlossen wird und die Gefahr einer Verengung nahetritt. Aber bei aller Gefahr verbleibt die Notwendigkeit solcher kritischer Zeiten mit ihrer aufrüttelnden, sichtenden und befestigenden Kraft. Völlig anders ist die Lage, wenn Zeiten sich eines geistigen Grundstockes sicher fühlen; dann kann es zur Hauptaufgabe werden, diesen nach allen Richtungen hin zu entwickeln und zu verwerten, was immer das Dasein an Entgegenkommen enthält, heranzuziehen und weiterzubilden, mit dem allen den Gesamtumfang des Lebens möglichst zu einem Ganzen zusammenzuschließen. Solche Zeiten haben ein freundlicheres Ansehen, die Vernunft scheint hier die Wirklichkeit voll zu beherrschen, ein sicherer Zug das Leben aufwärts zu führen, eine überlegene Einheit die Gegensätze voll zu umspannen. So stand es auf der Höhe der Renaissance, so auch beim Aufsteigen des Neuhumanismus unserer klassischen Zeit.
Aber was immer eine solche zusammenschließende und durchgeistigende Zeit an Vorzügen haben mag, solche Zeiten sind nicht nach unserem Belieben herzustellen, alle Anpreisung eines solchen Daseinsstandes macht ihn uns nicht zu eigenem Besitz, wir müssen die Lage nehmen wie sie ist, die Zeit ist hier das Schicksal des Menschen. Wie in der Gegenwart die Dinge liegen, wie uns in geistigen Dingen ein wirres Chaos umfängt und ein sicherer Grundstock des Geistes fehlt, bedürfen wir notwendig einer Abhebung und Selbstkonzentration des Geisteslebens, bedürfen wir einer Denkweise und Arbeit kritischer Art, einer Denkweise, die bei aller Abweichung der Aufklärung näher steht als dem Neuhumanismus. Zur Ausbildung einer solchen Denkweise aber zeigt die Anerkennung einer selbständigen und wesenbildenden Geistigkeit einen sicheren Weg; damit wird es möglich, das Reich der geistigen Inhalte und Werte vom menschlichen Dasein abzuheben und es ihm gegenüber auszubauen, von dem gewonnenen Stande aus aber eine energische Arbeit an der Gesamtlage aufzunehmen zur Sichtung und Abweisung einerseits, zur Steigerung und Zusammenfassung andererseits. Wie die Aufklärung alles darauf hin prüfte, ob es ihrer Forderung der Vernunftgemäßheit, der Klarheit und Deutlichkeit zu entsprechen vermöge, so gilt es nun zu prüfen, wie weit der vorliegende Bestand einen geistigen Gehalt in sich trägt, einer geistigen Welt angehört, eine innere Weiterbildung des Lebens vollzieht. Solche kritische Arbeit ist nicht die Sache eines einzelnen Gebietes, sie muß durch das Ganze des Lebens und all seine Verzweigung gehen, besonders aber gehört sie in die Gebiete, welche sich unmittelbar mit dem Ganzen des Lebens befassen, wie die Philosophie und die Religion, die Erziehung und die Kunst. Einer jeden von ihnen stellt die gemeinsame Aufgabe sich in eigentümlicher Weise dar.
Wo solche Überzeugung waltet, daß wir vor allem der Herausarbeitung des großen Hauptgegensatzes, zugleich aber überhaupt einer energischen Scheidung der uns umflutenden Verworrenheit bedürfen, da ist mit besonderer Entschiedenheit allen Versuchen zu widerstehen, die Gegensätze abzuschwächen und die Ausgleichung unmittelbar durchzusetzen, die sich erst nach Gewinn eines festen Standortes mit Erfolg erstreben läßt. So verwerfen wir allen und jeden Monismus, der die notwendige Einheit ohne eine vorhergehende Scheidung glaubt herstellen zu können, so verwerfen wir die pantheistischen Strömungen der Gegenwart, deren vager Gefühlsenthusiasmus die großen Gegensätze nur zu verschleiern, nicht zu überwinden vermag, so verwerfen wir eine Romantik, welche mit ihrer Verwandlung des Lebens in weiche Kontemplation und in ein passives Übersichergehenlassen seine Kraft herabsetzt und in der vermeintlichen sublimen Geistigkeit in Wahrheit leicht nur eine verfeinerte Sinnlichkeit erreicht, so verwerfen wir aber auch das Anpreisen einer Wendung zur Persönlichkeit schlechtweg als eines Allheilmittels für alle Schäden der Zeit, da es der Persönlichkeit erst einen Inhalt und Weltzusammenhänge zu geben gilt und dabei die schwersten Verwicklungen erscheinen.
Wie aber auf einer Scheidung der Kultur, so bestehen wir auch auf einer Scheidung der Geister; der Scheidungspunkt aber ist der, ob eine selbständige Geisteswelt und ein Zusammenhang des Menschen mit ihr anerkannt wird oder nicht; ohne jene gibt es auch beim Einzelnen keine selbständige und selbstwertige Innerlichkeit und keinerlei innere Aufgaben; der Mensch wird dann ein bloßes Erzeugnis der Weltumgebung, und wenn hier noch von Persönlichkeit und Individualität gesprochen wird, so ist das nicht mehr als eine leere Phrase. An dieser Stelle gibt es keine Vermittlung zwischen dem Ja und dem Nein; nur wo über das Ja eine Übereinstimmung herrscht, läßt sich an einer Ausgleichung der Gegensätze arbeiten, die dann noch verbleiben. So ist eine gründliche Scheidung in den Gedankenmassen wie bei den Menschen eine Hauptbedingung für eine Gesundung des Lebens.
Aber die Scheidung bedarf notwendig des Gegenstückes der Sammlung, einer Sammlung dessen, was die Unzulänglichkeit aller bloßen Menschenkultur anerkennt und darüber hinaus neue Ziele erstrebt. Es gilt vor allem dem Leben einen positiven Gehalt und Charakter zu geben, ein solcher aber ist nicht zu erreichen ohne eine Synthese der Mannigfaltigkeit. Die geschichtlich überkommenen Synthesen sind durch ein rapides Anschwellen des Lebens unzulänglich geworden; mögen sie sich in der Gesinnung der Individuen behaupten, sie beherrschen nicht mehr die geistige Arbeit; hier hat ein unermeßlicher Zustrom von Tatsächlichkeit aus Natur, Geschichte und Gesellschaft eine innere Einheit zerstört und jene unter den Widerstreit verschiedenartigster Strömungen gestellt. Vielleicht kann nie eine so einfache und so geschlossene Synthese wiederkehren, wie die Vergangenheit sie bot, wir werden zufrieden und froh sein müssen, im innersten Kern des Lebens eine Synthese zu finden, die sich dann in der Lebensarbeit mit der Umgebung auseinandersetzen muß. Eine derartige Synthese aber ist in Wahrheit unentbehrlich, wenn das Leben uns nicht auseinanderfallen soll. Keinen anderen Standort aber kann es dafür geben als den eines selbständigen Geisteslebens. Nur hier kann ein ursprüngliches und ein einfaches Schaffen entstehen, ohne das es keine lebendurchdringende und lebenbeseelende Synthese gibt.
Nach mehr Einfachheit und Einfalt im Sinne einer geistigen Ursprünglichkeit, nicht einer platten Selbstverständlichkeit bei den Menschen, ruft die gesamte Lage der Zeit, sie ruft danach sowohl vom Inhalt der Kultur als auch vom menschlichen Erleben aus. Durch Ansammeln und Aufschichten, durch Zurückgreifen und Wiederbeleben ist unsere Kultur viel zu weitschichtig und verwickelt geworden. So schiebt sie Großes und Kleines, Lebenskräftiges und Abgestorbenes wirr durcheinander, so versteht sie nicht zwischen Zeitlichem und Ewigem zu scheiden, so sieht sie nicht aus der endlosen Mannigfaltigkeit unseres überkommenen Besitzes einfache Grundlinien heraus und richtet nicht durch sie das Streben auf sichere Ziele.
Einer Vereinfachung aber bedarf es auch vom Standort der Menschheit aus. Die ältere aristokratische Struktur des gemeinsamen Lebens ist, wenn nicht aufgegeben, so doch in der Auflösung begriffen, nicht mehr genügt es, nur innerhalb eines besonderen Kreises eine volle Kultur zu entwickeln und sie allen anderen Menschen nur von dorther und in bemessener Gabe mitzuteilen, sondern der überwiegende Zug der Neuzeit verlangt eine unmittelbare und volle Teilnahme alles dessen »was Menschengesicht tragt« an der geistigen Arbeit und den geistigen Gütern. Ob weitere Erfahrungen und spätere Zeiten das als unmöglich befinden und eine andere Struktur des gemeinsamen Lebens herbeiführen werden, das ist eine Frage für sich, einstweilen haben wir mit jenem demokratischen Zuge zu rechnen. Er aber enthält augenscheinlich die Gefahr, daß die aufsteigenden Massen, wenig berührt von den Erfahrungen der weltgeschichtlichen Arbeit, einer flachen Verneinung verfallen, daß sie den Befund der Kultur nicht von innen heraus, sondern von außen her beurteilen und damit leicht verwerfen; auch von hier aus wird es zu einer dringenden Notwendigkeit, einfache Grundzüge des Lebens zu gewinnen, bei denen wir uns wieder zusammenfinden und die Aufgabe des Lebens als eine gemeinsame behandeln können.
Jenes Einfache aber wird nie aus dem unmittelbaren Befunde heraus, es wird nur in einer inneren Erhebung darüber, es wird nur vom Standort einer selbständigen Geistigkeit aus zu erringen sein. Denn nur so kann das Einfache zugleich das Große, kann es der überzeugende Ausdruck einer neuen Welttiefe sein, und kann es uns solcher Tiefe versichern. Mit einem derartigen Einfachen hat das alte Christentum die Welt bewegt und verjüngt, ohne ein derartiges Einfaches können auch wir keinen inneren Halt gewinnen und die Unvernunft wie das Chaos überwinden.
So ist unsre eigne Zeit voll großer Aufgaben; je mehr wir sie im Ganzen ergreifen – und von Tag zu Tag wird es dringlicher das zu tun –, desto deutlicher wird, daß es zu ihrer Förderung und Lösung der Wendung zu einer selbständigen Geistigkeit, zu einem weltbildenden Geistesleben bedarf, wie wir sie verlangen; auch die besondere Lage der Zeit wird damit zur Bestätigung jener Tatsache. Indem aber die Zeit so große Aufgaben in sich trägt, muß sie selbst als eine bedeutende erscheinen, als eine solche, in der sich für einen Sinn und Wert des Lebens kämpfen läßt, und die dadurch selbst einen Wert gewinnt.