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Das nächste Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist die Erkenntnis einer schweren Enttäuschung der modernen Menschheit. An der Wahrheit und an der Gegenwart einer überlegenen Welt irre geworden, wandte sie den Hauptzug ihres Strebens zum unmittelbaren Dasein in der freudigen Zuversicht, hier einen unerschütterlichen Standort zu finden und hier das Leben seiner ganzen Ausdehnung nach ungestört entwickeln zu können; jenes Dasein galt dabei als eine sonnenklare und eindeutige Größe. Nun hat sich bei näherem Zusehen ergeben, daß die Sache völlig anders, ja gerade umgekehrt liegt: wir können das unmittelbare Dasein zu einem Ganzen nicht verbinden, für seine Mannigfaltigkeit eine Synthese nicht erstreben, ohne daß einander schroff widerstreitende Bewegungen erscheinen und das Leben nach entgegengesetzter Richtung ziehen; da jede dieser Bewegungen sich bei sich selbst noch weiter spaltet, so führt jene Wendung uns in ein Gewirr von Gegensätzen, in eine Unruhe und Unsicherheit, wie sie frühere Zeiten nicht kannten. Statt die gehoffte Sicherheit zu finden, sehen wir den Boden unter unseren Füßen weichen; was handgreiflich dünkte, das entgleitet uns und rückt in eine immer weitere Ferne, sobald wir es zu unserem geistigen Standort erheben möchten; zugleich löst das Leben, das wir in seiner ganzen Ausbreitung uns aneignen wollten, sich in verschiedene Ströme auf und wird zu einem Kriege aller gegen alle. So scheinen wir das Gegenteil unserer Absicht zu erreichen und viel zu verlieren, wo wir sicher zu gewinnen hofften.
Die Wendung zum unmittelbaren Dasein stellte zunächst vor die Frage, ob wir seinen Kern in einer dem menschlichen Befinden überlegenen Welt, oder ob wir ihn im eignen Befinden des Menschen zu suchen haben. Für jenes sprach sowohl ein starkes Mißtrauen gegen das Vermögen des Menschen, das die Erschütterung der überkommenen Lebenssysteme mit sich brachte, als auch die unermeßliche Größe und überströmende Lebensfülle, mit der sich das All vor den Augen des modernen Menschen erhebt. Aber der allgemeine Gedanke konnte nicht zur näheren Durchführung gelangen, ohne daß sich ein unversöhnlicher Streit zwischen den Ansprüchen des sinnlichen Daseins und denen des in uns aufsteigenden Denkens erhob; jedes gab sich selbst als das wahrhaft Unmittelbare, jedes wollte die alleinige Grundlage der ganzen Wirklichkeit bilden und eine Synthese des Lebens von sich aus vollziehen. Damit entstanden zwei grundverschiedene Lebenstypen und Lösungen des Lebensproblems: der Naturalismus und der Intellektualismus; jener durfte die klare Erkenntnis des engen Zusammenhanges des Menschen mit der Natur, sowie die staunenswerte Entfaltung einer technisch-ökonomischen Kultur, dieser dagegen das volle Selbständigwerden des Denkens und die Durchdringung des ganzen Daseins mit Gedankenarbeit für sich anrufen, wie sie beide der Neuzeit eigentümlich sind. Aber mit allem was jeder Versuch an Bewegung hervorrief und an Leistung erzeugte, konnte keiner das ganze Leben umspannen und ihm einen Sinn gewähren; was hier wie da an Leben erwächst, das ist der Mühe und Arbeit des Lebens nicht wert. Dem Naturalismus wurde der Mensch ein gleichgültiges Stück eines sinnlosen Weltgetriebes, dem Intellektualismus ein bloßes Gefäß, ein Mittel und Werkzeug eines seelenlosen Gedankenprozesses. Weder hier noch dort kehrte die Lebensbewegung zum Menschen zurück, um ihm zu eignem Besitz und zu eigner Förderung zu werden, gleichgültig schritten über ihn die Weltgeschehnisse hinweg, in aller unermeßlichen Aufregung blieb seine Seele leer und verrann sein Leben in ein Nichts. Vollauf begreiflich ist es, daß gegenüber solcher drohenden Zerstörung ein Verlangen erwachte und zunahm und siegte, den Menschen so wie er ist im Ganzen seines Lebens bei sich selbst zu fassen und im eignen Kreise voll zu beschäftigen wie zu befriedigen. Hier schien sich ihm ein reiches und glückliches, ein klares und sicheres Leben ohne alle Verwicklung in Weltprobleme zu bieten. Aber wiederum trieb die Entwicklung des Strebens einen unversöhnlichen Gegensatz hervor: eine Richtung zur Gesellschaft und eine zum Individuum schieden einander bis zu unversöhnlicher Feindschaft, sie hemmten sich gegenseitig die Leistung und untergruben den Glauben, keine aber gab dem Leben einen festen Halt und ein genügendes Ziel. Die soziale Strömung verwandelte das Leben in ein bloßes Wirken nach außen hin, aus eignem Vermögen konnte sie nie den äußeren Ertrag in eine innere Erhöhung verwandeln, sie gab dem Leben keine Seele; kein Wunder, daß die Bewegung umschlug und das Individuum zum ausschließlichen Zielpunkte machte. Aber beschränkt auf das unmittelbare Dasein wie sie war, vermochte sie das Individuum nicht in ein Ganzes zu fassen und seine Seele um einen Mittelpunkt zu konzentrieren, das Leben löste sich ihr in lauter einzelne Zustande, in lauter einzelne Erregungen und Empfindungen auf, es wurde eine rasche Flucht von einzelnen Augenblicken. Alle reizvolle Beschäftigung dieser Augenblicke, alles Flattern von Genuß zu Genuß konnte die innere Leere dieses bunten Getriebes für die Dauer unmöglich verbergen; im Augenblick, wo die Frage auf das Ganze gestellt wurde, war ein schweres Manko nicht zu verkennen. Sie aber so zu stellen kann ein denkendes Wesen nicht lassen.
So scheitern alle Versuche einer bloßen Daseinskultur; wenn ihre Anhänger sich über diesen Mißerfolg täuschen, so kann das nur geschehen, weil jene Versuche ihr eignes Vermögen aus der umgebenden geistigen Atmosphäre, wie jahrtausendlange Arbeit der Menschheit sie bereitet hat, unablässig ergänzen, indem sie namentlich an einer Tiefe, an einem Beisichselbstsein des Lebens festhalten, die sie nun und nimmer selbst hervorbringen könnten. Was sie dabei entlehnen, ist nicht bloß kein eignes Erzeugnis, sondern es widerspricht ihrem Unternehmen direkt; ist es trotzdem dabei nicht zu entbehren, so muß die Entwicklung dieses Unternehmens selbst zu einer Zerstörung werden. Denn je kräftiger jene Lebensordnungen ihr Eigentümliches herausarbeiten, desto entschiedener müssen sie jene Ergänzung ausscheiden, desto enger, desto unzulänglicher, desto unhaltbarer werden sie bei sich selbst. Wie oft bei geistigen Dingen so wirkt auch hier der äußere Sieg zu innerem Zusammenbruch.
Nun kann darüber kein Zweifel sein, daß mit den vorgeführten Gestaltungen der Daseinskultur ihre sämtlichen Möglichkeiten erschöpft sind; gibt keine von ihnen dem Leben einen Sinn und Wert, und lassen sie sich mit ihren schroffen Gegensätzen unmöglich zusammenfügen, so ist die Unzulänglichkeit einer bloßen Daseinskultur überhaupt erwiesen. Sie treibt das Leben in schroffe Gegensätze auseinander, sie wirft den Menschen bald von der Kälte einer seelenlosen Welt auf sich selbst zurück und läßt ihn dann wieder von der Enge und Dumpfheit der menschlichen Verhältnisse zur Weite des Alls sich flüchten; nirgends ein fester Standort, nirgends eine allumfassende Synthese, nirgends ein Leben, das all die Mühe und Arbeit lohnt, die der Mensch einer hochentwickelten Kultur ihm widmen muß. Eine solche Erfahrung muß um so erschütternder wirken, mit je freudigerer Hoffnung jene Wendung begrüßt war; der Verlauf des Lebens selbst hat jene Hoffnung zerstört und alles ins Gegenteil auslaufen lassen: wir wollten Sicherheit und gerieten in die größte Unsicherheit, wir wollten ein Leben einheitlicher Art und sahen das Dasein in widerstreitende Bewegungen zerfallen, wir wollten ein ruhiges Glück und fanden bitteren Streit, endlose Mühe und Sorge.
Ist es zu verwundern, wenn eine so schmerzliche Erfahrung das Leben auf völlig andere Bahnen drängt, wenn zunächst eine Neigung erwächst, die älteren Lebensordnungen wieder aufzunehmen, die das menschliche Leben an eine Übelwelt ketteten und von ihren Gestirnen eine sichere Richtung erhofften. Scheint doch klar zu Tage zu liegen, daß die Preisgebung jener Welt den Menschen weit mehr verlieren ließ, als er aufgeben kann und darf. Denn indem sein Leben sich in eine einzige Fläche verlegte und auf alle innere Abstufung verzichtete, scheint es alle Weltüberlegenheit, alles Beisichselbstsein, alle Möglichkeit eines Verhältnisses zu sich selbst zu verlieren, zugleich aber alle innere Spannung, alle Größe und Würde, alles was Inhalt heißen kann. Solche Herabsetzung und Verflachung aber läßt sich unmöglich ohne Widerstand hinnehmen. So zeigt denn die neueste Zeit ein Wiederaufsteigen des Verlangens nach Religion, auch eine gewisse Neigung nach Wiederbelebung des alten Idealismus. Aber unmöglich kann dabei eine einfache Rückkehr erfolgen. So wenig die bloße Daseinskultur einen letzten Abschluß zu bringen vermag, sie und über sie hinaus die Gesamtbewegung des modernen Lebens hat viel zu viel Tatsächlichkeit entwickelt, viel zu sehr die Maße des Lebens verändert, viel zu sehr etwas Neues aus dem Menschen gemacht und zugleich eine Kluft zwischen dem Hier und dem Dort gerissen, als daß sich das Leben wieder einfach dahin zurückversetzen ließe. Vor allem ist die seelische Nähe und die Selbstverständlichkeit jener Welten verloren gegangen, und aufregender als alle Abweichung im Einzelnen wirkt der prinzipielle Zweifel, ob überhaupt eine andere Welt bestehe und der Mensch zu ihr einen Zugang finden könne, ob alle Überwelt mehr sei als ein bloßer Wahn und Traum, als ein vom Menschen in die Unendlichkeit des Alls hineingeworfenes Spiegelbild seines eignen Daseins. Schwerlich liegt die Sache so einfach, schon deshalb nicht, weil von jenen Bewegungen umwandelnde und erhöhende Wirkungen ausgegangen sind, die nicht von einem bloßen Schein stammen können. Aber wo ist die Grenze zwischen dem, was wir festhalten und dem, was wir aufgeben müssen? Schiebt sich nicht im Durchschnittsstande Altes, das unhaltbar wurde, und Neues, das sich erst in Bildung befindet, zu einer Verworrenheit durcheinander, die alle fruchtbare Wirkung lähmt, die sogar das Leben mit innerer Unwahrhaftigkeit bedroht? Wie viel aufgebauschtes Phrasentum, wie viel leere Gefühlsspielerei, wie viel gefällige Selbsttäuschung verknüpft sich heute mit dem, was sich als eine Renaissance der Religion gibt! Ohne eine energische Auseinandersetzung von Altem und Neuem, vor allem ohne eine Klärung der Frage, ob und wie der Mensch die Enge seiner Sondernatur überwinden und zu einer überlegenen Ordnung vordringen könne, laßt sich auf diesem Wege nicht weitergelangen.
Auch das fällt hier ins Gewicht, daß wenn die Gegenwart die Religion wieder höher schätzt, sie dabei über ihre nähere Fassung in großer Unklarheit ist und in grundverschiedene Strömungen auseinandergeht. Die einen wollen eine Religion überwiegend spekulativer und künstlerischer Art, eine Religion, welche von der Kleinheit des Menschen und der Dürftigkeit des Alltages befreie, uns in ein unendliches Weltleben erhebe und in Ahnung und Stimmung uns eine geheimnisvolle Tiefe und womöglich auch Schönheit des Weltalls mitleben lasse; die anderen bestehen auf einer mehr ethischen Fassung der Religion, die dem Menschen eine Rettung von einer unerträglichen Spaltung seiner eignen Seele, eine Befreiung von Schuld und Not, die Eröffnung eines neuen, reineren Leben gewähre. Beides geht mannigfach durcheinander und schiebt sich ohne Ausgleichung ineinander. Sollte ein solches Gewirr die Daseinskultur überwinden und dem Leben einen Halt bieten können?
So befinden wir uns in der peinlichen Lage einer völligen Ratlosigkeit: die bloße Daseinskultur nimmt dem Leben allen Sinn, eine Rückkehr zu den älteren Lebensformen ist unmöglich, unmöglich aber ist auch ein Verzicht auf allen Sinn und Wert unseres Lebens. Wie gerade unsere Zeit eine solche Lage nicht gleichmütig hinnehmen kann, das zeigt jeder Blick auf den heutigen Stand des Lebens.