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Wenn alle Überwelt dem Menschen unsicher wird, und wenn die Welt, die ihn in Natur und Denken unmittelbar umfängt, sein Leben und Sein als ein bloßes Mittel behandelt und ihn selbst damit innerlich zerstört, so scheint, um seinem Leben einen Sinn und Wert zu retten, nur ein einziger Weg zu verbleiben: die kräftige Ergreifung, Pflege und Förderung des menschlichen Kreises bei sich selbst. Arbeit bietet sich hier wahrhaftig in Hülle und Fülle, und keine Sorge um die Welt, sei es um uns, sei es über uns, kann daran hindern, uns unseres eignen Befindens zu freuen und es nach bestem Vermögen zu fördern; richten wir also all unser Streben und all unsere Kraft auf den Menschen als Menschen, und wir werden ein Leben führen, das gewiß auf manches verzichten muß, das aber innerhalb seiner Grenzen deutliche Ziele vorhält und in der Arbeit für sie ein sicheres Glück verheißt. So dünkt es einem großen Strome des modernen Lebens, der uns mit tausendfachen Wirkungen umflutet, so hat es einen gewissen Tatbestand der weltgeschichtlichen Lage erzeugt. – Aber wir brauchen vom unbestimmten Umriß nur zum Nähern der Gestaltung fortzuschreiten, und es kommen Zweifel zu Zweifeln, wiederum ergibt sich ein schroffer Zwiespalt, ein unerträglicher Widerspruch in eben dem, zu dem wir uns als dem Einfachsten und Sichersten wandten. Wir erkennen gar bald, daß das unmittelbare Dasein des Menschen selbst ein Problem bildet, ein Problem, das die Erfahrung des Lebens in völlig entgegengesetzter Weise beantwortet.
Wir suchen den Menschen, den Menschen ohne alle Verwicklung der Weltprobleme, aber wo finden wir ihn? Finden wir ihn im Zusammensein der Gesellschaft, in der festen Verbindung der Kräfte zu gemeinsamem Leben, oder finden wir ihn bei den Individuen in ihrem Fürsichsein und ihrer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit? Ist es die gegenseitige Anziehung oder Abstoßung der Individuen, ist es die Summierung oder die Differenzierung der Kräfte, welche dem menschlichen Leben zu einem eigentümlichen Charakter verhilft? Das sind nicht bloß verschiedene Ausgangspunkte, die schließlich zum selben Ziele führen, sondern die Ziele selbst sind hier und dort verschieden, so verschieden, daß das eine fördern das andere schädigen heißt, daß ihr Nebeneinander das menschliche Leben in widerstreitender Richtung auseinanderreißt. Steht die Gemeinschaft voran und hängt an ihrem Gedeihen aller Lebenserfolg, so muß das Ganze sicher bei sich selbst befestigt werden und eine volle Überlegenheit gegen Willkür und Eigensinn der Individuen haben, so hat der Einzelne sich unterzuordnen und einzufügen, so wird, was er an Unterscheidendem besitzt, vor den gemeinsamen Zügen zurücktreten müssen, welche das Zusammensein entwickelt, so wird ein starker, von der Willkür der Individuen und den Schwankungen der Zeiten unberührter Gemeingeist als besonders hohes Gut geschätzt werden. Eine solche Lebensgestaltung wird ihre Hauptaufgabe darin finden, die äußeren Verhältnisse, die Bedingungen des Lebens, die Ordnung des Zusammenseins und Zusammenwirkens so zu gestalten, daß die Wohlfahrt des Ganzen möglichst gehoben wird; von da aus scheint auch den Einzelnen Glück und Behagen in sicherem Zuge sich mitzuteilen. Denn er hängt hier auch in seinem Innern, er hängt bis in seine Wünsche und Träume hinein am Stande des Ganzen, er ist ein Erzeugnis des »Milieu«. Auf der anderen Seite dagegen wird zum Hauptanliegen, das Individuum in seinem reinen Fürsichsein möglichst zu stärken, es von aller Bindung zu befreien, es zu voller Entfaltung seiner Eigentümlichkeit zu führen; dieser Zug wird auf möglichste Beweglichkeit und Flüssigkeit des Lebens dringen, er verwirft alles Festwerden als ein Erstarren, alles Gleichmachen als eine unerträgliche Schablonisierung. Liegt nun der Kern des menschlichen Daseins hier oder dort, in der Gemeinschaft oder in den Individuen, das ist die strittige Frage.
Daß hier ein schwerer Konflikt vorliegt, der das Leben in entgegengesetzte Bahnen treibt, das bestätigt die weltgeschichtliche Erfahrung. Denn sie zeigt, daß in der Geschichte große Wogen einander folgten und einander durchkreuzten, und daß ihr Auf- und Absteigen mehr als irgend etwas anderes den Charakter der Hauptepochen bestimmte. Nachdem der Verlauf des Altertums mehr und mehr die überkommenen Ordnungen zersetzt und den Schwerpunkt des Lebens in die Individuen verlegt hatte, erfolgte gegen sein Ende ein immer stärkerer Rückschlag zugunsten einer festeren Gemeinschaft, philosophische Schulen wie religiöse Kulte schließen die Individuen enger zusammen und lassen sie sich gegenseitig fördern und stützen; das Christentum nimmt diese Bewegung auf und bringt sie bei wachsendem Verlangen nach einem sicheren Halt und nach Befreiung von eigner Verantwortlichkeit zu dem Abschluß, daß die religiöse Gemeinschaft, die Kirche, zur alleinigen Trägerin göttlicher Wahrheit und göttlichen Lebens wird, der Einzelne einen Anteil daran nur durch ihre Vermittlung erlangt. So ward die Kirche zur Überzeugung und zum Gewissen der Menschheit. Auch das politische und soziale Ordnungssystem des Mittelalters ruht auf der Überzeugung, daß nur innerhalb des Ganzen der Einzelne etwas gilt.
Wie im Gegensatz zu solcher Stimmung und Schätzung das Individuum wieder mehr Mut und Kraft bei sich selbst gewann, wie es bei Wachstum dessen die alte Ordnung zerbrach, die Selbständigkeit des Einzelnen zur Hauptsache machte, und wie in Ausbreitung dieses Strebens über alle einzelnen Lebensgebiete eine neue Epoche aufstieg, deren höchstes Ideal die Freiheit war, das wissen wir alle. Aber wir wissen auch, daß dies Ideal die Gegenwart nicht mehr ausschließlich beherrscht, daß vielmehr ein merkwürdiges Anschwellen des Lebens ins Große und Gigantische, eine wachsende Ansammlung gewaltiger Kräfte und Massen, vornehmlich aber ein Entstehen schroffer, das menschliche Dasein mit Zerreißung bedrohender Gegensätze das Verlangen nach einem engeren Zusammenschluß der Individuen und nach einer Leitung des Lebens durch eine überlegene Organisation hervorgerufen haben. Das zeigen die sozialen Bewegungen mit besonderer Klarheit, aber es reicht jener Zug weit über sie hinaus, durchgängig erscheint ein Verlangen der Individuen sich enger zu verbinden und dadurch zu stützen wie zu stärken, eine Neigung, die Aufgaben gemeinschaftlich anzugreifen und den Kampf gegen die Widerstände gemeinsam zu führen. Wie viel Bewegung zur Assoziation, zur Bildung von Bünden auch geistiger Art usw. zeigt unsere eigne Zeit, in weitem Abstand von der Zeit unserer Klassiker, die alles Heil von der Kraft und Selbständigkeit des Individuums erwartete! So wird der Mensch der Gegenwart nach entgegengesetzter Richtung gezogen und unter widerstreitende Schätzungen gestellt. Emanzipation von allem, was den Menschen bindet und einengt, das ist noch immer für viele das Losungswort, und diese Emanzipation dringt in mancher Richtung noch weiter vor; Verbindung zum Ganzen, Organisation der in ihrer Zerstreuung machtlosen Kräfte, das ist das Losungswort der anderen Seite, und wir kennen die Kraft, mit der auch dieses den modernen Menschen packt. Emanzipation und Organisation aber bieten grundverschiedene Bilder des Lebens; wie könnten wir bei solcher Entzweiung über seinen Sinn je einig werden, wie sollte nicht vielmehr die Unsicherheit, die jener Konflikt erzeugt, uns allen solchen Sinn zerstören?
Indes jede einzelne Richtung hat die Hoffnung, aus eignem Vermögen das Leben gänzlich ausfüllen zu können, wenn sie nur zu vollem Siege, zu unbegrenzter Herrschaft gelange; diese Hoffnung ist es, welche den Bewegungen Kraft und Leidenschaft einflößt, indem sie ihnen die ganze Seele des Menschen gewinnt. Aber eine genauere Prüfung zeigt alsbald, daß einen einzelnen dieser Typen ausschließlich durchsetzen das Leben unerträglich verengen und es alles Sinnes berauben heißt.
Was macht die Sozialkultur aus dem Leben, indem sie es gänzlich von sich aus gestaltet? Ein unablässiges Arbeiten für die Wohlfahrt der Gesellschaft, für einen Stand des menschlichen Zusammenseins, der möglichst wenig Schmerz und möglichst viel Lust enthält, für ein möglichst behäbiges und genußreiches Leben und das für eine möglichst große Anzahl von Menschen. Gewiß gibt es hier viel zu tun, zu tun für die Hebung von Druck und Not, für die Steigerung des menschlichen Vermögens gegenüber einer gleichgültigen oder feindlichen Welt, für eine mildere und freudigere Gestaltung des menschlichen Daseins, für die Zuführung aller Güter an jedes Glied der Gemeinschaft, an alles was Menschengesicht tragt. Hier soll kein Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit verbleiben, vielmehr wird mit allem Eifer dafür gearbeitet, das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig zu machen. Aber alles dieses, an sich sicherlich schätzbar, wird problematisch, wenn es das Ganze sein will und alles Streben bei sich festhält. Warum soll ich, der ich mich zu entscheiden habe, für ein Ziel mich erwärmen, ihm meine Hauptkraft widmen, mich, wenn es sein muß, willig aufopfern, wo das Ergebnis nur sehr vermittelt auf das eigne Wohlsein zurückwirkt? Und ist es denn sicher, daß auch wir zusammen mit solcher Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt eine Befriedigung finden? Wohlfahrt, ein sorgenfreies und genußreiches Leben, genügt noch keineswegs den Menschen glücklich zu machen; denn indem wir den einen Feind, die Not und den Schmerz, erschlagen, erwächst uns ein anderer, vielleicht noch schlimmerer, in der Leere und Langeweile, und was gegen diesen die bloße Sozialkultur aufzubieten hat, ist nicht zu ersehen. In Wahrheit trägt alle Kultur, welche sich auf die Pflege und Förderung des Menschen innerhalb des unmittelbaren Daseins beschränkt, unvermeidlich den Stempel einer Öde und Leere; die Sorge um die Mittel des Lebens erstickt hier die um das Leben selbst. Eine innere Wandlung, eine wesentliche Erhöhung des Menschen kann jene Kultur unmöglich bewirken, ja nicht einmal erstreben, sie muß ihn hinnehmen wie sie ihn findet, sie kann nur vorhandene Kräfte benutzen, sie bleibt auch bei höchster Leistung etwas, das dem Menschen nur anhängt wie ein äußeres Gewand, das ihm nie ein unentbehrliches Stück der geistigen Selbsterhaltung wird, ihm nie ein neues, reineres und größeres Leben eröffnet. Wenn nun aber innere Verwicklungen in uns stecken sollten, und wenn wir ein Verlangen nicht ausrotten könnten, unser eignes Dasein in einem anderen Sinne als wir es vorfinden in eigne Tat zu verwandeln, es als ein eignes und ursprüngliches zu führen, auch in ein anderes Verhältnis zum Weltall zu kommen als das einer äußeren Berührung, eines Austausches bloßer Beziehungen, wie armselig, wie nichtig muß dann alles Streben erscheinen, was solche Aufgaben von sich schiebt, wie scheinhaft muß alles selbstbewußte Gepränge dünken, das jene bloße Menschenkultur zu entfalten pflegt! Glück im Sinne bloßmenschlichen Behagens bringt eine echte Kultur keineswegs; sie verwickelt in viel zu viel Probleme und Konflikte, sie fordert viel zu viel Arbeit und Entsagung, um nicht das Leben vielmehr schwerer als leichter zu machen. Ist ein sorgenfreier und behaglicher Stand nicht in einfacheren Verhältnissen weit eher erreichbar als auf der Höhe der Kultur? Kennt daher ihre Bewegung kein höheres Ziel als das der menschlichen Wohlfahrt, so ist sie eine verderbliche Irrung, ein Widerspruch in sich selbst.
Das um so mehr als die bloße Sozialkultur die Bedingungen und Schranken des menschlichen Zusammenseins unvermeidlich zu Bedingungen und Schranken des geistigen Schaffens macht, damit aber dieses mit schwerer Schädigung, ja innerer Zerstörung bedroht. – Das geistige Schaffen, wo und wie immer es sich entfaltet, kann nur gelingen, wenn es um seiner selbst willen mit ganzer Hingebung erfaßt und betrieben wird, die bloße Sozialkultur aber macht aus ihm ein Mittel und Werkzeug menschlichen Glückes, macht damit gleichgültig gegen seinen eignen Gehalt und beugt es unter den seiner unwürdigen Begriff der Nützlichkeit; echtes geistiges Schaffen kann nur aus der Triebkraft einer inneren Notwendigkeit der Sache hervorgehen, und es hat diese Notwendigkeit gegen alle Meinung und Neigung des Menschen zu vollem Siege zu führen; die bloße Sozialkultur kennt kein höheres Forum als eben diese Meinung und Neigung, wenn sie sich nur zu großen Gebilden zusammenballt, die Quantität muß ihr die Qualität ersetzen, und der Durchschnitt der Menschen wird ihr zum Richter über gut oder böse; geistiges Schaffen kann eine volle Ursprünglichkeit nur bei stärkster Erregung der ganzen Seele erreichen, wie sie nur bei freier Entfaltung individuellen Lebens und kräftiger Ausbildung individueller Art erfolgen kann; die bloße Sozialkultur aber wirkt auch bei freiester politischer Verfassung unvermeidlich zu starker Einengung und Abschleifung der Individuen; geistiges Schaffen kann nach Wahrheit nicht streben, ohne eine zeitlose Geltung, eine Überlegenheit gegen allen Wechsel und Wandel zu verlangen, wie denn Spinozas Forderung eines Erkennens »unter der Form der Ewigkeit« ( sub specie aeternitatis) tiefen Eindruck auf die Neuzeit gemacht hat; die bloße Sozialkultur kann sich der Abhängigkeit von der jeweiligen Lage nicht entziehen, sie hat keine Waffe gegen die flüchtige Stimmung der Menschen und muß so schließlich bei unablässigem Umschlagen auch die wichtigsten, die heiligsten Angelegenheiten als eine Sache der bloßen Mode behandeln. Sie muß das wenigstens, sofern sie den Mut und die Kraft der Konsequenz hat und nicht Begriffe wie die einer selbständigen Wahrheit, eines an sich Guten und Bösen verwendet, die in diesen Zusammenhängen nicht das mindeste Recht besitzen. Regt und bewegt sich aber so vieles im Menschen, was die von jener Lebensführung gezogenen Grenzen durchbricht, was mit der Hineinzwängung in sie verwelken und verdorren muß, so kann die bloße Sozialkultur weder dem Einzelnen noch der Gesamtheit das Leben lebenswert machen; bei allem Gewinn im Einzelnen und Äußeren drückt sie das Leben in seinem Innern und Ganzen in einer Weise herab, die auch der Mensch der Gegenwart immer mehr als unerträglich empfindet.
Solches Scheitern der Sozialkultur muß unmittelbar zugunsten der Individualkultur wirken, die Gegenwart selbst stellt deutlich vor Augen, wie eine solche sich mit siegreicher Kraft gegen das erhebt, was ihr als eine bloße Schablonisierung und Mechanisierung, als eine Entseelung des Lebens erscheint. Ein neues Leben erhebt sich mit dieser Wendung; indem es die individuelle Art und das individuelle Befinden in den Vordergrund rückt und in der Gestaltung aller Verhältnisse auf Eigentümlichkeit und Mannigfaltigkeit dringt, indem alle einzelnen Gebiete zu Mitteln für die Befestigung und Darstellung der Individuen werden, ergibt sich viel Freiheit und Frische, viel Beweglichkeit und Fülle, entsteht ein leichtes, freischwebendes, freudiges, allem Zwang, aller Schablone enthobenes Leben, und verteilt sich die Bewegung über die ganze Breite des Daseins. Aber all solch unbestreitbarer Gewinn, den namentlich der Kontrast mit den weitschichtigen Gebilden, mit dem Ernst und der Schwere der Sozialkultur zur Empfindung bringt, enthält noch keine Beantwortung der Frage, ob mit solcher Gestaltung das Leben als Ganzes einen Sinn und Wert erlangt; die Zweifel daran werden namentlich dann entstehen und vordringen und siegen, wenn klar gegenwärtig ist, was Individuum und Individualkultur innerhalb der Schranken des unmittelbaren Daseins allein zu bedeuten vermögen. Denn daß dies Dasein das Ganze unserer Wirklichkeit bildet, und daß sich alle Bewegung innerhalb seiner zu halten hat, das ist eine Voraussetzung, an der sich in diesen Zusammenhängen nicht rütteln und nicht deuten läßt.
Als ein Stück des bloßen Daseins ist das Individuum eine Größe, die hinzunehmen ist so wie sie sich findet, es kann weder nach außen hin noch in sich selbst eine Aufgabe tragen, es kann nicht aus eigner Natur ein Ideal erzeugen, das es über den Anfangsstand hinaustreibt, sondern es kann seinen gegebenen Befund, mag er noch so viele Lücken und Widersprüche enthalten, in keiner Weise verändern; es ist und bleibt was es ist. Zugleich kann es dies individuelle Dasein nicht als die Darstellung oder das Gefäß eines weiteren Lebens, etwa eines Geistes- oder Weltlebens, fassen, das in ihm zu einer eigentümlichen Verkörperung gelangt, es kann nicht glauben, daß was in ihm geschieht, irgend etwas über es hinaus bedeute, vielmehr muß in der Pflege und Förderung des unmittelbaren Daseins, in der Hebung seines eignen Zustandes sich sein ganzes Leben erschöpfen. Was sollte demnach das Leben hier dem Menschen zu bieten vermögen als etwa folgendes: die Wirklichkeit zeigt eine unermeßliche Fülle von verschiedenen Bildungen, jede einzelne derselben gewinnt eine Freude und Lust des Selbstempfindens, des Selbstgenusses, indem sie sich aller versuchten Bindung entwindet oder erwehrt, die eigne Art nach außen hin voll zur Geltung bringt und sie zugleich mit voller Kraft erlebt und genießt; sie wird dieser Lust um so mehr teilhaftig, je mehr sie das Unterscheidende betont, je mehr sie den Abstand von anderen hervorkehrt. Diese Individualisierung aber wird sie möglichst ihrem ganzen Lebenskreise mitteilen und der ganzen Umgebung aufprägen; die Freude, etwas Eignes, Unabhängiges, Unvergleichliches zu sein, wird so das ganze Leben durchdringen, sie scheint ihm eine Befriedigung bei sich selbst zu verleihen.
So nach den eignen Gedankengängen der bloßen Individualkultur; daß sie eine eigentümliche Seite und Beziehung des Lebens zum Ausdruck bringt, daß die von ihr vertretene Bewegung eine berechtigte Kritik an der bloßen Sozialkultur übt, sei bereitwillig anerkannt. Aber wie dürftig, wie leer ist das hier gebotene Leben bei allem schimmernden Gepränge, wenn es das Letzte und Ganze sein soll! Angenommen wir hätten nur mit ausgeprägten und starken Individuen zu tun, und diesen vergönnte ein gütiges Geschick ihre Art rein zu entfalten und vollauf durchzusetzen, immer bliebe auch hier der Mensch an sich selbst und seinen Zustand gebunden, er würde unablässig nur sich selbst genießen, das eigne Tun in der Vorstellung spiegeln und widerspiegeln, er hätte eine unablässige Fülle vergnügter Augenblicke, aber er könnte ein bloßes Neben- und Nacheinander einzelner Zustände nie überschreiten, in ein inneres Ganzes könnte ohne ein Aufgeben der Grundvoraussetzungen ihm nie das Leben zusammengehen. Nun aber fanden wir in dem Menschen ein denkendes und überdenkendes Wesen, ein solches muß nach einem Ganzen fragen und kann, wenn es nichts davon findet, nicht einer Öde und Leere entrinnen. Die bunte Fülle, der rasche Wechsel, der stete Übergang von einem Punkte zum andern mag zeitweilig ergötzen, schließlich erzeugt er unvermeidlich eine Ermüdung und Abstumpfung. Der Mensch ist einmal mehr als die bloße Zuständlichkeit, und sein Leben erschöpft sich nicht innerhalb des besonderen Kreises, sondern es geht weit darüber hinaus, es muß sich mit dem was jenseits des Punktes liegt, ja mit der Unendlichkeit der Welt befassen, es kann nicht umhin hier seine Stellung zu nehmen und von hier aus jenen individuellen Kreis zu betrachten, ja zu erleben. Soweit aber das geschieht, muß ihm das Abschließen beim bloßen Punkt, die Festhaltung alles Strebens und Fühlens bei der Enge und Zufälligkeit dieser besonderen Stelle, das Gefesseltsein des Einzelnen an seine Art, das Fehlen aller Größen, die solche Schwanke durchbrechen, namentlich der Mangel einer gemeinsamen Wahrheit und einer die Gemüter verbindenden Liebe, es muß dies ganze Leben bei aller bunten Fülle unsäglich eng und dürftig erscheinen.
Dabei hatten wir bis jetzt nur mit dem Einzelnen zu tun, dem die Natur eine starke Individualität verlieh und das Schicksal ihre volle Entfaltung gönnt. Wie aber wird es mit dem Durchschnitt der Menschheit? Zeigt er nicht meistens die Einzelnen nur mit matter Regung einer individuellen Art und mit geringer Freude an ihrer Entfaltung? Bereitet ferner nicht die gegenseitige Beengung und Verschränkung der menschlichen Verhältnisse auch dem was an individueller Art an den einzelnen Stellen erscheint, gewöhnlich die schwersten Hemmungen? Und welchen Antrieb kann es hier geben, solchen Hemmungen gegenüber in das Feuer des Kampfes zu gehen, hier wo kein anderes Ziel als das eines seinen Genusses winkt? Auch an dieser Stelle brauchen wir nur die Frage über die einzelnen Vorgänge hinaus auf das Ganze zu richten, zu prüfen und zu erwägen, was dieses an Gewinn erlangt, um ein starkes Manko zu finden, um zu ersehen, daß ein derartiges Leben bei weitem seine Mühen und Kosten nicht lohnt. Der raffinierte Epikureismus, der diese Lebensführung durchdringt, ist immer nahe daran, in einen verzweifelten Pessimismus umzuschlagen; denn die Leere, die im Grunde dieses unablässig vibrierenden Lebens waltet, kann unmöglich sich dauernd der Erfahrung und Empfindung verbergen.
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So scheitert die bloße Menschenkultur in jeder der beiden Richtungen, die sie einschlagen kann; weder die gegenseitige Anziehung noch die gegenseitige Abstoßung der Menschen läßt einen Sinn, läßt irgendwelchen Inhalt des Lebens gewinnen. Die Sozialkultur ist vor allem auf die Bedingungen des Lebens gerichtet, aber über solcher Sorge verkümmert ihr das Leben selbst; die Individualkultur möchte es bei sich selber fassen, aber da sie es nicht über die einzelnen Zustände und Augenblicke zurückzuverlegen vermag, so geht es ihr nicht in ein Ganzes zusammen, so erreicht es keine Innerlichkeit, keine Innenwelt, so fehlt auch hier eine wahrhaftige Seele, und es bleibt alles Tun und Treiben an die Oberfläche gebannt. Weder hier noch dort wird ein echtes Beisichselbstsein der Seele gewonnen. Diese Leere des Ganzen, den Mangel an Inhalt hier wie dort verbirgt oft der unablässige Kampf der einen Richtung gegen die andere; gewiß hat jede von ihnen ein gewisses Recht, eine gewisse Überlegenheit gegen die andere; indem sie diese zur Geltung bringt und je nach den Bedürfnissen der Zeitlage durchsetzt, erhält das Leben eine Spannung, und ein Fortschritt scheint unbestreitbar. Aber der Fortschritt in der einen Richtung ist nicht schon eine Erhöhung des Ganzen, auch ist das Vordringen der einen Bewegung gegen die andere nicht schon ein Erweis des eignen Rechtes und der eignen Zulänglichkeit; dazu pflegt der Wandel der Zeiten dasjenige, was sich für die eine Epoche in sicherem Rechte fühlt, für eine andere ins Unrecht zu setzen; mögen die großen Wogen, die hier entstehen, ganze Jahrtausende umfassen, schließlich kommt doch eine Zeit, wo die entgegengesetzte Strömung durchbricht und alle überkommene Schätzung zurückdrängt, ja umkehrt, wo entweder die Emanzipation über die Organisation oder aber die Organisation über die Emanzipation triumphiert. Was aber ergibt dieses Auf- und Abwogen für das Ganze der Menschheit an bleibendem Wahrheitsgehalt?
Die Menschenkulturen täuschen sich über ihre Nichtigkeit vornehmlich dadurch hinweg, daß sie verstohlenerweise aus dem Menschen weit mehr zu machen pflegen, als sie in diesen Zusammenhängen können und dürfen. Sie setzen eine geistige Atmosphäre voraus und stellen in sie das menschliche Leben und Streben hinein; so scheinen im Zusammenschluß der Menschen zu fester Gemeinschaft Quellen der Wahrheit und Quellen der Liebe hervorzubrechen, so scheint das Individuum eine unsichtbare Geisteswelt hinter sich zu haben und ihrer Entwicklung mit seiner Arbeit zu dienen. Dann läßt sich hier wie dort dem Leben eher ein Sinn abgewinnen, aber der Boden einer bloßen Daseinskultur ist damit verlassen, und wir geraten in dieselben Verwicklungen hinein, von denen die Wendung zu jener befreien sollte.
Oder aber es wird dadurch dem Problem seine Spitze abgebrochen, daß hier wie dort eine Idealisierung des Menschen erfolgt, daß dort ein leichter Zusammenschluß der Kräfte, ein freudiges Miteinanderwirken, eine Summierung aller vorhandenen Vernunft vorausgesetzt wird, während hier das Individuum ohne weiteres als edel und groß, als mit lauter bedeutenden Dingen befaßt gedacht wird; es ist ein gewisser Menschenglaube, der den wirklichen Befund ergänzt und erhöht. Aber rechtfertigen eben die Eindrücke der jüngsten Zeiten diesen Menschenglauben? Steht vor unseren Augen nicht eine ungeheure Leidenschaft der Massen, ein rücksichtsloses Vordringen, ein Herabziehen aller Kultur auf das Niveau ihrer Interessen und ihres Verständnisses, eine Neigung, für die Qualität die Quantität einzusetzen, eine arge Vergröberung, ja Verrohung des Lebens, ein starker Druck gegen die Freiheit des Einzelnen, bei dem allen ein trotziges Selbstbewußtsein der Masse? Und sehen wir nicht auf der anderen Seite, der Seite des Individuums, Kleines und Niedriges in Hülle und Fülle, verbrämte Selbstsucht und eitle Selbstbespieglung, die Sucht, um jeden Preis etwas besonderes zu sein, ein lautes Sichvordrängen und widerwärtiges Scheinwesen, Mangel an Mut inmitten prunkvollen Geredes, eine matte Gesinnung gegenüber allem, was geistige Aufgaben angeht, die regste Beflissenheit aber, sobald der eigne Vorteil in Frage kommt. Das alles fällt viel zu sehr in die Augen, um sich übersehen zulassen; wenn man trotzdem unbedenklich von der Größe der Menschheit oder von der Vortrefflichkeit der Individuen redet, die nur freie Bahn zu erhalten brauchen, um alles zu Glück und Größe zu führen, so erscheint darin ein wunderlicher Glaube an den Menschen, ein Menschenglaube, der unter allen Arten des Glaubens wohl am meisten angreifbar ist. Wenn der Glaube der Religion eine zuversichtliche Annahme von etwas verlangte, was sich nicht mit Augen sehen und mit Händen greifen läßt, so konnte er, da ihm die Welt der Erfahrung nicht als das Ganze der Wirklichkeit galt, sich auf offene Möglichkeiten berufen, und es stieß die Behauptung nicht direkt mit dem Befunde der Erfahrung zusammen. Das aber tut sie bei jenem Menschenglauben. Denn er begnügt sich nicht mit der Forderung, etwas zu glauben, was wir nicht sehen, er verlangt von uns, daß wir innerhalb der Erfahrung das direkte Gegenteil dessen annehmen, was der unbestreitbare Augenschein zeigt.
Da auch die Bewegung der Geschichte an den Grundbedingungen des Lebens nichts zu ändern vermag, so entfällt alle Hoffnung, durch Entwicklung einer bloßen Menschenkultur unserem Dasein einen Sinn und Wert zu verleihen; selbst wenn ihre Ziele erreichbar wären, sie könnten uns unmöglich Befriedigung bieten. Nun ist in der Neuzeit viel bloße Menschenkultur entfaltet, und sie hat die Bewegung des Lebens in ihre Bahnen gezogen. Aber je selbständiger und ausschließlicher sie wird, je mehr sie alles abwirft und austreibt, was aus tausendjähriger Arbeit der Menschheit in sie einfloß und sie freundlich ergänzte, desto deutlicher werden ihre Schranken, desto mehr muß sie sich durch ihr eignes Ausleben zerstören.
Das empfindet die Gegenwart mit steigender Kraft, ein tiefer Überdruß an dem Bloßmenschlichen, eine starke Abneigung gegen das Bloßmenschliche greift immer mehr um sich, immer deutlicher empfinden wir, daß das Leben allen Sinn und Wert verliert, wenn der Mensch sich nicht an einem Mehralsmenschlichen in die Höhe arbeiten und in seiner Ergreifung mehr aus sich machen kann, als der Befund der Erfahrung ihn zeigt. Die Ablösung von der großen Welt und das Sichabschließen in einer besonderen Art überantwortet augenscheinlich den Menschen einer unerträglichen Enge und Kleinheit, sie verschließt ihm die Tiefe des eignen Wesens. So hören wir heute viel von Übermenschlichem und Übermenschen reden, aber alle echte Sehnsucht, die in solchem Streben wohnen mag, schützt es nicht vor einem Verfallen in ein eitles und nichtiges Phrasentum, wenn dieses Übermenschliche innerhalb der Welt der Erfahrung, im Umkreis des unmittelbaren Daseins gesucht wird. Denn viel zu streng binden hier den Menschen Natur und Geschick, als daß ein diktatorisches Machtwort ihm zu neuem Leben und Sein zu verhelfen vermöchte. Entweder also ein Bruch mit der bloßen Daseinskultur oder ein Verzicht auf alle innere Erhöhung des Menschen und zugleich auf einen Sinn seines Lebens; ein Drittes kann nur eine flache und flüchtige Denkart für möglich erachten.