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Bis jetzt gelangte vom Leben der Gegenwart vornehmlich das Nein zur Erörterung; daß dieses Nein nicht das Ganze ist, daß von ihm aus ein Weg zur Bejahung führt, das läßt schon eine allgemeinere Erwägung hoffen. Bei Problemen geistiger Art pflegt hinter jedem Nein ein Ja zu stehen, ein Ja, das weiter zurückliegt und oft höchst unbestimmter Art ist, das aber bei aller Unvollkommenheit immer noch ein Ja bleibt. Ein wahrhaftiger Schmerz über die Versagung eines Gutes kann nur da entstehen, wo ein Verlangen nach jenem der eignen Natur innewohnt, wo in ihr sich etwas regt und aufstrebt, das nur nicht vollauf befriedigt wird; wäre gar keine Bewegung, gar kein Begehren vorhanden, so könnte die Nichterreichung des Zieles in keiner Weise betrüben und aufregen. Wenn den Indern z. B. alles menschliche Leben und Streben, an der Ewigkeit und Unendlichkeit des Weltalls gemessen, denen ihre logische Phantasie eine anschauliche Nähe gab, als durchaus flüchtig und nichtig erschien, so ergab das einen tiefen Schmerz nur deshalb, weil der Mensch jene Flüchtigkeit nicht ruhig hinnahm, er sich nicht in ein Augenblickswesen verwandeln ließ, sondern mit seinem Denken die Ewigkeit umspannte und für sein Leben ein Teilhaben an ihr verlangte. Bezeugt hier das Empfinden des Mangels nicht eine eigentümliche Größe des Menschen? Muß nicht etwas Ewiges in ihm sein, wenn die bloße Zeit ihm nicht genügt? Auf dem Boden des Christentums war die Überzeugung oft bis zu unerquicklichem Kleinmut von der moralischen Unzulänglichkeit, ja Verworfenheit des Menschen erfüllt. Aber kann eine solche moralische Beurteilung bestehen, ohne in dem Menschen ein moralisches Wesen, ein Vermögen freien Handelns anzuerkennen und ihn damit weit über allen Naturmechanismus hinaufzuheben? Das Ja ist hier tief versteckt, aber gäbe es gar kein Ja, so wäre auch das Nein undenkbar. So erweist auch die Erfahrung, daß das Fehlen eines Sinns in unserem Leben und Streben zu einem so schweren Mangel wird, und daß es die menschlichen Verhältnisse so unsäglich verwirrt, so erweist diese Erfahrung die weitere Tatsache, daß ein Verlangen nach einem solchen Sinn tief in unserem Wesen angelegt ist, daß uns von innen her eine überlegene Macht zum Versuch einer inneren Durchleuchtung und vollen Aneignung des Lebens treibt.
Hüten wir uns von der eignen Zeit gering zu denken, weil sie sich so unfertig ausnimmt und so voller Widersprüche zeigt. Ist sie nicht zum guten Teile nur deshalb unfertig, weil sie mehr verlangt als andere Zeiten, und hat sie nicht namentlich deshalb so schwer an den Widersprüchen zu tragen, weil sie die Möglichkeiten des Lebens mit so glühendem Verlangen und so gewaltiger Energie durchlebt und auslebt? Welche Zeit hat so sehr den Kreis der Möglichkeiten durchmessen, so sehr an jede von ihnen freudigen Glauben und eifrige Arbeit gesetzt? Nie hat eine andere Zeit eine solche Fülle von Lebensgestaltungen hervorgebracht, nie eine andere das Lebensproblem in so weitem Umfang und mit solcher Bewußtheit behandelt, wie die unsrige es tut. So wird sich sicherlich auch bei ihr aus dem, was zunächst als bloße Begrenzung und Verneinung erscheint, schließlich ein Ja herausheben lassen.
Denn was ist es, was jene Begrenzung und Verneinung bewirkt? Es ist keine außer uns befindliche Macht, es ist unser eignes Leben, das jenen Abschluß zurückweist, der Widerstand liegt nicht draußen, sondern drinnen, und er ist damit eine Erweisung der Kraft; die Forderungen, welche keine Befriedigung fanden, wurden nicht von draußen gestellt, sondern sie steigen aus unserem eignen Wesen auf und zeigen zugleich die Richtung, die unser Streben einschlagen muß. Ja es kann sich keine unbefangene Betrachtung der Gegenwart dem Eindruck entziehen, daß hinter allen ihren Kämpfen und Wirren ein gehaltvolleres Leben steht, das sich in ihnen sucht, ihnen Kraft und Leidenschaft einflößt, dann freilich unbefriedigt aus ihnen zurückkehren muß. Nur weil eine größere Tiefe sich in uns regt, aber nicht zur vollen Belebung kommt, sind wir in solche Unruhe und Unsicherheit geraten. Auch ein Zug zum Ganzen erscheint unverkennbar in der Energie, mit der die verschiedenen Lebensgestaltungen einander bekämpfen; eine gewisse Überlegenheit erweisen wir schon dadurch, daß wir sie alle zu überschauen und gegeneinander abzuwägen vermögen; der Parteimensch mag ein bloßer Stückmensch bleiben, die Menschheit als Ganzes ist mehr als solches Stückmenschentum. So befinden wir uns heute unbestreitbar innerlich in einer höchst unfertigen Lage, in der Nein und Ja durcheinandergehen; eine neue Art strebt auf, aber sie vermag sich nicht zur Genüge durchzusetzen, in uns wirkt mehr als unser Bewußtsein erfaßt, aber es ist noch nicht unser voller Besitz. Jedenfalls enthält die Begrenzung und Verneinung selbst einen starken Antrieb ihr entgegenzuwirken.
In solcher Allgemeinheit aber fördert dieser Gedanke uns wenig, es gilt bestimmte Fragen und bestimmte Angriffspunkte zu gewinnen, wenn unsere Arbeit in Fluß kommen soll. Aber solche gewähren in der Tat die besonderen Erfahrungen, welche aus dem Verlangen nach einem Sinn des Lebens hervorgehen; denn sie zeigen deutlich, was bei der Frage entscheidet, und welche besondere Richtung unser Streben einschlagen muß. Es genügt an dieser Stelle die Hauptpunkte zu bezeichnen, um uns über das Ziel zu orientieren. – Der Sinn des Lebens geriet uns namentlich deshalb in Unsicherheit, weil wir über den Hauptstandort des Lebens uns entzweiten und keiner seine Überzeugung zum Siege zu bringen vermochte. Das Festhalten einer unsichtbaren Welt und die ausschließliche Richtung auf das unmittelbare Dasein stellten sich unversöhnlich gegeneinander. Nun hat sich gezeigt, daß die sichtbare Welt mit allem, was sie an Möglichkeiten bietet, unerläßliche Forderungen des Menschenwesens unerfüllt läßt und auch bei höchster Anspannung ihres Vermögens dem Leben keinen Sinn gewährt; so notwendig wir demnach auf der Forderung eines Sinnes bestehen müssen, so gewiß besitzt unser Leben eine größere Tiefe, als das unmittelbare Dasein ihm gibt. Aber wenn damit der Gedanke einer Überwelt auch für uns mehr Bedeutung gewinnt, an der bisherigen Art ist vieles unzulänglich geworden. Die ältere Art der Begründung genügt uns nicht mehr, das dort gebotene Leben ist uns zu eng geworden, auch gewährt es dem unmittelbaren Dasein nicht die Bedeutung, welche die Erfahrungen der weltgeschichtlichen Bewegung ihm errungen haben. Es käme also darauf an, zu einem Leben vorzudringen, das eine Zweiheit der Ausgangspunkte begreiflich macht, zu einem Leben, das der Überwelt eine volle Sicherheit und Ruhe gibt und das zugleich die Bedeutung des unmittelbaren Daseins wahrt. Ohne Erweiterungen des Begriffes der Wirklichkeit und ohne Abstufungen innerhalb unseres Lebens, ja ohne eine Art von Umkehrung, sind solche Forderungen nicht zu erfüllen; es gilt zu prüfen, ob jene möglich sind. Das vor allem muß dabei gegenwärtig sein, daß eine Überwelt die nötige Sicherheit und Weite nur zu gewinnen vermag, wenn sie nicht von der Erfahrungswelt mühsam erschlossen oder ersehnt wird, sondern wenn sie die volle Selbständigkeit eines eignen Lebens erlangt; das aber kann sie nur, wenn wir in ihr nicht eine bloße Entwicklung unserer Kräfte nach besonderen Richtungen, sondern ein ursprüngliches Ganzes des Lebens und Seins zu finden vermögen. Danach also gilt es Ausschau zu halten.
Bei der Lebensgestaltung erschien ferner ein unversöhnlicher Konflikt zwischen einer Wendung zur Welt und einer Beschränkung auf den Menschen. Die völlige Versetzung in einen Weltprozeß zerstörte alles Selbst des Menschen und damit allen Wert seines Lebens, der Naturmechanismus wie der Denkprozeß trafen in diesem Punkte zusammen. Die Beschränkung auf den Menschen und die bloße Befassung mit seiner Zuständlichkeit ergab ein so enges und dürftiges Leben, sie kehrte so sehr das Kleine am Menschenwesen hervor und machte so wehrlos gegen das Gemeine in ihm, daß sich ein Abschluß dabei zwingend verbot. Wenn so in der Entgegensetzung die Welt zu kalt, der Mensch zu klein, eines wie das andere aber seelenlos wird, so ist jenes Entweder-oder aufzugeben und nach einer Überwindung des Gegensatzes zu streben: irgendwie und in irgendwelchem Umfang muß die Welt zum unmittelbaren und eignen Leben des Menschen werden, in einer gewissen Tiefe seines Wesens muß der Mensch die Gebundenheit und die Punktualität seiner natürlichen Existenz überwinden. Jedes von beiden aber muß in solcher Vereinigung den unmittelbaren Anblick erheblich verändern. Vielleicht wird es bei solcher Wandlung auch möglich sein, bei der Welt den Gegensatz von Natur und Intellekt, beim Menschen den von Gesellschaft und Individuum zu überwinden, in den sich sonst das Leben zerspaltet und aufreibt.
Möglichkeit einer inneren Erhöhung des Menschen und zugleich eines anderen Grundverhältnisses zur Wirklichkeit, das ist es, was hier in Frage steht, und woran die Entscheidung des Ganzen hängt. Eine große Krise der Kulturentwicklung kommt damit zum Ausbruch: die unablässige Erweiterung des Gesichtskreises, das Vordringen und Großwerden der Arbeit, die wachsende Klärung des Denkens droht den Menschen in seiner Besonderheit immer tiefer herabzudrücken; die überlegene Größe, die eine naivere Denkweise früherer Zeiten ihm gab, scheint unrettbar verloren. Aus dem Mittelpunkt des Alls, in dem er als Kind der Gottheit oder als Träger der Vernunft sich vormals fühlte, ist er immer weiter in eine Nebenstellung gedrängt, als ein bloßer »Tropfen am Eimer« hat er keine Aussicht, den Gründen der Wirklichkeit innerlich nahe zu kommen. Mehr und mehr hat die Bewegung der Kultur die Art, wie der Mensch die Welt sich anzueignen suchte, zu einem bloßen Anthropomorphismus gestempelt; ist nicht alles Anthropomorphismus, was an menschlicher Behauptung über die Wirklichkeit gewagt wird, ist wie Religion und Spekulation, so nicht auch die Wissenschaft eine bloße Zurechtlegung unserer eignen Gedanken? Von seiner besonderen Art scheint der Mensch sich nirgends ablösen zu können, und zugleich verfällt sein Leben einer unerträglichen Leere, wenn es sich gänzlich im eignen Bereiche einspinnt. Die Lage, die daraus erwächst, ist in keiner anderen Weise zu überwinden als dadurch, daß im Bilde des Menschen selbst sich eingreifende Wandlungen vollziehen, daß in ihm eine Scheidung erfolgt zwischen einer engeren und einer weiteren Art, zwischen einem bloß- und engmenschlichen Leben, das nie sich selbst überschreiten kann, und einem mehralsmenschlichen, das ihn unmittelbar in eine Weite und Wahrheit des Alls versetzt. Auf der Möglichkeit einer solchen inneren Erhöhung des Menschen beruht alle Hoffnung, unserem Leben einen Sinn und Wert zu bewahren; denn daß ein solcher sich ihm nicht von außen zuführen läßt, daran können wir heute nicht zweifeln.
Auch kann nur eine solche Erhöhung des Menschen uns den Eindrücken gewachsen machen, die der nächste Anblick unserer Lage dem denkenden Menschen der Gegenwart unvermeidlich erzeugt. Deutlich vor Augen steht uns die Unendlichkeit der Natur und die Gleichgültigkeit, das Verlorensein des Menschen in dieser Unendlichkeit, deutlich das wilde Getriebe des gesellschaftlichen Lebens mit seiner leidenschaftlichen Aufregung und seiner geistigen Öde, deutlich die moralische Kleinheit des Menschen mit seiner Selbstsucht und seinem Hangen am Schein, zugleich seine starre Gebundenheit an Naturtriebe nicht zu bezwingender Art; das alles ist für jede Überzeugung vorhanden und ist in keiner Weise hinwegzudeuten. Aber es fragt sich, ob es das Letzte und Ganze ist, das wir wie ein unentrinnbares Geschick unter Verzicht auf alle Vernunft unseres Daseins geduldig hinnehmen müssen, oder ob wir ihm etwas entgegenzusetzen haben, den Kampf mit ihm aufnehmen, ja ihm überlegen werden können. Wer den letzteren Weg versucht, der wird nur mühsam und unter steten Gefahren vordringen können, aber es ist der einzige Weg, der eine geistige Selbsterhaltung der Menschheit hoffen läßt, und wenn irgend, so hat an dieser Stelle das Goethesche Wort ein Recht, daß der beste Ratgeber die Notwendigkeit ist.