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Zuweilen fühlte der Norweger, wie die Augen des Alten auf ihm ruhten. Er wußte, daß er dem Gelehrten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war; das stand aber bei ihm fest, daß er sein Leben so teuer wie möglich verkaufen würde. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Alte, wenn es ihm gerade paßte, ihn kaltblütig über den Haufen schießen würde. Hatte er doch noch vier Kugeln in seinem Revolver. Könnte er ihm doch nur den Revolver aus den Händen locken, dann wäre der Alte entwaffnet. Der Revolver steckte in einer der Manteltaschen.
Plötzlich schoß ihm eine Idee durch den Kopf. Er kroch in die Ruine hinein. Der Alte stand mißtrauisch dabei und beobachtete ihn.
Der Norweger winkte ihm zu.
»Ich muß mit Ihnen reden«, sagte er. »Das geht nicht, daß wir miteinander in Feindschaft leben.«
Der Alte kam näher. Nach wenigen Sekunden war auch er in der Hütte.
»Sie sind also auf andere Gedanken gekommen,« sagte er. »Nun, das freut mich.«
Er setzte sich neben den Norweger und blickte ihn aufmerksam an.
»Ist es Ihnen wirklich ganz unmöglich, das zum Tode verurteilte junge Mädchen zu retten?« fragte er.
»Unmöglich nicht«, erwiderte der Gelehrte stolz. »Es gibt überhaupt herzlich wenig, was unmöglich ist. Aber es kollidiert mit meinem Plan und bringt ihn vielleicht zum Scheitern. Derartiges möchte ich nicht riskieren.«
»Wenn ich mich nun aber weigere, Ihnen bei Ausführung Ihres Planes behilflich zu sein, was dann?«
»Ich habe es Ihnen ja gesagt. Wahrscheinlich bin ich dann dazu gezwungen, Sie zu töten.«
»Kaltblütig würden Sie einen neuen Mord begehen?«
Der Alte lachte nur auf, erwiderte aber nichts. Ein Schaudern überlief Harald Vik.
»Jedenfalls möchte ich Sie doch bitten, mir einen großen Dienst zu erweisen«, fuhr der Norweger fort. »Wenn ich heute nacht sterben sollte, müssen Sie einem Freunde in meinem Vaterlande einen geschriebenen Gruß überbringen.«
»Das soll geschehen,« entgegnete der Alte. »Wie heißt Ihr Freund?«
»Asbjörn Krag.«
Hier stieß der Alte einen Fluch aus.
»Schon wieder dieser Mensch,« sagte er. »Nun, ich werde Ihnen diesen Dienst dennoch erweisen.«
»Ich danke Ihnen. Und so will ich denn diesen sonderbaren Brief schreiben,« erwiderte Harald Vik. »Ich setze voraus, daß Sie sich unten in der Kantine auch mit einer Schachtel Streichhölzer versehen haben. Würden Sie sie mir leihen?«
Der Alte griff in die Tasche und holte die Schachtel heraus
»Bitte sehr,« sagte er; »aber achten Sie darauf, daß man von unten das Licht nicht durch die Oeffnung leuchten sieht.«
Harald Viks Plan war nun gelungen.
Auf dem Steinfußboden der Hütte lag ein kleiner Haufen Stroh, Federn und dergleichen. Hielt er das brennende Streichholz daran, würde es gar nicht lange dauern, bis alles in hellen Flammen stand.
Harald Vik riß das Zündholz an und verlor es scheinbar aus Versehen; machte aber dabei eine so ungeschickte Bewegung, daß der Alte dadurch gehindert wurde, das Feuer zu löschen. Im Augenblick stand das Innere in Flammen.
Harald Vik schrie und lärmte, um die Verwirrung zu verschlimmern. Durch Daraufschlagen mit seinem Hut versuchte der Alte die Flammen zu ersticken; aber vergebens. Jede Sekunde, in der das Dach hier oben erleuchtet war, konnte folgenschwer werden. Das wußte der Norweger.
»Ziehen Sie den Mantel aus und ersticken Sie damit das Feuer!« rief er.
Der Alte sah ein, daß der andere recht hatte; er riß ihn ab und warf ihn über die Flammen. Harald Vik half ihm beim Ersticken des Feuers, das sofort erlosch.
Als die Gefahr überstanden war, kroch der Norweger eiligst aus der Hütte heraus, indem er sagte:
»Hier werden wir bald an Luftmangel zugrunde gehen.«
Sein Gesicht schmerzte von dem beißenden Rauch. Gleich darauf erschien auch der Gelehrte auf dem Dache; die Reste seines Mantels trug er bei sich.
»Der Mantel ist natürlich hin?« fragte Harald Vik.
»So ungefähr,« entgegnete der Alte, wobei er die Reste vorzeigte. Große Löcher waren hineingebrannt, und schon von weitem roch er angesengt.
»Es ist aber doch nicht schlimmer,« fuhr er fort, »als daß man ihn noch ganz gut tragen kann.«
Er zog den Mantel an; nun sah er noch lächerlicher aus als vordem.
Harald Vik stand einige Schritte von ihm entfernt und wartete darauf, daß der Alte eine Entdeckung machen würde.
Nun begann der Gelehrte seine Taschen zu untersuchen, wobei er sprach: »Ihr Verhalten war sehr eigentümlich. Fast hatte es den Anschein, als ob Sie mit Willen und Ueberlegung das Feuer angelegt haben. Ah, nun verstehe ich!«
Plötzlich wurde der Alte blaß vor Wut und machte Miene, sich wie ein Raubtier auf den Norweger zu stürzen.
Harald Vik stand jedoch ganz ruhig da, den Revolver des Alten vor sich.
»Es sind noch vier Kugeln darin«, rief er. »Hüten Sie sich. Keinen Schritt weiter, sonst schieße ich!«
»Räuber!« zischte der Alte, zitternd vor Ueberraschung und Wut. »Geben Sie mir den Revolver zurück!«
»Nach den Drohungen, die Sie kürzlich ausstießen, wäre das eine große Dummheit. Ich werde Sie jetzt zwingen, auch noch das junge Mädchen zu retten. Entweder kommen wir alle von hier fort oder niemand. Gestehen Sie nur,« fügte er lachend hinzu, »daß die Sache mit dem Feuer ein guter Einfall von mir war. Es wäre recht schwierig gewesen, in irgendeiner andern Weise mit Ihrer Manteltasche in Berührung zu kommen. So ... so ... nur immer ruhig. Sie sehen doch, daß ich den Finger am Hahn habe. Noch eine Bewegung – selbst die geringste – und ich schieße. Glauben Sie, Ich kenne Ihre Stärke und Gewandtheit nicht? Es ist mir vollkommen klar, daß mein Leben auf dem Spiele steht.«
Der Alte schäumte vor Wut. Harald Vik erwartete einen gewaltigen Zornesausbruch, als plötzlich beider Aufmerksamkeit auf etwas Neues gelenkt wurde.
Tief unten vom Gefängnishof ertönte ein unheimlicher Schrei.
Im Anfang war Harald Vik sich darüber nicht klar, was für eine Art Schrei es gewesen sein könnte. Gespensterhaft drang er durch die Nacht und ließ den Norweger zusammenschrecken. Beide horchten angestrengt.
Dann wiederholte sich der Schrei, stärker, unheimlicher.
In diesem Moment schlug die Domuhr eins.
»Was war das für ein Schrei?« fragte der Norweger. Noch immer stand er mit dem geladenen Revolver da, hatte aber die Hand sinken lassen ..... »Aehnliches habe ich im Leben nie gehört«, fügte er hinzu.
»Hier in diesem Gefängnis habe ich auch noch nie Eulen schreien hören,« antwortete der Alte, der jetzt die Episode mit dem Revolver scheinbar vergessen hatte.
»War's ein Eulenschrei?«
»Jawohl; aber es wird ein Signal gewesen sein.«
»Oder ein Warnungsruf.«
»Schon möglich. Warten Sie nur noch ein paar Minuten, dann wissen wir des Rätsels Lösung.«
Einige Minuten verhielten die beiden sich mäuschenstill und horchten hinaus. Eine eigentümliche Stimmung hatte sich Harald Viks bemächtigt. Sein Herz klopfte so ungestüm, daß er meinte, die einzelnen Schläge hören zu können.
Der Verkehr dort unten in der großen Stadt war einer fast lautlosen Stille gewichen; nur dann und wann flatterte ein Ruf oder das Geräusch eines fahrenden Wagens zu ihnen empor. Ueber dem ganzen Gefängnis, dem ›Schwarzen Stern‹, lag bleischwer Dunkelheit und Stille.
Nun aber hörten sie wiederum den Eulenschrei. Er schien diesmal von einer ganz andern Seite des Gefängnisses, dem östlichen Teile desselben, zu kommen. Vom Westen her kam die Antwort.
»Es wird das Signal zum Beginn des Aufruhrs sein,« flüsterte der Alte. »Hören Sie ... Hören Sie ...«
Ein eigenartiger Lärm aus dem Gefängnishof ließ sich jetzt vernehmen.
Der Alte lief an den Rand des Daches, wobei er dem Norweger winkte, ihm zu folgen.
Dann wies er hinunter.
An der Eingangspforte erblickten sie Lichter, die sich hin und her bewegten. Von dort kam der Lärm. Harald Vik hatte den Eindruck, als ob Türen aufgebrochen würden. Aus allem ging hervor, daß viele Menschen dort unten auf den Beinen seien; denn immer mehr Laternen kamen hinzu. Plötzlich hörten sie zwei Revolverschüsse.
Der Alte fuhr zusammen.
»Ein solcher Schuß kann alles vernichten«, sagte er.
Es fielen jedoch nicht mehr Schüsse als diese beiden. Der Menschenauflauf am Gefängnisportal wurde immer größer. Harald Vik war von dem, was unten geschah, ganz in Anspruch genommen; der Alte jedoch stand in seinem durchlöcherten, schmutzigen und verräucherten Mantel ruhig da und betrachtete das Schauspiel, – ein siegesgewisser General bei Beginn der Schlacht.
»Ich hatte recht,« sagte er leise. »Nun ist das Verwaltungsgebäude beleuchtet. Sehen Sie, wie sich das Licht langsam von Fenster zu Fenster fortpflanzt?«
»Sind es Aufrührer oder Soldaten?«
»Ich weiß es noch nicht. Warten wir noch drei Minuten, dann will ich es Ihnen sagen.«
Wartend betrachteten sie das merkwürdige Leben und Treiben, das sich dort unten im Gefängnishof vor ihren Augen abspielte. Sie konnten die Gestalten nicht voneinander unterscheiden, nur die Bewegungen der Fackeln und Laternen.
»Drei Minuten sind nun vergangen,« sagte der Alte, »jetzt bin ich meiner Sache gewiß. Die Aufrührer sind Herren des Gefängnisses. Wahrscheinlich sind schon mehrere Aufseher getötet und der Direktor gefangen.«
»Oder getötet?«
»Ich glaube, man hat ihn nur gefangen. Sie sind schlau genug, ihn als Geisel am Leben zu lassen.«
»Was wird denn nun geschehen?« fragte Harald Vik in äußerster Spannung.
»Das läßt sich immer deutlicher erkennen,« erwiderte der Gelehrte, »ich sehe nach und nach, daß alle meine Mutmaßungen richtig waren. Ich erblicke Licht im Kriminalmuseum, man plündert die Waffenkammern. Jetzt haben die Aufrührer nur noch eines zu tun: sich über die Stadt zu stürzen, zu rauben, was sie erreichen können, und dann über Land zu verschwinden. Selbstverständlich wird jedenfalls der größte Teil wieder aufgegriffen werden. Aber jeder hofft doch, zu jenen zu gehören, die mit heiler Haut davonkommen.«
»Und Sie glauben, diesem fürchterlichen Aufruhr Einhalt gebieten zu können?«
»Jawohl, wir drei wollen ihm Einhalt gebieten.«
Der Norweger fuhr zusammen.
»Na, endlich,« sagte er. »Sie gehen also darauf ein, das zum Tode verurteilte junge Mädchen zu retten?«
Verbissen und mit gedämpfter Stimme antwortete der Alte:
»Mein Bester, Sie haben ja den Revolver.«
Er wandte sich um und ging fort. Harald Vik folgte ihm. Beide kletterten durch den Schornstein hinab, den sie benutzen mußten, um nach der Zelle des jungen Mädchens zu gelangen. Der Gelehrte kletterte voran.
Als sie auf den dunklen Flur gelangten, hörten sie unter sich gewaltigen Lärm. Es kam ihnen vor, als befänden sie sich in einer Fabrik zur Arbeitszeit.
»Die Gefangenen entweichen«, flüsterte der Alte. »Schnell, schnell! Wir dürfen keine Sekunde verlieren.«
Als sie die Zellentür erreicht hatten, begann der Alte sofort, das Schloß mit einem Brecheisen zu bearbeiten. Von drinnen hörten sie eine ängstliche Frauenstimme fragen, was los sei.
Nach zehn Minuten furchtbarster Anstrengung ging das Schloß auf. Der Norweger war der erste, der die zersplitterte Tür zur Seite schob und in die Zelle trat.
»Wir sind Freunde«, rief er dem Mädchen zu, das sich ängstlich in eine Ecke verkrochen hatte. »Wir sind gekommen, Sie zu retten.«
»Ich kenne Sie nicht«, flüsterte die Anarchistin.
»Das ist einerlei. Es ist Aufruhr im Gefängnis ausgebrochen, die Aufseher sind ermordet.«
»Werden wir uns den Aufrührern anschließen?«
»Das wird wenig nützen. Innerhalb einer Stunde wird der Aufstand niedergeschlagen sein. Aber wir werden Sie dennoch retten; verlassen Sie sich nur auf uns und folgen Sie.«
»Ich verlasse mich auf Sie«, sagte das junge Mädchen und ergriff Harald Viks Arm.
Währenddessen hatte der Alte in der Zellentür gestanden und ungeduldig dem Gespräch zugehört. Nun trieb er zur Eile an; als sie durch den Korridor gingen, schritt er selbst voran.
In der Nähe des Schornsteins wurden sie von einer Gestalt aufgehalten, die in der Dunkelheit gegen sie stieß. Der Betreffende feuerte einen Schuß auf den Gelehrten ab, der ihn jedoch nicht traf. Sofort versetzte der Alte dem Angreifer einen so gewaltigen Schlag auf den Kopf, daß dieser ohnmächtig zusammensank. Beim kurzen Aufflammen des Revolvers hatten sie die Uniform eines Gefangenenaufsehers erkannt.
»Armer Kerl,« sagte der Alte, »den Bestien dort unten ist er entkommen, und nun läuft er uns direkt in die Arme. Seine Verfolger werden gleich hinter ihm her sein; wir müssen uns beeilen.
Der Lärm im Gefängnis hatte sich außerordentlich gesteigert. Schon hörten sie aus dem darunterliegenden Stockwerk erregte Menschenstimmen.
Es dauerte aber nicht lange, dann waren sie alle drei im Schornstein verschwunden, und einige Minuten später standen sie zusammen auf dem Dache.
Die Anarchistin trank die reine, kräftige Nachtluft in vollen Zügen.
»Noch weiß ich nicht, ob mir träumt oder ob ich wache«, sagte sie. »Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben und erwartete jeden Morgen, daß der Henker kommen würde, um mich an den elektrischen Stuhl zu führen. Und nun ... nun sehe ich plötzlich Rettung und Freiheit vor mir.«
Der Norweger ergriff ihre Hand.
»Ich habe Ihr Antlitz hinter dem Gitterfenster gesehen«, sagte er. »Ich habe geschworen, Sie zu retten oder bei einem Rettungsversuch mein Leben zu lassen. Seien Sie nur mutig und stark; dann wird's schon gelingen.«
Mittlerweile war der Alte bis an die Telephonleitung herangekrochen. Die andern folgten ihm und schauten mit Spannung seinen Experimenten zu.
Das junge Mädchen wußte nicht, was er vor hatte; Harald Vik war jedoch gleich davon überzeugt, daß er mittels Telephons die Stadt von der furchtbaren Gefahr, in welcher sie schwebte, unterrichten wolle.
»Fertig«, murmelte der Alte.
Er schaltete den Strom ein und hob den improvisierten Hörer ans Ohr.
Lange horchte er; es schien aber keine Antwort zu kommen, denn der Alte führte immer wieder dieselben Manöver aus.
Als er drei Minuten lang gelauscht hatte, erhob er sich schnell. Aus seinen hastigen Bewegungen schloß Harald Vik, daß Ernstliches vorgefallen sei.
»Schlimmes?« fragte er ängstlich.
Mit zitternder Stimme erwiderte der Gelehrte: »Die Zentrale antwortet nicht.«