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Die Verhaftung

Was Asbjörn Krag in der großen Stadt am meisten interessierte, hatte er zum größten Teile gesehen. Schon gleich nach seiner Ankunft war er mit den Mitgliedern des norwegischen Generalkonsulats zusammengetroffen, die ihn durch Kunstsammlungen und Gemäldegalerien führen wollten. Darum war ihm aber nicht zu tun. Mit größtem Interesse studierte er dagegen alles, was mit dem Polizei- oder Gefängniswesen zu tun hatte. Er suchte Verbindungen innerhalb des Detektivkorps anzuknüpfen, wo er sich auch mehrere gute Freunde erwarb. Gar manche Nacht verbrachte er im Büro der Kriminalpolizei, war bei Verhaftungen zugegen, nahm an den Streifzügen durch die berüchtigten Verbrecherkneipen der Stadt teil, patrouillierte mit den Polizisten durch die dunkelsten und unheimlichsten Viertel und durchstreifte die Gefängnisse.

Besonders das Gefängnis nahm sein ganzes Interesse in Anspruch. Der Ort besaß das größte Gefängnis der Welt. Sein volkstümlicher Name war ›Der Schwarze Stern‹. Das ursprüngliche Gebäude war etwa hundert Jahre alt. Es bestand aus einem achteckigen Turm, den die weisen Stadtväter vor hundert Jahren auf einem Felsen in der Nähe der damals noch nicht sehr großen Stadt hatten aufführen lassen. Drohend lag es dort oben, der Bevölkerung zur Warnung. Je nachdem die Stadt mit riesenhafter Schnelligkeit wuchs, wurde es notwendig, den Turm auszubauen und zu erweitern, so daß er schließlich eine recht ansehnliche Höhe erreichte. Diese Anbauten gingen von dem ursprünglichen Bau strahlenförmig aus; dadurch entstand ein sternförmiger Gebäudekomplex, der von einer hohen, unübersteigbaren Ringmauer umgeben war. Selbst im hellsten Tageslicht hatte dies Bauwerk ein unheimliches und drohendes Aussehen; daher war es ganz von selbst gekommen, daß es den bezeichnenden Namen ›Der Schwarze Stern‹ bekommen hatte. Man erzählte Asbjörn Krag, daß das Gefängnis zurzeit von achttausend Gefangenen belegt sei. Innerhalb der Gefängnismauer befand sich die Richtstätte, wo vor Zeiten die Menschen mit dem Beil des Scharfrichters hingerichtet wurden, später durch den Strang und schließlich mittels Elektrizität.

All dieses bekam Asbjörn Krag zu sehen. Und noch vieles mehr. Mit glühendem Interesse studierte er die höhere Polizeiverwaltung, durchsuchte die Archive und gewann einen Ueberblick über die Verbrecherstatistik. Als er seine Studien endlich beendet hatte, rühmte er sich, nicht ein einziges Gemälde gesehen noch irgendein Museum aufgesucht zu haben.

Die letzten Tage seines Aufenthaltes wollte er jedoch dazu benutzen, das Volksleben kennen zu lernen, Typen und Gesichter im Riesenverkehr der Straßen und in der raucherfüllten Luft der Cafes zu studieren; dies war ihm schon immer eine Lieblingsbeschäftigung müßiger Stunden gewesen.

Sehr oft sah man ihn in Begleitung seines Freundes, des Kapitäns. Eines Abends verbrachten sie ihre Zeit in einem kleinen Cafe am Hafen, einem Lokal, in welchem man recht verschiedenartige Individuen antraf: Kleinbürger, Heuerbase und Seeleute.

Krag hatte gerade sein Glas an die Lippen gesetzt, als er den Kapitän am Aermel zupfte.

»Siehst du den jungen Mann, der eben zur Tür hereinkam und jetzt dort am Büfett steht?«

»Jenen, der seinen Hut tief in die Stirn gezogen hat und der im übrigen recht verkommen aussieht?«

»Jawohl. – Ich wette, er ist Norweger.«

»Ich glaube.«

Asbjörn Krag erhob sich und begab sich ans Büfett, wo der Mann gerade im Begriff war, mit zitternder Hand ein Glas Brandy an die Lippen zu führen.

Krag schlug ihn auf die Schulter.

»Hallo!«

Der andre fuhr zusammen, so stark und plötzlich, daß Krag sein Erstaunen nicht verbergen konnte.

»Nun, alter Freund,« sagte der Detektiv, »kennst du mich nicht?«

Es dauerte eine ganze Weile, bevor der andre seine Sprache wiederfand; dann ergriff er mit großer Wärme Asbjörn Krags Hand und sagte:

»Tod und Teufel! Du bist es! Mir wurde himmelangst.«

Krag blickte ihn scharf an.

»Komm mit an unsern Tisch«, sagte er. »Ich sitze dort mit dem Kapitän meines Schiffes.«

Anfangs war der junge Mann nicht recht damit einverstanden; Asbjörn Krag nötigte jedoch so lange, bis er schließlich nachgab. Dann machte er ihn mit dem Kapitän bekannt. Sein Name war Harald Vik.

Vik setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, an den Tisch. Es fiel Krag auf, daß er seinen Hut noch tiefer in die Stirn drückte, so daß er den Eindruck hatte, als wollte sein Gast seine Gesichtszüge verbergen. Krag erzählte ihm von seiner Heimat und von seinen Eltern, die ihm bekannt waren und denen er noch kurz vor seiner Abreise begegnet war. Nicht ohne Bewegung schien der andere seiner Erzählung zuzuhören.

»Was machst du jetzt?«

»Nichts!«

»Hast du deine Studien denn gänzlich aufgegeben.«

»Ja, endgültig.«

»Du gingst doch damals als hoffnungsvoller Ingenieur hinüber, um dich hier weiterzubilden.«

Mißmutig schüttelte Vik den Kopf.

»Ich merkte, daß es für mich doch nicht das Rechte war«, entgegnete er.

»Ja, du warst schon immer recht wankelmütig und schwärmerisch. Wo wohnst du?«

Anstatt hierauf zu antworten, fragte er: »Du bist doch Detektiv in Christiania; was machst du denn eigentlich hier?«

»Ich bin auf einer Vergnügungsreise.«

»Ausschließlich Vergnügungsreise? Keine Geschäftsreise, meine ich.«

»Nein.«

Wiederum blickte Asbjörn Krag ihn scharf an, dann sagte er:

»Als ich dich vor einem Augenblick dort am Büfett begrüßte, benahmst du dich so merkwürdig.«

»Es war ja eine unerwartete Begegnung.«

»Ja, aber du sagtest doch selbst, daß dir himmelangst wurde. Was meintest du damit?«

Der andre begann auffallend unruhig zu werden.

»Außerdem fuhrest du sichtlich zusammen,« fuhr Krag fort; »das pflegt man nicht zu tun, wenn man eine Hand auf der Schulter verspürt; es sei denn –«

»Nun?«

»Wenn zum Beispiel gleichzeitig gesagt wird: Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!«

Asbjörn Krag erschrak fast, als er sah, wie blaß der junge Mann plötzlich wurde. Den Mund verzog er zu einer schmerzverzerrten Grimasse, und eine unheimliche, aschgraue Blasse verfärbte sein Antlitz. Sofort wußte der angesehene Detektiv, daß Ernsthaftes im Anzuge war. Dem Kapitän gab er einen leisen Wink, den dieser gleich verstand; er leerte sein Glas und verabschiedete sich. Harald Vik wollte auch aufbrechen; Krag hielt ihn jedoch zurück.

»Ich habe ein ernstes Wort mit dir zu reden«, sagte er. »Was in aller Welt hast du gemacht, seitdem du vor fünf Jahren herüberkamst? Hast du irgendeine Tollheit gemacht? Du hast doch kein Verbrechen begangen?«

Der andre schüttelte den Kopf.

»Wäre ich nur wieder zu Hause«, flüsterte er.

»Aha, so steht's mit dir.«

»Ich habe kein Verbrechen begangen,« sagte Vik schnell. »Dennoch werde ich verfolgt.«

»Von der Polizei?«

»Vertrau' dich mir an. Vielleicht kann ich dir helfen.«

Aengstlich ergriff er Krags Hand.

»Nein, um Gottes willen, nein! Vorläufig kannst du in der Sache nichts tun. Um eines bitte ich dich aber: im entscheidenden Augenblick – du wirst schon selbst gewahr werden, wann er da ist – dann tu alles, was in deiner Macht steht, um mich zu retten. Ich kenne deine Tüchtigkeit, du bist genial – –«

Er erhob sich. Krag wollte ihn veranlassen, wieder Platz zu nehmen; der Unglückliche schob ihn jedoch zur Seite.

»Wenn du es wirklich gut mit mir meinst,« sagte er mit flehendem Blick, »dann folge mir jetzt nicht. Es würde mich augenblicklich ins Verderben bringen.«

Die Antwort wartete er gar nicht ab, nickte Krag fast geistesabwesend zu und verließ das Lokal.

Asbjörn Krag war allein zurückgeblieben. Das, was er eben erlebt hatte, machte ihn nicht wenig verwirrt. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß etwas Ernsthaftes nahe bevorstehe, ehe er sich ziemlich niedergeschlagen an Bord des Dampfers begab. Er besprach die Angelegenheit mit dem Kapitän, und sie kamen überein, sich am nächsten Tag in die Stadt zu begeben, um möglicherweise den jungen Vik aufzustöbern.

In dieser Nacht schlief Asbjörn Krag schlecht, weshalb er auch am andern Morgen schon gegen halb sechs Uhr aufstand. An den endlos langen Kais war die Arbeit schon im vollen Gange. Durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch hörte man den gellenden Ruf der Zeitungsverkäufer. Er erstand eine Handvoll Zeitungen, um die Zeit bis zum Frühstück mit Lesen hinzubringen. Gleichgültig ließ er den Blick über die Spalten gleiten. Plötzlich fesselte eine kleine Notiz seine Aufmerksamkeit. Dort stand, daß der bekannte europäische Politiker und Staatsmann X... auf seiner Reise um die Welt in dieser Stadt angekommen sei. Asbjörn Krag kannte diese Größe; er hatte den berühmten Mann einst im Sommer in Norwegen kennen gelernt und Gelegenheit gehabt, ihm einen Dienst zu erweisen, nur eine kleine Gefälligkeit – einen entwendeten Brief hatte Krag wieder herbeigeschafft. Nachdenklich wendete er das Blatt. Da fiel sein Blick sofort auf die Sensation des Tages, deren riesenhafte Ueberschrift ihm in die Augen sprang:

 

Gefährliche Verschwörung entdeckt.

Mehrere Verhaftungen

 

Fieberhaft durchflog Asbjörn Krag den Artikel: Die Polizei hatte schon lange Verdacht geschöpft, daß eine revolutionäre Organisation im Entstehen begriffen sei ... anarchistischen Charakters ... Proselyten im Kreise der Gebildeten ... meist unerfahrene, schwärmerische junge Menschen ... auch Frauen ... unter Leitung des bekannten Anarchisten Crawbury, bekannt aus dem Mac-Kinley-Prozeß ... gefährliche Verschwörung beschlossen ... Bomben, viele Waffen ... unsere tüchtige Polizei hat's aufgedeckt, usw. Besonders ausgezeichnet hat sich der Kriminalwachtmeister Hawkins ... Bisher fünf Verhaftungen ...

Mit erhöhtem Interesse las Krag: Unter den Verhafteten befindet sich der Führer ... guter Fang ...

Drei bis vier Namen las er eilig; dann stand folgendes da:

»Ferner ist ein junger Mann, Harold Wigh, verhaftet; vermutlich skandinavischer Herkunft. Vor fünf Jahren soll er in Amerika eingewandert sein. Derselbe hat an der Verschwörung zwar nicht aktiv teilgenommen, ist jedoch stark kompromittiert. Sämtliche Verhafteten sind im ›Schwarzen Stern‹ eingeliefert.«

Langsam faltete Asbjörn Krag die Zeitung zusammen. Er sagte sich sofort, daß Harold Wigh eine Amerikanisierung des Namens Harald Vik, seines norwegischen Freundes, sei.

»Armer Freund«, murmelte er vor sich hin. »In dieser Weise bist du also auf Abwege geraten.«

In diesem Moment erschien der Kapitän an Deck. Krag erklärte ihm die Sachlage.

Auch der Kapitän war von der Mitteilung ganz ergriffen.

»Habe ich es mir nicht sofort gedacht,« sagte er, »daß die Polizei hinter ihm her ist? Das wird für den jungen Norweger noch eine ernste Geschichte werden.«

»Aeußerst ernst. So kurz nach der Ermordung MacKinleys sind die Amerikaner nicht aufgelegt, in derlei Angelegenheiten mit sich spaßen zu lassen. Kurz gesagt: Für ihn ist's aus; er ist fertig.«

Der Kapitän seufzte und starrte zur Stadt hinüber. Dort erhob sich ›Der Schwarze Stern‹ aus dem unendlichen Steinmeer der Häuser, gleich einer düsteren, drohenden Nebelwolke.

»Ich bin fest davon überzeugt,« sagte Asbjörn Krag ruhig, »daß nur jugendliche Ueberspanntheit ihn dorthin gebracht hat, wo er sich jetzt befindet.«

Der Kapitän zuckte mit den Achseln.

»Mag sein. Die Amerikaner verstehen dergleichen aber nicht; verloren ist er auf jeden Fall.«

»Wenn ihm niemand zu Hilfe kommt.«

Ueberrascht blickte der Kapitän den Detektiv an.

»Er ist Norweger«, fuhr Krag fort.

»Das wird ihm nicht viel nützen.«

»Außerdem habe ich altes Unrecht an ihm gutzumachen.«

»Sag' mal, Krag,« rief der Kapitän aus, »glaubst du wirklich an die Möglichkeit, ihn zu retten?«

»Kein Ding ist unmöglich«, erwiderte der Detektiv. »Ich übernehme es, selbst aus dem stärksten Gefängnis jemand zu befreien, wenn ich nur genügend Zeit zur Verfügung habe. Wann fährt der Dampfer ab?«

»Heute nachmittag um sechs.«

»Das ist zu früh. Du mußt noch zwölf Stunden warten. Eine Flucht aus dem ›Schwarzen Stern‹ läßt sich nicht an einem halben Tage bewerkstelligen.«

»Willst du es tatsächlich versuchen, diese Ungesetzlichkeit zu begehen?«

»Ja.«

»Es könnte aber ernste Folgen haben.«

»Ich bin doch kein Schafskopf. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Also: willst du zwölf Stunden warten?«

»Wenn ich nun nein sage?«

»Dann gehe ich sofort an Land. Ich bin jetzt entschlossen, den Versuch zu machen.«

Der Kapitän blickte Asbjörn Krag an. Er kannte seinen Freund.

»Gut,« sagte er, »ich warte noch zwölf Stunden.«

»Danke«, war die Antwort.

Der Detektiv faßte den Kapitän unter und schlenderte mit ihm übers Deck.

»Nun wollen wir frühstücken,« fuhr er fort, »wir haben ein anständiges Tagewerk vor uns.«

Dem Kapitän kam es vor, als sei Krag ein ganz anderer Mensch geworden. Er war viel froher; sein Gesicht strahlte vor Energie und Mut.

Nun war Asbjörn Krag wieder in Tätigkeit.


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