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Was der Norweger erlebte

Harald Vik war einen Augenblick wie gelähmt, als er die Uhr im Besitz des ›hohen Gastes‹ sah. Er wußte, daß der Detektiv Asbjörn Krag jetzt der Eigentümer dieser alten, eigenartigen Uhr war, welche in Harald Viks Familie ihre besondere Geschichte hatte.

Als er den ›hohen Gast‹ genauer betrachtete, merkte er, daß es niemand anders als Asbjörn Krag selbst war. Helle Freude bemächtigte sich seiner. Krag hatte sein Versprechen gehalten; es war klar, er versuchte ihn zu retten. Er zwang sich, gleichgültig auszusehen, verfolgte jedoch die geringste Bewegung Krags mit genauester Aufmerksamkeit.

Als der Detektiv seine Brille hervorzog, um aus der Bibel die Sprüche vorzulesen, sah der Arrestant ganz deutlich, daß noch etwas anderes mit der Brille hervorgezogen und zwischen die Blätter des Buches gesteckt wurde.

Und als nun Asbjörn Krag ihm die Bibel überreichte und ihn mit bewegter Stimme bat, »dieses Buch ja festzuhalten«, preßte Harald Vik das Buch mit aller Macht zusammen und drückte es warm ans Herz. Das geschah, damit niemand sehen sollte, daß an einigen Stellen die Blätter nicht ganz dicht zusammenlagen. Sobald sich die Zellentür hinter dem ›hohen Gast‹ geschlossen hatte und er sich allein befand, öffnete er das Buch.

Ein Brief, ein Bohrer und eine Stahlsäge fielen heraus. Als er Asbjörn Krags Brief genau studiert hatte, griff er nach den beiden kleinen Gegenständen und wog sie neugierig in der Hand.

Es schien ihm unglaublich, daß diese unschuldige, kleine Stahlsäge, kaum zwei Millimeter breit, imstande sei, in weniger als anderthalb Stunden das massive, eiserne Schloß der Zellentür zu durchsägen. Hatte Asbjörn Krag es jedoch gesagt, so mußte es wohl stimmen.

Plötzlich überfiel ihn ein furchtbares Entsetzen. Wie, wenn der Direktor des Gefängnisses im Laufe des Tages den Zusammenhang zwischen seiner Flucht und dem Besuch des ›hohen Gastes‹ erriete! Dann würde höchstwahrscheinlich sofort eine eingehende Untersuchung seiner Zelle veranstaltet werden. Man würde Brief und Werkzeug finden, und damit wäre es aus, sowohl für ihn als auch für Asbjörn Krag. »Vernichte den Brief,« hatte Asbjörn Krag geschrieben. Aber wie? Harald Vik blickte sich um.

Auf einer kleinen Klappe, die sich von der Wand niederschlagen ließ und so einen Tisch darstellte, stand sein Frühstück noch unberührt. In einer hölzernen Schale befand sich eine Art Lobescoves, daneben lag etwas Butter, ein wenig Schwarzbrot und ein stumpfes Messer, um das Brot zu schneiden.

Mit der Aussicht auf Rettung kehrte Harald Viks Appetit zurück; nun erst fühlte er, daß er in vierundzwanzig Stunden nichts genossen hatte.

Er las Asbjörn Krags Brief noch einmal durch und studierte genau die Skizze des Gefängnisses, aus der er entnahm, welchen Weg er nach Verlassen der Gefängniszelle einschlagen sollte. Er prägte die Zeichnung seinem Gedächtnis fest ein und versuchte mehrere Male, ob er sich ihrer bis in die kleinsten Einzelheiten erinnern konnte.

Dann zerriß er Asbjörn Krags Brief in viele kleine Stückchen. Groß war der Brief ohnehin nicht; nur ein halber Bogen Schreibpapier. Als er ihn in möglichst kleine Stückchen zerrissen hatte, sammelte er sie sorgsam zusammen und tat sie zu seinem Essen. Nachdem er die Papierstückchen mit dem Essen gut verrührt hatte, aß er das Ganze mit gutem Appetit.

Der Bohrer und die Stahlsäge waren nicht größer, als daß er beides im Umschlag der Bibel verbergen konnte.

Dann erwartete er mit Spannung die günstigste Zeit. Er wußte, daß die Wache um sieben, um neun, um elf und um zwölf Uhr kontrollierte. Zwischen zwölf und vier Uhr morgens ging keine Wache.

Die Wache um sieben und um neun Uhr kam und ging wie gewöhnlich. Verdächtiges war nicht zu entdecken.

Zuletzt kam die Zwölfuhr-Runde. Es war die neue Ablösung. Der Wächter schien recht redselig zu sein und wollte gern mit Harald Vik plaudern, der vor Ungeduld brannte.

»Sie Aermster,« sagte der Beamte, »das wird eine böse Geschichte für Sie werden. Wie konnten Sie auf solchen Wahnsinn verfallen?«

Der Norweger antwortete nicht.

»Haben Sie es denn nicht gemerkt,« fuhr der andere fort, »daß Crawbury, Ihr Anführer, ein Schuft war?«

Vik wurde nun aufmerksam.

»Inwiefern?« fragte er.

»Er war ja gewillt, alle Mitgeschworenen zu verraten, um seine eigene Haut zu retten.«

»Sie lügen.«

»Ich lüge nie. Warum sollte ich auch? Die Polizei hat Beweise dafür, daß Crawbury ein Schuft ist. Als er einsah, daß es nichts nützte, die Stellung noch länger zu wahren, und daß seine Verhaftung nahe bevorstand, schrieb er dem Polizeidirektor und erbot sich, alle Namen seiner Mitgeschworenen zu nennen, wenn er selbst frei käme. Man erwischte ihn jedoch gleichzeitig mit Eintreffen des Briefes.«

Harald Vik fühlte, wie der Schweiß von seiner Stirn perlte. Es war ihm, als täte sich ein Abgrund vor ihm auf.

»Armer Kerl«, hörte er den Beamten leise sagen.

»Ihr Mitleid habe ich nicht nötig,« sagte Vik brutal, um den andern loszuwerden – die Uhr zeigte schon einige Minuten nach zwölf –, »sagen Sie mir lieber, wie ich aus diesem verfluchten Loch herauskomme.«

»Loch!« rief der Beamte. »Ihre Zelle ist wahrlich eine der schönsten und hellsten. Warten Sie nur, bis man Sie verurteilt hat. Da werden Sie als Neuling eine kleine Zelle tief unten bekommen. Dann erst können Sie von einem Loch reden.«

Vik warf sich auf die Pritsche.

»Ich bin müde«, sagte er. »Zwei Nächte habe ich nicht geschlafen. Lassen Sie mich in Ruhe.«

»Ja, ja«, erwiderte der Beamte, drehte das Licht aus und entfernte sich mit einem freundlichen »Gute Nacht!«

Harald Vik hörte, daß der Schlüssel zweimal in dem großen Schloß umgedreht wurde, worauf sich die Schritte des Aufsehers immer mehr entfernten. Seine Zelle war anscheinend die letzte in der Runde.

Mehrere Minuten lang lag er, vor Spannung zitternd, da.

Es war Tatsache, in den letzten zweimal vierundzwanzig Stunden hatte er seine Augen nicht zugetan, nun aber fühlte er sich wacher und besaß mehr Energie als jemals zuvor in seinem Leben. Er war sich wohl bewußt, auf was für ein abenteuerliches Wagnis er sich einließ, nun aber hieß es: biegen oder brechen. Hier war alles zu gewinnen und nichts zu verlieren. Nun mußte die Uhr auch schon ein Viertel nach zwölf sein. Er sprang auf.

Seine Augen hatten sich nach und nach an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er in dem fahlen Licht, das durch das Gitterfenster hereinkam, die Umrisse der verschiedenen Gegenstände in der Zelle unterscheiden konnte.

Er fand die Bibel ziemlich schnell, war aber so fieberhaft eifrig, daß er sich nicht die Zeit nahm, die Gegenstände vorsichtig herauszunehmen, er riß dabei den Einband entzwei. Nun stand er da, mit dem Bohrer und der Stahlsäge in der Hand. Er ging zur Zellentür, wo es ganz dunkel war, so daß er tastend das Schloß suchen mußte, um sich zu orientieren.

Harald Vik war mit der Handhabung derlei Einbrecherwerkzeuge nicht vertraut. Er mußte eine Zeitlang überlegen. Da wurde es ihm klar, daß er das ganze große Schloß herausschneiden müßte, um die Tür öffnen zu können. Er bohrte zunächst oberhalb des Schlosses ein Loch; dann versuchte er in dieser Oeffnung die Säge anzubringen. Er mußte noch einmal bohren. Dies nahm einige Minuten in Anspruch, so daß er immer mehr daran zweifelte, bis um zwei Uhr mit dieser schweren Arbeit fertig werden zu können.

Endlich konnte er die Säge anbringen, und nun begann das Herausschneiden. Es war ein ganz wunderbares Instrument. Jetzt erfaßte es das Eisen, und Harald Vik hörte, wie die kleinen Eisenfeilspäne auf den Fußboden niederfielen.

Aber gleichzeitig wurde ihm angst und bange, denn die Säge verursachte ein irritierendes Geräusch, was in der stillen schweigsamen Nacht besonders deutlich zu hören war. Es war ein schnarrender, schneidender Ton, der ihn zusammenfahren ließ.

Hätte er nur etwas Oel gehabt. Dieser Lärm durfte nicht andauern; sicherlich war er weithin im Korridor vernehmlich.

Plötzlich kam ihm wieder der Gedanke an sein Frühstück und ließ ihn vor Freude beben. Großartig! Da war ja noch etwas Butter übrig geblieben. Er trat an den Tisch. Die Butter war ganz hart. Wie ließ sie sich nur schmelzen? Hier kam ihm sein augenblicklicher Zustand zu Hilfe. Er fühlte, er war krank. Seine Schläfen pochten; heiße Schweißperlen liefen ihm unaufhörlich über die Stirn; sein ganzer Körper war vom Fieber erhitzt.

Er nahm ein wenig Butter und behielt sie so lange in der Hand, bis sie zu schmelzen begann; dann tropfte er sie nach und nach in das Schloß und in den Einschnitt, welchen die Säge schon darin gemacht hatte.

Nun arbeitete die Säge absolut lautlos. Nach einer halben Stunde hatte er mehr als die Hälfte des Schlosses durchfeilt. Dann wurde es allmählich schwieriger. Die Säge war von außerordentlich hartem Stahl, und zu Anfang waren die Zähne der Säge so scharf wie die Schneide eines Rasiermessers. Aber das ewige Hinundherfeilen machte sie schließlich stumpf. Er hörte die Uhr im Gefängnisturm halb zwei und dann dreiviertel zwei schlagen, bevor das Schloß endlich ganz durchsägt war.

Lautlos öffnete sich die Zellentür ganz von selbst. Fast hätte er vor Freude laut aufgeschrien; aber er bezwang sich. Die schwerste Arbeit war nun überstanden. Harald Vik hatte dermaßen gearbeitet, daß seine Schultern fast erlahmt waren. Nun ging es jedoch an die gefährlichste Arbeit. Er mußte über die Treppen schleichen, um auf den Hof zu gelangen. Entdeckte man ihn dort, konnte er unter Umständen von der Wachtmannschaft wie ein Hund niedergeschossen werden. Er mußte es schon darauf ankommen lassen. Für alle Fälle steckte er die Stahlsäge und den Bohrer zu sich. Den Bohrer behielt er in der Hand; er konnte ihm immerhin eine gute Waffe sein. Er ist so gut wie ein Dolch, dachte er.

Dann tat er einen Schritt vor, um aus der Tür zu gehen. Er hielt jedoch gleich wieder inne.

Seine Stiefel, die groß und klobig waren, machten einen entsetzlichen Lärm, wenn er auf den harten Steinfußboden auftrat. Das konnte nicht angehen. Es fiel ihm ein, daß die Treppen aus Eisen waren, so daß der Lärm, wenn er die Treppen hinunterging, noch stärker werden würde. Was sollte er machen. Er konnte unmöglich die Stiefel zurücklassen. Würde er nur mit Strümpfen an den Füßen beim Nachtcafe ›New Holborn‹ anlangen, dann würde man ihn voraussichtlich sofort verhaften lassen. Nein, da fiel ihm ein besserer Ausweg ein. Er zog sowohl die Stiefel als auch die Strümpfe aus, zog dann die Stiefel über die bloßen Füße und darüber die Strümpfe. Lange horchte er an der Tür, um sich zu vergewissern, ob sich möglicherweise jemand auf dem langen Korridor aufhalte. Er hörte jedoch nichts.

Im nächsten Augenblick war er draußen auf dem Korridor. Sorgsam schloß er die Tür hinter sich, es war ihm jedoch unmöglich, sie ganz zuzumachen. Dann schlich er über den Korridor, bis er an die eiserne Treppe kam.

Er stieg von einem Stockwerk zum andern, ohne daß sich ihm Hindernisse entgegenstellten.

Als er jedoch bis zum zweiten Stockwerk gelangt war, vernahm er ein Geräusch, daß ihm vor Schreck das Herz stillstand.

Er hörte energische Schritte sich nähern; Stiefel schlugen hart gegen die eisernen Stufen. Ein Mann kam die Treppe herauf.

Es war stockfinster auf der Treppe und ganz unmöglich, daß zwei Personen in der Dunkelheit aneinander vorbeikommen konnten, ohne sich zu berühren, weil die Treppe so schmal war. Harald Vik glaubte dem Räuspern und Husten entnehmen zu können, daß der Näherkommende ein Wachtposten sei. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder hinauf zu gehen. Nun freute er sich seiner Umsicht, die ihm eingegeben hatte, die Strümpfe über die Stiefel zu ziehen. So konnte er lautlos vor dem andern her die Treppe hinaufsteigen. Beständig war ein Stockwerk zwischen ihnen.

Als Harald Vik bis ins siebente Stockwerk gelangt war, dachte er: Wenn dies ein Extrawachtposten ist, dann wird er ganz oben mit dem Visitieren der Zellen beginnen. Biege ich in diesen Korridor ein, dann wird der Posten an mir vorübergehen, so daß ich nachher wieder meinen Weg nach unten fortsetzen kann.

Im Grunde hatte der Unglückliche gar keinen anderen Ausweg. Er begab sich in den Korridor, der ebenso dunkel war wie die Treppe. Nachdem er den Korridor etwa zwanzig Schritte entlang gegangen war, blieb er stehen und wartete, daß der Posten vorbeigehen sollte.

Der Mann bleibt jedoch auf dem Treppenabsatz stehen. Vik hört, wie er in seinen Taschen nach einer Streichholzschachtel sucht und eine Verwünschung ausstößt, als er sie nicht gleich finden kann. Er hört auch eine Laterne in der Hand des Postens rasseln. Er will also Licht machen. Endlich hat er das Licht angezündet und kommt nun den Korridor entlang.

Harald Vik stürzt ganz bis ans Ende des Ganges. Hier stößt er auf eine andere Treppe, hört aber gleichzeitig, daß ein Posten auch diese Treppe heraufkommt. Nun weiß er, daß eine Extrapatrouille angesetzt ist. In allen Stockwerken sind Posten.

Halb besinnungslos taumelt Harald Vik diese zweite Treppe hinauf. Er glaubt, alles sei vorbei. Falls ihm nur ein Wachtposten begegnet, wird er einen Ueberfall wagen. Mit diesem kleinen spitzen Instrument, das er in der Hand hält, wird er ihm das Herz durchbohren. Jedenfalls will er seine Freiheit so teuer wie möglich verkaufen. Die Zähne beißt er zusammen und hält die Waffe in der festgeballten Hand.

Da scheint es wiederum, als sei noch ein Fünkchen Hoffnung vorhanden. Die beiden Wachtposten – beide mit Laternen versehen – begegnen sich auf dem Treppenabsatz und beginnen eine kurze Unterhaltung.

»Wie steht's?«

Müde und unter Gähnen antwortet der Gefragte:

»Alles in Ordnung!«

Danach beklagen sich beide über die außergewöhnliche Extrawache, als ob es jemandem einfallen könnte, aus dem ›Schwarzen Stern‹ zu entfliehen.

Todmüde lehnt sich Vik gegen die Kalkwand. Plötzlich fühlt er eine Klappe im Rücken. Mit den Händen tastet er die Wand ab, bis ihm klar wird, daß er sich vor einem alten Schornstein befindet. Ein seltsamer Gedanke, eine Hoffnung bemächtigt sich seiner. Die Klappe schließt das Loch im Schornstein. Da schießt es ihm durch den Kopf, daß man früher in sehr langen Schornsteinen für die Schornsteinfeger solche Oeffnungen anbrachte. Vorsichtig hebt er die Klappe. Sie läßt sich öffnen. Die beiden Wachtposten da unten sprechen jetzt so laut miteinander, daß sie das Geräusch nicht bemerken. Hastig kriecht Vik durch die Oeffnung und findet auch gleich festen Fuß im Schornstein. Gleichzeitig zieht er die Klappe wieder hinter sich zu. Beim Zuschließen klappt sie. Er hört, wie die beiden Posten plötzlich im Gespräch dort unten auf dem Treppenabsatz innehalten.

»War da jemand?« sagt der eine.

Schläfrig antwortet der andere: »Wie? War jemand da?«

»Es spukt hier in dem alten Kasten«, bemerkt der erste lachend; dann gehen sie leise redend die Treppe hinauf. Das Licht ihrer Laternen schimmert beim Vorübergehen zu Harald Vik in den Schornstein hinein.


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