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Das Frühstück auf dem Gefängnisdach

Harald Vik spürte, daß seine Zunge ganz trocken sei und am Gaumen klebte. »Ich bin durstig«, sagte er. »Ich komme fast um vor Durst.«

»Ja, was würden Sie nun getan haben, wenn ich nicht dagewesen wäre?«

»Haben Sie vielleicht Wasser da?« fragte der Norweger erfreut.

»In großen Mengen! Wünschen Sie vielleicht auch Wasser zum Waschen? Das können Sie haben.«

Der Norweger kroch aus der Ruine heraus. Das Dach war noch hier und dort vom Regen naß; aber die Sonne schien darauf, so daß es nicht lange dauern würde, bis alles trocken war.

Der Alte bat ihn, ihm zu folgen.

Er kletterte am Blitzableiter herab und ersuchte Harald Vik, sich ganz niederzulegen und etwas entgegenzunehmen, das er ihm herauflangen wollte.

Harald Vik sah nun, daß auf dem niedriger gelegenen Dache im Schatten einige unförmige Gefäße standen, die Wasser enthielten.

»Was ist das?« fragte er.

»Das eine Gefäß ist ein Stück einer alten Dachrinne,« entgegnete der Gelehrte, »und das andere ist ein alter Aufsatz von einem Schornstein. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß letzterer gut gereinigt worden ist, ehe ich ihn in Gebrauch nahm. Er enthält zwanzig Liter Wasser.«

»Wo in aller Welt haben Sie das herbekommen?«

»Denken Sie doch an den Regenguß heute nacht. Es machte mir auch nicht die geringste Schwierigkeit, diese wenigen Liter Wasser zu sammeln. Ich denke, für die ersten acht bis zehn Tage haben wir genug; dann hoffen wir auf abermaligen Regen. Regenwetter pflegt in dieser Zeit nicht selten zu sein.«

Der Alte machte sich mit einigem Gerümpel aus Blech zu schaffen.

»Schlimmer war es, etwas zu finden, woraus sich trinken ließ«, sagte er. »Es ist mir zuwider, aus dem Aufsatz zu trinken. Dank Ihrem ausgezeichneten Einbrecherwerkzeug konnte ich von dieser alten Blechrinne schnell zwei Platten lossägen, die ich ausbeulte. Bitte, hier haben Sie eine Tasse Wasser.«

Mit begehrlichen Händen griff der Norweger nach der ›Tasse‹ und trank sie leer. Kühl und frisch war das Wasser keineswegs und auch nicht ganz rein; es schmeckte ihm aber, als sei es perlender Wein. Er bat um noch einen Trunk; der Alte reichte ihm noch einmal, sichtlich erfreut über die Begeisterung des Norwegers.

»Und nun unser Frühstück!« sagte der Gelehrte, als er am Blitzableiter wieder heraufgeklettert war. »Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen Frühstück versprochen habe? Ich glaube fast, jetzt ist zum Frühstücken gerade die rechte Zeit.«

»Aha, die Tauben!« sagte Harald Vik. »Haben Sie es fertiggebracht, die Tauben zu braten?«

»Ja, selbstverständlich; ich sagte Ihnen ja, daß ich kein rohes Fleisch esse. Wollen wir unser Frühstück auf der Veranda einnehmen?«

»Auf der Veranda?«

Der Gelehrte blickte den jungen Mann verwundert an.

»Warum zerstören Sie denn meine Illusionen?« fragte er vorwurfsvoll. »Kommt es Ihnen denn nicht so vor, als befänden wir uns in einem Luftschloß? Dem größten der Welt? Sehen Sie sich dieses Dach an; Regimenter könnten vorbeimarschieren. Ist Ihnen diese Veranda nicht gut genug?«

Harald Vik nickte.

Der Gelehrte hakte ihn ein, und sie spazierten langsam das Gefängnisdach entlang. An verschiedenen Schornsteinen und am alten Wachtturm gingen sie vorüber. Plötzlich blieben sie an einem großen Luftventilator stehen, der seinen breiten Schatten aufs Dach warf.

»Sehen Sie hier,« sagte der Alte, »dies ist ein schattiges Plätzchen, wo wir in aller Behaglichkeit unser Frühstück einnehmen können. Von hier aus können wir auf die grünen Anlagen und das blaue Meer da draußen herabblicken. Eine vorzügliche Aussicht!«

»Aber das Frühstück?« fragte der Norweger unsicher. »Die Tauben?«

»Können Sie den Schornstein dort hinten erblicken?«

»Den, der da raucht? Den sah ich schon einmal. Das ist scheinbar der einzige Schornstein auf diesem Dach, der noch im Gebrauch ist.«

»Sie haben recht«, sagte der Alte. »Diesen Schornstein entdeckte ich auch sofort; er wird uns von großem Nutzen sein. Dort ist unsere Küche. Heute habe ich selbst das Essen zubereitet; aber in Zukunft müssen Sie es lernen. Ich muß mich baldmöglichst meinen Studien widmen.«

»Kochen Sie denn im Schornstein?« fragte Vik.

»Nein, daneben. Selbst Ihnen kommt es also so vor, als ob der Rauch aus dem Schornstein käme. Das ist ausgezeichnet; dann bin ich fest davon überzeugt, daß man vom Hof aus oder von einem der benachbarten Kirchtürme nichts entdecken wird. Neben dem Schornstein brennt nämlich das Feuer.«

Und stolz fügte er hinzu:

»Von unserem Feuer raucht es dort.«

»Dann ist es Ihnen also gelungen, etwas Brennbares zu finden? Wo haben Sie das Holz her?«

»Es ist kein Holz, das da brennt.«

»Was ist es denn?«

»Kohlen!«

»Steinkohlen?«

»Nein, Steinkohlenruß.«

Harald Vik verstand es nicht und starrte verblüfft den kleinen Mann an, der ihm mehr und mehr Respekt einflößte.

Der Alte war scheinbar in strahlender Laune und schien sich köstlich zu amüsieren. Der unheimliche, harte und gefühllose Gesichtsausdruck war ganz verschwunden; seine Augen waren aber noch dieselben, scharf und kalt. Gerade diese Augen waren Ursache, daß sein Lächeln häßlich und unnatürlich aussah. Lachte er, so wurde sein Gesicht widerwärtig, weil seine großen, gelben Zähne dann durch den Bart hervorschienen.

»Wo haben Sie den Ruß her?« wiederholte der Norweger.

Der Alte wies auf verschiedene Stellen des Daches.

»Hier sind Kohlen die Fülle«, sagte er. »Sie selbst stießen ja schon mehrfach darauf. In den Schornsteinen, Mann. Da finden Sie eine dicke Schicht steinharten Rußes. Der brennt vorzüglich, wenn er erst einmal erhitzt ist. Mit Ihrem Werkzeug habe ich einige Stücke herausgehauen.«

»Wie aber brachten Sie die Kohlen zum Brennen?«

»Ich benutzte die alte Methode: zwei Steine schlug ich gegeneinander, bis Glut entstand.«

»In den Kohlen?«

»Nein, in den Federn, die ich unter die improvisierte Feuerstelle gelegt hatte.«

Harald Vik war starr vor Erstaunen.

»Wie einfach das ist«, sagte er.

»Das Einfache und Aufderhandliegende herauszufinden, ist ja auch gerade das Schwierige«, sagte der Gelehrte. »Aber bitte, nehmen Sie Platz«, fuhr er fort. »Ich bedaure, Ihnen noch keinen Stuhl anbieten zu können. Bis Stühle vorhanden sind, müssen wir uns damit begnügen, auf türkische Art und Weise die Beine zu kreuzen. Bitte, setzen Sie sich.«

Der Norweger ließ sich nieder.

»Ich werde mir erlauben, Sie zu bedienen,« sagte der Alte; »aber dieses ist auch das erste und einzige Mal. Nachher ist das Ihre Sache. Ich werde mich fast ausschließlich meinen Studien widmen und außerdem darüber nachdenken, wie wir unsere Lage verbessern können.«

Der Kleine begab sich nun langsam nach dem rauchenden Schornstein und kam gleich darauf mit zwei aus der Dachrinne gehämmerten Platten zurück.

»Das sind Teller«, sagte er. »Besser können wir sie uns hier oben gar nicht wünschen.«

Dann holte er eine Schüssel – auch ein Stück der Dachrinne –, worauf sich eine Art Teig von rötlicher Farbe befand.

»Was ist das?« fragte der Norweger.

»Der Taubenbraten ist noch nicht fertig, wie ich sehe. Da kann ich unterdessen dieses Gericht erklären. Kurz, es ist das Gemüse.«

Der Norweger blickte den Alten erstaunt an.

»Aber es ist ja rot!« sagte er.

»Gewiß; aber dennoch läßt es sich am treffendsten mit Gemüse bezeichnen.«

»Wächst das Gemüse vielleicht auch im Schornstein?«

»Sie spaßen, junger Mann. Nein, dies Gemüse wächst an alten, feuchten Mauern. Es ist eine ganz besondere Pilzart, ein sehr delikates und wohlschmeckendes Gericht, das man unten in der Stadt in den feinsten Restaurants mit wahnsinnig hohen Preisen bezahlt. Haben Sie schon einmal vom Klosterpilz gehört? Nicht? Man fand ihn nämlich zuerst in großen Mengen an alten, feuchten Klosterruinen. Später ist er immer seltener geworden. Ich habe ihn heute morgen ganz früh gepflückt und gut ausgekocht. Ich freue mich schon darauf.«

»Man könnte glauben, Sie wären Küchenmeister am Hofe irgendeines Fürsten und nicht Gelehrter«, sagte Harald Vik lachend.

»Es ist ein Zweig meines Studiums«, entgegnete der andere. »Ich kenne alle Kräuter und ihre Wirkungen auf den menschlichen Organismus, von der giftigsten Pflanze bis zum leckersten, eßbaren Pilz. Ich will Ihnen auch sagen, daß ich in den Mauerrissen eine Pflanze gefunden habe, die ich bei der Bereitung dieses einfachen Mahles verwendet habe. Es ist eine üppige, gelbe Blume mit sehr saftigem Stengel. Einige Stengel habe ich ausgepreßt; der Saft ist so fetthaltig, daß man ihn sehr gut als Butter benutzen kann. Außerdem erhält der Braten durch ihn einen besonderen, pikanten Geschmack. Nun vermute ich aber, daß die Tauben fertig sind.«

Der Alte begab sich wieder an den Schornstein. Harald Vik war auf das Resultat seiner Kochkunst außerordentlich gespannt. Als er mit der Pfanne zurückkehrte – auch aus der Dachrinne gehämmert –, worin zwei Tauben festlich brutzelten, sprang der Norweger auf und rief vor Freude: »Hurra!«

Es dauerte nicht lange, bis die beiden Männer vollauf damit beschäftigt waren, sich von den Gerichten aufzufüllen. Zwei primitive Becher, angefüllt mit verhältnismäßig reinem Wasser, vervollkommneten die Mahlzeit.

Der zum Tode Verurteilte hob seinen Becher und sagte: »Der Freiheit!«

»Der Freiheit!« wiederholte Harald Vik.

Es war ein ganz ausgezeichnetes Frühstück. Besonders dem Norweger hatte es großartig geschmeckt. Die Aussicht war wundervoll, die Luft, vom Regen der vergangenen Nacht gereinigt, erfrischend.

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte Harald Vik. »Meinen Namen habe Ich Ihnen gesagt; aber Ihrer ist mir noch unbekannt.«

»Ich bin zum Tode verurteilt«, sagte der Alte ernst. »Zweimal im Leben bin ich zum Tode verurteilt gewesen.«

Der Norweger merkte, daß dem Alten das Thema peinlich sei, und da er ihn nicht belästigen wollte, begann er von der Zukunft zu reden.

»Glauben Sie, daß wir bald von hier fortkommen?« fragte er.

»Geht es uns hier nicht ausgezeichnet? Wir haben ein Dach über dem Kopf, Essen und Trinken.«

»Aber die Freiheit!« erwiderte der Norweger und blickte in die Ferne.

»Die Langeweile wird wohl am schlimmsten sein«, bemerkte der Gelehrte. »Gerade für mich, der ich gewohnt bin, mitten im Strom des Lebens zu stehen. Ganz besonders peinlich empfinde ich es, nicht erfahren zu können, was passiert. Was bedeutet es zum Beispiel, daß heute überall in der Stadt geflaggt ist? Soviel ich weiß, ist doch heute kein nationaler Festtag. Das muß anders werden. In den nächsten Tagen muß ich über die Lösung dieser Frage nachdenken.«

Der Norweger lachte laut auf.

»Wollen Sie vielleicht schreiben und anfragen?« sagte er.

Der andere blickte ihn an; der Hohn, der in diesem Blick lag, ließ Harald Vik verstummen.

»Ich habe Ihnen wohl noch nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, daß mir manches möglich ist, was Ihnen unmöglich wäre. Ich gehe mit dem Gedanken um, an einem der nächsten Tage eine elektrische Batterie herzustellen.«

»Einen Fernsprecher?«

»Nun eben. Hätten wir Telephon, wäre unzweifelhaft einem großen Mangel abgeholfen.«

Der Alte saß da in Gedanken versunken.

»Warten wir ab«, sagte er leise.

Plötzlich wandte er sich an den Norweger.

»Sie hatten nach dem Erwachen Kopfschmerzen?«

»Aber nach Verlauf einiger Minuten gingen sie vorüber. Die Schmerzen waren von unangenehmem Sausen begleitet?«

Erstaunt blickte ihn der Norweger an.

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich an Ihren Kopfschmerzen schuld bin.«

»Sie?«

»Ja; denn ich war es, der heute nacht die entsetzliche Müdigkeit über Sie brachte, damit Sie mich in keiner Weise störten und sich ruhig verhielten, falls etwas passierte. Ich kannte Sie ja nicht; infolgedessen konnte ich mich nicht auf Sie verlassen.«

»Wie konnten Sie mich denn einschläfern?« Der Gelehrte zog ein kleines Fläschchen aus der Tasche.

»Oeffne ich dies Fläschchen, dann wirkt der Geruch auf alle in der Nähe befindlichen Personen betäubend. Nun, ich öffnete eben die Flasche, als wir heute nacht in der Ruine zusammensaßen.«

»Aber warum schliefen Sie selbst nicht ein?«

»Weil ich ein feuchtes Tuch vor der Nase hielt.«

Harald Vik erinnerte sich nun des Manövers mit dem Taschentuch, das der Alte ausgeführt hatte, und sagte leise vor sich hin: »Also deshalb!«

»Es war derselbe Geruch, der den Gefängniswärter dort drüben in meiner Zelle betäubte.«

»Ich glaubte, Sie hätten ihn erwürgt.«

Der Gelehrte verzog nun wieder den Mund zu unheimlichem Grinsen.

»Ich erwürge niemals zur unrechten Zeit«, sagte er.

Den Norweger schauderte.

Dann fragte plötzlich der Alte:

»Da fällt mir noch etwas ein: Wie haben Sie Ihr Werkzeug mit ins Gefängnis hineinschmuggeln können?«

»Ich bekam es von einem Freund.«

»Wie ging das zu?«

Harald Vik erzählte nun von der Szene im Gefängnis und von dem »hohen Gast«. Als er geendet hatte, rief der Gelehrte: »Das war ein Meisterstück. Aus welchem Lande stammt Ihr Freund?«

»Aus Norwegen.«

»Und die Stadt?«

»Christiania.«

Eben wollte der Gelehrte den Becher an die Lippen führen, als Harald Vik die norwegische Hauptstadt nannte. Er hielt jedoch inne und fragte mit einer Erregtheit, die den Norweger in außerordentliches Erstaunen versetzte: »Sein Name?«

»Der Detektiv Asbjörn Krag.«

Der Becher fiel zu Boden, so daß sich das Wasser über Harald Viks Beinkleider ergoß. Erschreckt blickte er den Alten an. Es war das erstemal, daß er den Gelehrten wirklich verblüfft und bewegt ansah.


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