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Das leise Geräusch, das Harald Vik aufgefangen hatte, machte einen starken Eindruck auf ihn. Er wußte, daß in der nächtlichen Stille ein heißer und gefährlicher Kampf ausgefochten wurde, von dessen Ausfall sowohl das Schicksal des Verurteilten als auch seines abhängig war. Als er jedoch die Stimme des Verurteilten hörte, wurde er ruhiger. Er vermutete, daß der Aufseher übermannt und geknebelt war.
Die Stille, die der Bemerkung des Verurteilten folgte, dauerte etwa eine Minute. Dann drang aus der Zelle ein Brummen an sein Ohr, und gleich darauf hörte er zwei aufeinanderfolgende dumpfe Schläge, ungefähr so, als wenn ein nasser Handschuh hart gegen den Tisch geschlagen wird. Danach war es wieder ganz still. Was war geschehen?
Soweit er konnte, beugte sich der Flüchtling über den Rand des Daches und horchte voller Spannung. Soviel er hören konnte, machte sich jemand in der Zelle zu schaffen. Er vernahm vorsichtige Schritte hin und her gehen.
Plötzlich wurde dreimal an das Gitterfenster geklopft. War das ein Signal? Der Flüchtling lag unbeweglich da und wartete. Es wurde abermals geklopft und diesmal stärker. Nun meinte Harald Vik, es sei am geratensten, sich zu erkennen zu geben. Er klopfte dreimal gegen die Dachrinne. Augenblicklich kam von unten die Antwort darauf. Warum er wohl nicht spricht, dachte Vik, vielleicht fürchtet er, daß andere als ich ihn hören könnten. Er griff wieder nach der Schnur, befestigte ein Stück Schiefer daran und ließ es zum Gitterfenster herab. Nun hatte er schon so viel Uebung, daß er mit Leichtigkeit die Schieferplatte durch die Gitterstangen hindurchschwingen konnte, wo sie festgehalten wurde.
Eine halbe Minute später konnte er die Schnur wieder zu sich emporziehen.
Diesmal stand eine ganze Menge auf der Platte geschrieben.
Er will die Korrespondenz fortsetzen, dachte der Flüchtling.
»Ich weiß, wo der Korridor ist, kann aber den Schornstein nicht recht finden. Kriechen Sie sofort in den Schornstein und ahmen Sie an der Stelle, wo Sie in den Schornstein hineingekrochen sind, das Nagen einer Ratte nach. Seien Sie ruhig; es besteht keine Gefahr.«
Harald Vik stutzte einen Augenblick über den beschützenden und gleichzeitig befehlenden Ton dieser Nachricht; er machte sich jedoch gleich bereit, das auszuführen, was der Verurteilte von ihm wünschte.
Er freute sich schon sehr darauf, Gesellschaft hier oben auf dem Dach zu bekommen. Zu zweien konnten sie auch leichter Pläne für die weitere Flucht besprechen.
So kletterte er nun zum dritten Male in dieser Nacht an dem Blitzableiter hinauf aufs Dach des Hauptgebäudes und ging zum Schornstein. Er horchte lange hinunter, um möglicherweise Stimmen zu hören; es herrschte aber Grabesstille. Wiederum erfaßte ihn das Grauen, als er in den schwarzen Abgrund hinabblickte, wo Eiseskälte herrschte. Er nahm jedoch allen Mut zusammen und stieg in den Schornstein hinab. Er schob sich auf dieselbe Art und Weise wie früher hinunter, indem er Schultern und Füße gegen die Schornsteinwände stemmte.
Endlich gelangte er zu dem Punkt, wo, wie er wußte, die kleine eiserne Tür sich befinden mußte. Er tastete mit den Händen danach und fand sie auch richtig. Dann kratzte er mit den Fingern in dem hartgewordenen Ruß. Es hörte sich genau wie das Nagen einer Ratte an. Den ganzen Korridor entlang mußte man es hören können.
Es dauerte fast zehn Minuten, ehe er bemerkte, daß sich der zum Tode Verurteilte in der Nähe befinden müsse. Er vernahm schleichende Schritte draußen auf dem Korridor, und gleich darauf hörte er eine Hand an die Außenseite des Schornsteins herumtasten. Plötzlich öffnete sich die kleine eiserne Tür, und eine flüsternde Stimme fragte:
»All right?«
»All right!« entgegnete Harald Vik.
Er entfernte sich nun so weit von der Oeffnung, daß der Verurteilte durch diese hindurchkriechen konnte. Harald Vik sah, daß es ein ganz kleiner Mann sein müsse. Leicht und behende wie eine Katze kroch er durch die Oeffnung.
Bevor er die eiserne Tür hinter sich schloß, fragte er:
»Sie waren es also, der neulich bei Nacht entfloh?«
»Ja, ich war's.«
»Dann kamen Sie also nicht mit Hilfe der Strickleiter über die Mauer?«
»Nein, so weit kam ich nicht. Durch die Extrawache wurde ich daran gehindert.«
»Und nun sind die Wachtposten an den Ausgängen und an der Mauer entlang verdoppelt. Vorläufig ist also ein Versuch, zu entkommen, aussichtslos.«
Mit diesen Worten schloß er die eiserne Klappe hinter sich zu.
»Beeilen Sie sich, Mann,« flüsterte er, »ich ersticke fast in dieser Dunkelheit.«
Harald Vik kletterte hinauf, so schnell er vermochte. Dem andern schien es aber dennoch zu langsam zu gehen; er kletterte fabelhaft schnell.
Als sie beide glücklich auf dem Dache angelangt waren, verstummte der zum Tode Verurteilte einige Minuten und blickte über die Dächer der Stadt hinaus, die im Mondenschein dalagen. Harald Vik hörte ihn murmeln:
»Ich wußte es wohl, daß ich auch noch diesmal dem Schafott entrinnen würde.«
Der Norweger blickte ihn erstaunt an.
Er hatte recht beobacht; es war eine ganz kleine Erscheinung. Er trug graue Kleidung, die um seinen hageren Körper schlotterte. Er mochte wohl etwa fünfzig Jahre alt sein, war aber scheinbar noch so gelenkig wie ein junger Mann in den Dreißigern.
Er trat an Harald Vik heran und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Sie können von Glück sagen, daß ich entkam.«
Wieder blickte ihn der Norweger erstaunt an.
»Nennen Sie dies entkommen?« fragte er. »Wir befinden uns hier oben auf dem Dach und können von hier unmöglich fort. Wir haben nicht einmal etwas zu essen.«
»Aber die Freiheit«, bemerkte der andere. »Wenn man frei ist, kann man alles. Wenn ich nur frei bin, ist mir nichts unmöglich.«
»Wir riskieren hier, jeden Augenblick entdeckt zu werden.«
»So gilt es jetzt, eine Entdeckung zu vermeiden.«
»Wie wollen Sie das machen?«
»Das ist meine Sache. Ich nehme an, Sie würden innerhalb vierundzwanzig Stunden entdeckt werden, wenn ich Ihnen nicht zu Hilfe gekommen wäre.«
Harald Vik konnte es nicht unterlassen, über das übermäßige Selbstvertrauen des andern zu lächeln.
»Ich wette,« fuhr der Verurteilte fort, »Sie haben die einfachsten Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen.«
»Wie meinen Sie das?«
»So liegen zum Beispiel die Schieferplatten, die wir zu unserer Korrespondenz benutzt haben, auf dem Dache dort umher.«
»Ja, aber was kann das schaden?«
»Da hören Sie, wie leichtsinnig Sie sind.
Selbstverständlich schadet das. Wir müssen damit rechnen, daß die Gefängnisbeamten nach diesem zweiten Fluchtversuch Verdacht schöpfen werden, die Flucht könnte über das Dach hinweg unternommen worden sein. Dann werden sie morgen früh, wenn sie den Burschen da drinnen«, er wies mit dem Kopf nach der Zelle, »finden, eine Untersuchung in Gang setzen. Die zertrümmerte Scheibe ist ja verdächtig genug. Dann werden sie also aufs Dach hinaufkommen und diese Schieferplatten finden –«
Hier unterbrach ihn Harald Vik:
»Glauben Sie nicht, daß sie uns zuerst finden werden, wenn sie hierherkommen?«
»Wir müssen uns verstecken.«
»Wo wollen Sie sich denn auf diesem Dach verstecken? Hier ist ja nicht ein einziges Versteck.«
»Sie verlassen sich also nicht auf mich?«
»Nein, Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie eigentlich?«
Kurz und gleichgültig antwortete der andere, indem er sich von Harald Vik entfernte: »Ich bin Gelehrter.«
Der Norweger sah nun, wie der Fremde am Blitzableiter hinabkletterte, über das Dach des anderen Gebäudes ging und dann die Schieferstückchen zusammensammelte und sie sorgfältig in die Tasche steckte.
Als er wieder zu Harald Vik zurückkam, zeigte er auf den Blitzableiter und sagte: »Das dort war das entscheidende Ding.«
Vik blickte ihn verdutzt an. Im geheimen begann er zu glauben, mit einem Verrückten zu tun zu haben.
»Sie verstehen mich nicht«, fuhr der Gelehrte fort. »Obgleich wir wenig Zeit haben, werde ich doch versuchen, Ihnen die Sache zu erklären. Als Sie ungefähr hier von diesem Platz aus mich hinter dem vergitterten Fenster erblickten, erschraken Sie aufs äußerste. Geben Sie es nur zu. Sie glaubten, daß Ihrer Freiheit das letzte Stündlein geschlagen hätte. Nun wohl; ich hatte Sie schon mehrere Stunden beobachtet. Ich konnte mir gleich denken, wer Sie seien, da der Aufseher mir von Ihrer Flucht erzählt hatte. Gleichzeitig konnte ich mir aber auch denken, Ihre Lage müsse hoffnungslos sein, wenn nicht Hilfe nahte. Fast eine halbe Stunde lang habe ich mir die Chancen überlegt. Sollte ich einen Versuch machen, aufs Dach zu gelangen, oder sollte ich einen passenderen Zeitpunkt zur Flucht abwarten? Es wurde mir sofort klar, daß es Schwierigkeiten bereiten würde, was sowohl das Verstecken als auch das Herbeischaffen von Eßwaren hier oben auf dem Dache anbetrifft. Als ich aber in demselben Augenblick die Tauben erspähte, bekam ich mehr Mut zum Experiment, war aber doch noch immer im Zweifel. Dann fiel mein Blick auf den Blitzableiter, der so passend dasteht, und das war das Entscheidende.«
»Die Tauben?« fragte Harald Vik erstaunt. »Haben Sie im Sinne, die Tauben zu verzehren?«
»Vorläufig, ja. Taubenbraten ist gar nicht so übel. Uebrigens ist die Essensfrage gar nicht so brennend. Ich kenne mich; vor morgen früh werde ich nicht hungrig.«
Harald Vik konnte jedoch den Gedanken an die Tauben gar nicht loswerden, und darum fragte er:
»Wie in aller Welt wollen Sie denn die Tauben fangen?«
»Nichts leichter als das!«
Der kleine Mann blickte zum Himmel hinauf, wo sich der Mond gerade hinter einigen Wolken versteckt hatte.
»Ich glaube, wir werden bald Regen bekommen.«
Der Norweger lächelte.
»Wollen Sie vielleicht im Regen die Tauben fangen?«
»Eben. Ohne Regen kann ich die Tauben nicht fangen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ist auch gar nicht nötig, mein Freund.«
»Darf man denn fragen, wozu Sie den Blitzableiter gebrauchen wollen?«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich Gelehrter bin. Dieser Blitzableiter ist in meiner augenblicklichen Lage ganz unbezahlbar.«
Er klatschte plötzlich laut in die Hände, sofort flog eine Schar Tauben vom Dache auf.
»Es stimmt, es stimmt«, sagte der Gelehrte.
Zu Harald Vik gewandt, fuhr er fort:
»Vom Aufseher hörte ich, daß Sie entwichen sind, nachdem Sie das Schloß der Zellentür herausgefeilt haben. Stimmt das?«
»Ja.«
»Dann haben Sie wohl ganz vorzügliche Instrumente benutzt?«
»Die besten, die zu haben sind.«
»Hoffentlich sind Sie nicht so leichtsinnig gewesen, diese Instrumente in der Zelle zu vergessen?« fragte der Kleine ganz aufgeregt und mit ernster Stimme.
Der Norweger holte die beiden Dinge hervor, die Stahlsäge und den Bohrer.
»Hier sind sie«, sagte er.
»Ausgezeichnet«, sprach der Gelehrte leise vor sich hin. Jetzt war er wieder guter Laune. »Mit diesem Werkzeug und dem Blitzableiter bieten wir einem ganzen Heer von Aufsehern Trotz. So, nun regnet es schon.«
Schwere Tropfen fielen auf das Gefängnisdach.
»Können Sie die neue Mauer dort hinten auf dem flachen Dach erkennen?« fragte der Alte.
»Ja, das ist eine neuerrichtete Brandmauer.«
»Sie versperrt den Eingang zum alten Wachtturm.«
»Eingang zum Turm? Die alte Ruine ist ja schon längst zugemauert.«
»Gewiß; es ist aber dennoch ein Eingang vorhanden. Die Tauben – die wilden Tauben – haben da ihre Zuflucht. Gerade dieses habe ich vom Gitterfenster meiner Zelle aus beobachtet. Ich nehme an, daß der Raum immerhin groß genug ist, daß wir unseren Wohnsitz dort aufschlagen können.«
»Aber wie gelangen wir durch die Mauer?«
»Wir müssen sie noch heute nacht durchbrechen. Aus der neuen Brandmauer brechen wir einige Steine heraus. Wie ich Ihnen schon sagte, muß diese Mauer den Eingang verdecken. Kommen Sie, wir wollen sofort die Arbeit beginnen.«
Nach etwa einer Viertelstunde hatte der kleine Mann zwei Steine gelöst. Durch das in dieser Weise entstandene Loch steckte er die Hand.
»Ganz recht,« sagte er, »nun erkenne ich den Eingang.« Er brach noch einige Steine heraus, die er sehr vorsichtig behandelte, damit sie nicht entzweigehen sollten. Dann veranlaßte er Harald Vik, den Kalkstaub in einen Haufen zusammenzuscharren. Der Kalkstaub wurde von dem Regen, der nun so reichlich fiel, so durchweicht. daß daraus eine breiige Masse entstand. Wurden die Steine wieder eingesetzt, ließ sich dieser Brei sehr leicht darüberstreichen, so daß jede Spur eines Durchbruchs verwischt war.
Plötzlich durchzuckte ein greller Blitz die Luft, und gewaltiges Donnern rollte über den Himmel.
Der kleine Mann stellte die Arbeit ein. Er blickte sich nach den Tauben um, die auf einem der Schornsteine ängstlich zusammengekrochen waren.
Dann zog er einen Revolver aus der Tasche und untersuchte, ob er geladen sei.
»Das ist der Revolver des Aufsehers,« sagte er, »nun soll er uns zustatten kommen.«
Er zielte mit der Waffe nach dem Taubenschwarm, den man in der Dunkelheit nur eben erkennen konnte.
Harald Vik hielt ihn jedoch davon ab.
»Sie wollen uns doch nicht beide ins Verderben bringen? Sie müssen doch einsehen, daß man den Schuß hören wird.«
Der kleine Mann schob ihn sanft beiseite.
In diesem Moment leuchtete ein neuer Blitz auf. Er wartete noch zwei Sekunden, dann schoß er.
Der Knall des Revolvers wurde von dem Donnerschlag gänzlich übertäubt.
Zwei Tauben fielen tot aufs Dach nieder.
»Für jeden eine,« sagte der Alte leise, »das ist vorläufig genug.«
Wie versteinert stand Harald Vik da und betrachtete ihn.
»Das war ein sonderbarer Schuß«, sagte er voll aufrichtiger Bewunderung.
»Einen Revolverschuß verfehle ich niemals«, antwortete der kleine Mann, indem er aufblickte.
Im nächsten Augenblick war er von seiner Arbeit, die Steine aus der Brandmauer zu lösen, wieder ganz in Anspruch genommen.