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Die Zeit verging, und immer deutlicher traten bei Tulliver nach der Versicherung des Arztes die Beweise einer langsamen Genesung hervor; der Schlaganfall verlor sehr allmälich seine Wirkung, und der Geist erhob sich mit einiger Anstrengung daraus hervor, wie ein lebendes Wesen aus tiefem Schnee hervorkriecht, der immer wieder in's Rutschen kommt und den eben gewonnenen Ausweg verdeckt.
Hätten die Angehörigen, die an seinem Bette wachten, die Zeit nur nach der unsichern entfernten Hoffnung gemessen, welche die Augenblicke im Krankenzimmer zählte, so hätte sie ihnen zu schleichen geschienen, aber sie maßen sie nach einem schnell heranrückenden Schreckniß, und die Nächte folgten ihnen nur zu rasch auf einander.
Während der Kranke langsam genas, eilte sein Schicksal raschen Schrittes der furchtbaren Entscheidung zu. Die Taxatoren hatten ihre Arbeit gethan, wie ein tüchtiger Waffenschmied gewissenhaft das Gewehr macht, welches, von einer festen Hand richtig gezielt, viele Menschenleben umbringt. Exekutionen und Subhastationen sind so zu sagen die Kettenschüsse oder Bomben des Gesetzes, die nie ein vereinzeltes Ziel treffen, sondern nothwendig weit umher ihre verderbliche Wirkung streuen. So tief haftet es dem Leben auf dieser Erde an, daß die Menschen einer für des andern Sünden zu büßen haben, so unausbleiblich ansteckend ist menschliches Leid, daß selbst die heilige Gerechtigkeit ihre Opfer fordert, und daß wir uns keine Vergeltung denken können, die nicht über ihr Ziel hinaus den Wellenschlag unverdienter Strafe verbreitete.
Zu Anfang der zweiten Woche des Januar wurde der gerichtliche Verkauf von Tulliver's ganzem Inventar, seiner Mühle und den Ländereien öffentlich angezeigt und auf die übliche Nachmittagsstunde im goldnen Löwen angesetzt. Tulliver selbst bemerkte garnicht, wie die Zeit verlief; er meinte, er sei noch im ersten Stadium seines Unglücks, wo sich noch an Abhülfe denken ließ, und in seinen lichten Augenblicken sprach er oft, wenn auch matt und unzusammenhängend, von Plänen, die er ausführen wolle, wenn er erst besser sei. Inzwischen waren seine Frau und Kinder nicht ohne Hoffnung, die Sache würde sich schließlich doch noch so gut machen, daß Tulliver nicht seine alte Heimath zu verlassen und in ganz neue Verhältnisse zu treten brauche. Bei dem jetzigen Stande der Dinge hatte sich nämlich Onkel Deane bewegen lassen, sich für die Sache zu interessiren. Er hatte zugeben müssen, für Guest u. Co. sei es kein schlecht Geschäft, die Mühle zu kaufen, die in sehr gutem Betrieb war und bei Anwendung von Dampfkraft sich gewiß sehr vortheilhaft rentirte; in diesem Falle konnte Tulliver Geschäftsführer werden. Indeß binden wollte sich Onkel Deane durchaus nicht; da Wakem die Hypothek auf dem Lande hatte, so konnte ihm ja auch einfallen, die ganze Geschichte anzukaufen und mithin die vorsichtige Firma Guest u. Co. zu überbieten, die bei ihren Geschäften sich nicht durch Gefühlsrücksichten leiten ließ. Eine Andeutung davon mußte Deane seiner Schwägerin Tulliver geben, als er mit Onkel Glegg die Bücher revidirte; die gute Frau machte nämlich die Bemerkung, Guest u. Co. möchten doch bedenken, daß Tulliver's Vater und Großvater die rothe Mühle schon im Betriebe gehabt hätten, als an ihre Dampfölmühle noch keine Seele gedacht habe. Darauf erwiderte denn Onkel Deane, diese Rücksicht werde wohl für den Werth der beiden Mühlen nicht maßgebend sein. Für Onkel Glegg lag so etwas ganz außer dem Bereiche der Fassungskraft; der gutmüthige Mann fühlte für Tullivers aufrichtiges Mitleid, aber all sein Geld war in vortrefflichen Hypotheken angelegt, und riskiren durfte er doch nichts, das wäre Unrecht gegen seine eigenen Verwandten gewesen; indeß nahm er sich vor, Tulliver sollte ein paar neue Flanelljacken von ihm haben, und für seine Schwägerin wollte er ab und zu ein Pfund Thee kaufen. Seine Gutmüthigkeit freute sich schon im voraus darauf, wie er ihr den Thee hinbringen und sie sich freuen würde, wenn sie hörte, es sei vom besten schwarzen.
So viel war indeß klar, Onkel Deane war freundlich gestimmt gegen die Familie. Eines Tages hatte er sogar Lucien mitgebracht, die in den Weihnachtsferien zu Hause war, und der kleine blonde Engelskopf war dem dunkeln Gretchen mit vielen Küssen und einigen Thränen um den Hals gefallen. So hübsche schlanke Töchter erhalten in dem Herzen manches achtungswerthen Geschäftsmannes eine zartfühlende Stelle, und vielleicht hatte Luciens Besorgniß und Mitleid für ihre armen Verwandten dazu beigetragen, daß Onkel Deane sich beeilt hatte, für Tom eine kleine Stelle im Packhause zu ermitteln und ihm des Abends Unterricht im Buchführen und Rechnen geben zu lassen.
Wohl hatte das Tom aufgeheitert und seine Hoffnung etwas belebt, aber leider traf ihn um dieselbe Zeit der lange befürchtete Schlag, daß sein Vater doch schließlich Bankrott machen mußte; wenigstens mußte mit den Gläubigern akkordirt werden, und das war für Tom's Empfindung genau dasselbe wie Bankrott. Sein Vater, würde es heißen, habe nicht nur sein Vermögen verloren, sondern »sei um die Ecke gegangen«, und das war in Tom's Augen der größte Schimpf. Denn nachdem dem Verklagten seine Kosten ersetzt waren, blieb noch immer die freundliche Rechnung des Sachwalters Gore, die Schuld bei der Bank und noch mehrere Schulden der Art, und dazu standen die Aktiva in einem traurigen Mißverhältniß; »höchstens funfzig bis fünfundfunfzig Prozent würden herauskommen«, sagte Onkel Deane mit Bestimmtheit vorher, und diese Worte trafen Tom wie kochendes Wasser und ließen eine unverlöschliche Narbe.
Wohl hatte der arme Junge bei den Unannehmlichkeiten seiner neuen Lage eine Aufheiterung bitter nöthig; aus der behaglichen wohlhäbigen Langeweile seiner Arbeitsstunden in der Pension und dem geschäftigen Müssiggang eines letzten Semesters in der Schule fand er sich plötzlich in die Gesellschaft von Säcken und Häuten versetzt, und ungeschlachte Kerls donnerten schwere Lasten an ihm nieder.
Sein erster Schritt in die Welt war eine kalte, staubige und lärmende Geschichte, und er mußte dabei Nachmittags ohne seinen Thee nach der Stadt zurück und des Abends bei einem einarmigen alten Kommis in einer Stube, die stark nach schlechtem Taback roch, Stunde nehmen. In seinem frischen Gesichte von Milch und Blut waren die Farben schlimm verblaßt, wenn er wieder nach Haus kam und tüchtig ausgehungert sich zum Abendbrod setzte. Kein Wunder, daß er dann ein bischen verdrießlich war, wenn die Mutter oder Gretchen mit ihm sprach.
Aber all die Zeit brütete Frau Tulliver über einem Plan, durch welchen sie und sonst keiner das schlimmste abwenden und Wakem abhalten wolle, auf die Mühle zu bieten. Man denke sich, eine sehr achtbare und liebenswürdige Henne komme durch eine seltsame Laune der Natur auf den Einfall, sich wohlüberlegte Pläne auszuhecken, wie sie wohl den dicken Pachter Hans dahin brächte, ihr nicht den Kopf abzureißen, noch auch sie mit ihren Küken auf dem Markte zu verkaufen: was käme dabei wohl anders heraus als viel Gegacker und Geflatter? Frau Tulliver sah, daß alles um sie her schief ging, und kam plötzlich auf den Gedanken, sie sei in ihrem Leben zu passiv gewesen, und wenn sie sich der Geschäfte angenommen und ab und zu einen tapfern Entschluß gefaßt hätte, so stände es wohl besser um sie und ihre Familie. Es fiel ihr auf, daß noch keiner daran gedacht habe, mit Wakem selbst wegen der Mühle zu sprechen, und doch schien ihr das der allerkürzeste Weg zu dem rechten Ziele. Freilich, daß ihr Mann hinginge, selbst wenn er könnte und wollte, das konnte nichts nutzen; er hatte ja gegen Wakem prozessirt und die letzten zehn Jahre alles mögliche schlechte über ihn gesagt. Wakem mußte also einen bösen Haß auf ihn haben. Da nun Frau Tulliver einmal zu dem Schluß gekommen war, es sei doch sehr unrecht von ihrem Mann, sie in solche Noth zu bringen, so war sie auch geneigt anzunehmen, er habe von Wakem nicht die rechte Meinung. Zwar hatte Wakem ihnen den Exekutor in's Haus gesetzt und sie auspfänden lassen, aber das, meinte sie, habe er wohl dem Gläubiger zu Gefallen gethan, der ihrem Manne das Geld geliehen hatte; so'n Advokat mußte ja vielen Leuten gefällig sein, und auf Tulliver, der mit ihm einen Prozeß angefangen, konnte er doch nicht gut Rücksicht nehmen. Ueberhaupt, der Advokat war vielleicht ein ganz vernünftiger Mensch, warum sollte er auch nicht? Er hatte eine Fräulein Clint geheirathet, und um die Zeit, wo Frau Tulliver von der Partie gehört hatte – es war grade den Sommer, wo sie ihren blauseidnen Spencer trug – und noch garnicht an ihren nachherigen Mann dachte, da wußte sie nichts böses von Wakem. Und gegen sie selbst – er wußte ja, daß sie eine geborne Dodson sei – konnte er doch unmöglich anders als freundlich gesinnt sein, sobald sie ihm auseinandersetzte, daß sie ihrerseits immer gegen den Prozeß gewesen und jetzt durchaus geneigt sei, in allen Stücken viel eher Wakem's Rath zu befolgen, als den ihres Mannes. Ja, wenn eine so achtbare und würdige Frau wie sie dem Advokaten gute Worte gäbe, warum sollte er da nicht auf ihre Vorstellungen hören? Denn sie wollte ihm alles so klar auseinandersetzen, wie es bisher noch niemand gethan. Und dann ginge er gewiß nicht hin und böte auf die Mühle, um sie zu kränken – sie, so 'ne unschuldige Frau, die noch dazu in ihrer Jugend sehr wahrscheinlich mit ihm auf den Grafschaftsbällen getanzt hatte, denn auf diesen großen Bällen habe sie oft genug mit jungen Herrn getanzt, deren Namen ihr nachher entfallen waren.
Alle diese Erwägungen verbarg Frau Tulliver still im Herzen; denn als sie mal gegen ihre Schwäger Deane und Glegg fallen ließ, es komme ihr garnicht darauf an, selbst zu Wakem hinzugehen und mit ihm zu sprechen, da hatten sie geantwortet: »nein, nein, nein«, und »pah, pah«, und »laß Wakem in Ruhe«, und zwar in einem Tone, der deutlich verrieth, sie würden eine genauere Darlegung des feinen Planes garnicht zu würdigen wissen. Gegen Tom und Gretchen wagte sie noch weniger zu äußern, was sie vorhatte; ihre Kinder widersprachen immer, was sie auch sagen mochte, und Tom, hatte sie bemerkt, war gegen Wakem fast eben so eingenommen wie ihr Mann. Aber diese ungewöhnliche geistige Sammlung gab der guten Frau natürlich eine ungewöhnliche Verschlagenheit und Willenskraft, und ein paar Tage vor dem Verkaufstermine, als keine Zeit mehr zu verlieren war, führte sie ihren Plan durch eine Kriegslist aus. Sie gab vor, sie wollte den großen Vorrath von Eingemachtem in der Stadt beim Krämer verkaufen, und als Tom einwarf, sie möchte doch jetzt von dem Eingemachten still sein – er wollte nicht gern, daß sie sich grade in diesen Tagen öffentlich zeigte –, wurde sie über diesen Widerspruch ihres Sohnes wegen des Eingemachten, welches sie nach einem Recept ihrer Großmutter gemacht hatte, die gestorben war, als sie selbst noch in den Kinderschuhen stand, so empfindlich, daß er nachgab und sie auf seinem täglichen Wege in die Stadt bis in die Nähe des Krämers mitnahm; der Krämer wohnte nämlich nahe bei Wakem's Büreau.
Wakem war noch nicht da; Frau Tulliver wurde gebeten, in seinem Privatzimmer zu warten. Sie brauchte nicht lange zu warten; bald erschien der pünktliche Mann und warf rasch mit zusammengezogenen Augenbrauen einen prüfenden Blick auf die dicke blonde Frau, welche aufstand und sich ehrerbietig verneigte. Er war ein ziemlich großer Mann mit einer Adlernase und reichlichem stahlgrauem Haar. Der Leser kennt ihn noch nicht und ist vermuthlich neugierig, ob er denn wirklich ein so ausgemachter Schuft, ein so durchtriebener und bittrer Feind aller ehrlichen Leute im allgemeinen und Tulliver's insbesondere war, wie er in dem Bilde erscheint, welches, wie wir wissen, unser Müller von ihm in der Seele trug.
Der reizbare Tulliver war offenbar sehr geneigt, jeden Schrammschuß für einen Mordversuch zu halten und in dieser argen Welt sich von so künstlichen und feingelegten Fallstricken umgeben zu sehen, zu denen es, seine Vermuthung als richtig vorausgesetzt, einer ganz unermüdlichen teuflischen Betriebsamkeit bedurft hätte. Aber es ist dabei immerhin möglich, daß der Advokat nicht mehr Schuld gegen Tulliver hatte, als eine sinnreiche Maschine, die sehr regelmäßig arbeitet, gegen den Unvorsichtigen hat, der ihr zu nahe kommt, von einem Rade ergriffen und plötzlich zu Brei zermalmt wird.
Indeß läßt sich die Frage durch einen Blick auf sein Äußeres wirklich nicht entscheiden; die Züge des Menschengesichts sind eine Schrift wie jede andre: wer sie lesen will, muß den Schlüssel haben. Wakem's Adlernase, an der Tulliver soviel Anstoß nahm, deutete an sich eben so wenig auf Schurkerei, wie der Schnitt seiner steifen Vatermörder; wenn man aber mal die Schurkerei als erwiesen annahm, dann bekam freilich die Nase sowohl wie die Vatermörder einen ganz verwünschten Sinn.
»Frau Tulliver, wenn mir recht ist?« sagte Wakem.
»Ja, Herr Wakem, geborne Elisabeth Dodson.«
»Bitte, nehmen Sie Platz. Führt Sie ein Geschäft zu mir?«
»Ja, Herr Wakem, jawohl«, sagte Frau Tulliver, die über ihren eigenen Muth zu erschrecken anfing, da sie nun wirklich dem fürchterlichen Manne gegenüber stand, und sich noch garnicht recht überlegt hatte, wie sie die Sache anfassen sollte. Der Advokat steckte die Hände in die Westentaschen und sah sie schweigend an.
»Ich hoffe, Herr Wakem«, begann sie endlich, »ich hoffe, Sie glauben doch nicht, daß ich Ihnen böse bin, weil mein Mann seinen Prozeß verloren hat, und wir die Exekution im Hause gehabt haben, und uns das Leinen verkauft ist und alles – ach, du liebe Zeit! Das ist mir an der Wiege nicht gesungen, und gewiß erinnern Sie sich noch an meinen Vater; er war gut Freund mit unserm reichen Gutsbesitzer, und wir gingen immer auf die Bälle, ich und meine Schwestern; wir waren immer sehr geachtet, und zwar mit Recht, denn wir waren unser viere, und Frau Glegg und Frau Deane sind meine Schwestern, wie Sie wohl wissen werden. Und von dem Prozessiren und um sein Geld kommen und bei Lebzeiten Auktion halten, davon habe ich vor meiner Heirath nichts gewußt, und auch lange nachher noch nicht. Und dafür bin ich doch nicht verantwortlich, daß ich das Unglück habe, und aus meiner eigenen Familie weggeheirathet habe in eine andre, wo es so ganz verschieden hergeht. Und wenn andre Leute Ihnen böses nachsagen und Sie beleidigen, so was hab' ich nie gethan, das kann mir keiner nachsagen.«
Frau Tulliver schüttelte ein wenig den Kopf und betrachtete den Saum ihres Taschentuchs.
»Ich zweifle nicht im mindesten an dem, was Sie sagen, Frau Tulliver«, erwiderte der Advokat mit kühler Höflichkeit. »Aber Sie wollten mich etwas fragen.«
»Ja wohl, Herr Wakem, ja wohl. Da hab' ich mir denn überlegt und habe gesagt, Sie würden doch wohl etwas Gefühl haben, und was meinen Mann angeht, der diese letzten beiden Monate garnicht mehr bei sich gewesen ist, den will ich nicht vertheidigen, durchaus nicht, mit seinem Aerger wegen der Bewässerung – wenn es auch wohl noch schlimmere Menschen in der Welt giebt, denn er hat noch niemand um keinen Heller gebracht, absichtlich gewiß nicht – und daß er so wild gewesen ist auf's Prozessiren, da konnte ich doch nichts für. Und den Schlag hat er gekriegt, und ist gewesen wie auf den Tod, als er in dem Briefe gelesen hat, Sie hätten die Hypothek auf sein Land. Aber ich kann mir nicht anders denken, Sie werden handeln wie ein anständiger Mann.«
»Was soll das alles bedeuten, Frau Tulliver?« fragte Wakem ein wenig gereizt; »was wollen Sie eigentlich von mir?«
»O, Herr Wakem, wenn Sie doch so gut sein wollten«, sagte Frau Tulliver, die allmälich in Zug kam, – »wenn Sie so gut sein wollten und die Mühle und die Ländereien nicht kaufen; auf die Ländereien käme es wohl nicht so an, blos mein Mann würde wie toll, wenn sie in Ihre Hände kämen.«
Wie ein Blitz zuckte es über des Advokaten Gesicht, als er sagte: »Wer sagt Ihnen denn, daß ich sie kaufen will?«
»Ich hab's mir nicht selbst ausgedacht, das können Sie glauben, und wäre auch wohl nie darauf gekommen, denn mein Mann, der doch mit dem Gesetz wohl Bescheid weiß, der sagte immer, Advokaten brauchten nichts zu kaufen, keine Ländereien und keine Häuser; sie kriegten sie schon auf andere Weise. Und ich sollte denken, das wäre auch bei Ihnen so, und ich habe nie gesagt, daß Sie's anders machen würden.«
»Gut, gut, aber wer hat's denn gesagt?« fragte Wakem, indem er seinen Schreibtisch öffnete und in den Papieren herumkramte und ganz leise, leise dazu pfiff.
»Wer das gesagt hat, Herr Wakem? Schwager Glegg hat's gesagt und Schwager Deane, die führen jetzt meines Mannes Geschäfte, und Schwager Deane meint, Guest und Comp. würden wohl die Mühle kaufen und meinen Mann zum Geschäftsführer nehmen, wenn Sie nicht auch darauf böten und den Preis in die Höhe trieben. Und es wär'n rechtes Glück für meinen Mann, wenn er in unserm Hause bleiben könnte und sich da sein Brod verdienen; sein Vater hat schon drin gewohnt in der Mühle, und sein Großvater hat sie gebaut, obschon ich für meine Person, ich konnte den Lärm nicht vertragen, als ich zuerst hinein kam, denn in unsrer Familie hat's keine Mühle gegeben, bei den Dodsons, und hätt' ich gewußt, daß die Mühlen soviel mit den Gerichten zu thun haben, da wär' ich gewiß nicht die erste Dodson gewesen, die eine heirathete, aber ich bin blindlings hineingegangen, ganz blindlings, in die Bewässerung und alles.«
»Was? Guest und Comp. wollen die Mühle kaufen und Ihren Mann in Dienst nehmen?«
»Ach Du liebe Zeit, Herr«, sagte die arme Frau Tulliver, und ein paar kleine Tropfen liefen ihr über die Wange, »es ist ein schrecklicher Gedanke, daß mein Mann bei andern Leuten in Dienst treten soll. Aber er bleibt doch mehr bei seiner alten Gewohnheit, wenn er in der Mühle wohnt, als wenn er anderswohin muß, und bedenken Sie doch nur, wenn Sie auf die Mühle bieten und sie kaufen, dann kriegt mein Mann vielleicht noch einen schlimmeren Schlaganfall wie neulich, und kommt nie wieder durch.«
»Aber wenn ich nun die Mühle kaufte und Ihren Mann als Geschäftsführer annähme, wie dann?« fragte Wakem.
»O Herr Advokat, ich fürchte, das thut er nun und nimmer, und wenn der Mühlstein stehen bliebe und ihn drum bäte und flehte. Denn Ihr Name ist für ihn wahres Gift, sowas kann man sich garnicht denken, und in seinen Augen sind Sie es allein, der uns ruinirt hat, schon von der Zeit her, wo Sie ihm den Prozeß wegen der Wegegerechtigkeit angestiftet haben – das sind jetzt acht Jahre her, und seitdem ist er immer wild auf Sie gewesen, wenn er auch kein Recht dazu hatte, wie ich ihm immer gesagt habe …«
»Er ist ein rechter Trotzkopf und hat eine schändlich böse Zunge!« fuhr Wakem sich selbst vergessend heraus.
»Du lieber Himmel, Herr Wakem«, rief Frau Tulliver ganz entsetzt über einen solchen Ausgang, der ihrer Erwartung so durchaus nicht entsprach; »ich möchte Ihnen nicht widersprechen, aber vielleicht hat er seinen Sinn in der Krankheit geändert; er hat so vieles vergessen, wovon er sonst gern sprach. Und Sie haben doch auch nicht gern eine Leiche auf dem Gewissen, wenn er sterben sollte, und die Leute sagen auch, es gäbe immer Unglück, wenn die rothe Mühle in fremde Hände übergeht, und das Wasser könnte mal ausbleiben, und dann … nicht als ob ich Ihnen Unglück wünschte, Herr Wakem; ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, ich weiß noch recht gut als Sie Hochzeit machten, es ist mir grade wie gestern – Ihre verstorbene Frau war ein Fräulein Clint, das weiß ich noch recht gut – und mein Junge, es giebt nicht leicht einen netteren hübscheren Jungen, der ist mit Ihrem Herrn Sohn in die Schule gegangen …«
Der Advokat stand auf, öffnete die Thür und rief einen seiner Schreiber. »Sie müssen mich entschuldigen, Frau Tulliver; ich habe Geschäfte zu besorgen, und alles nöthige haben wir ja wohl besprochen.«
»Aber wenn Sie sich's nur überlegen wollten, Herr Wakem«, sagte Frau Tulliver, indem sie aufstand, »und mich und meine Kinder nicht in's Unglück brächten; ich läugne ja nicht, daß mein Mann Unrecht gehabt hat, aber er ist schon bestraft genug, und der schlimmste ist er noch lange nicht, er hat's an andre Leute weggegeben, das war sein Unglück, und keinem hat er was zu nahe gethan, blos sich selbst und seiner Familie, und jetzt muß ich jeden Tag hingehen und die leeren Börte ansehen, wo meine Sachen früher gestanden haben.«
»Gewiß, gewiß, ich will's nicht vergessen«, erwiderte Wakem eilig und blickte nach der offenen Thür.
»Und dann möcht' ich noch bitten, daß Sie doch so freundlich wären und nichts davon sagten, daß ich hier gewesen bin, denn mein Sohn würde recht böse mit mir sein, daß ich mich so erniedrigt habe, ja gewiß, das wird er, und ich habe schon so Noth genug und brauche mich nicht noch von meinen Kindern ausschelten zu lassen.«
Der armen Frau bebte die Stimme ein wenig, als sie das sagte, und sie konnte den guten Morgen des Advokaten nicht erwidern, sondern ging mit einer stummen Verbeugung hinaus.
»Wann wird die rothe Mühle verkauft? Wo ist die Anzeige?« fragte Wakem seinen Schreiber, sobald sie allein waren.
»Nächsten Freitag ist der Termin; Freitag um sechs Uhr.«
»O, gehen Sie rasch zu dem Auktionator; ich hab' einen Auftrag für ihn; er soll gleich herkommen.«
Als Wakem am Morgen auf's Bureau gekommen war, hatte er nicht im entferntesten daran gedacht, die rothe Mühle zu kaufen, aber jetzt war er fest dazu entschlossen; Frau Tulliver hatte ihm mehrere entscheidende Gründe an die Hand gegeben, und er war ein Mann von raschem Ueberblick, einer von denen, die schnell sind, ohne vorschnell zu sein, weil sie nach einmal feststehenden Gründen handeln und keine widerstreitenden Absichten auszugleichen haben.
Wenn jemand annähme, Wakem hätte denselben eingewurzelten Haß gegen Tulliver gehabt, wie Tulliver gegen ihn, so hieße das annehmen, ein Hecht und ein Karpfen sähen einander von demselben Gesichtspunkte an. Dem Karpfen ist natürlich die Art, wie der Hecht sich ernährt, ein wahrer Gräuel, und der Hecht denkt wahrscheinlich über den aufgebrachtesten Karpfen weiter nichts als daß er gut zu essen ist; höchstens wenn er an dem Karpfen erstickte, würde der Hecht einen persönlichen Groll empfinden. In ähnlicher Weise würde auch der Advokat, wenn ihn Tulliver jemals ernstlich beleidigt oder im Geschäft gekreuzt hätte, ihm nicht die Auszeichnung seines besonderen persönlichen Hasses versagt haben. Aber wenn Tulliver an Markttagen den Advokaten einen Schelm nannte, so ließen sich seine Clienten dadurch nicht im mindesten bestimmen, ihm ihre Kundschaft zu entziehen, und wenn zufällig der Advokat selbst da war und irgend ein lustiger Landwirth, von der günstigen Gelegenheit und dem Branntwein hingerissen, einen Ausfall auf ihn machte und auf Erbschaften von alten Weibern anspielte, so blieb er vollkommen kaltblütig, weil er recht gut wußte, daß die Anwesenden sich trotzdem bei der Thatsache beruhigten, Wakem sei Wakem, das heißt nämlich ein Mann, der immer die Steine sah oder fand, auf die man selbst im tiefsten Schmutz sicher treten konnte. Er hatte sich ein tüchtiges Vermögen gemacht, besaß ein hübsches Landhaus am Flusse, hatte entschieden den besten Portwein in der ganzen Gegend, – so'n Mann durfte sich der öffentlichen Meinung gewachsen fühlen. Auch bin ich nicht ganz sicher, daß selbst der brave Tulliver mit seinen Hahnenkampf-Anschauungen von Prozessen nicht unter umgekehrten Verhältnissen ebenfalls die Wahrheit sehr passend gefunden hätte, Wakem sei Wakem; wie mich genaue Kenner der Geschichte versichern, sind ja die Menschen nicht geneigt, es mit dem Charakter großer Sieger zu genau zu nehmen, wenn nämlich der Sieg auf der rechten Seite ist. Tulliver war also Wakem nicht im mindesten im Wege; im Gegentheil, er war ein armer Teufel, den der Advokat schon oft geschlagen hatte, ein heißblütiger Kerl, der einem immer eine schwache Seite zum Angriff bot. Wenn der Advokat dem Müller dann und wann einen Streich gespielt hatte, so quälte das sein Gewissen nicht; warum sollte er den unglücklichen Händelsucher hassen, den bejammernswerthen wüthenden Stier, der sich in den Maschen seines eigenen Netzes verstrickt hatte?!
Indeß, unter den verschiedenen Gebrechen, denen die menschliche Natur unterworfen ist, hat man noch niemals die Schwäche aufgeführt, daß wir die Leute gar zu lieb hätten, die uns offen schmähen. Ein siegreicher Kandidat von der gelben Partei fühlt vielleicht keinen brennenden verzehrenden Haß gegen den Zeitungsredakteur von der blauen Partei, der seine Leser mit bittern Ausfällen gegen die Gelben tröstet, die ihr Land verriethen und verkauften und im Privatleben wahre Teufel seien, aber er würde doch schwerlich bedauern, wenn es sich mal so machte, daß er den blauen Zeitungsredakteur noch etwas tiefer blau färben könnte. Gut situirte Leute nehmen ab und zu ein bischen Rache, rein zur Abwechslung, wenn sie ihnen grad gelegen kommt und »das Geschäft« nicht stört, und solche kleine leidenschaftslose Rachegelüste haben im Leben eine ungeheure Wirkung, indem sie alle Grade angenehmer Bestrafung durchlaufen, die besten Männer aus ihren Stellen drängen und die edelsten Charaktere in leichtem unüberlegten Geschwätz anschwärzen. Und vollends, wenn wir Leute, die uns nur unbedeutend verletzt haben, ohne besondere Anstrengung von unserer Seite herunterkommen und in's Elend gerathen sehen, so macht das leicht einen angenehmen und erfreulichen Eindruck auf uns; wir finden dann, die Vorsehung oder sonst eine Großmacht auf dieser Welt habe es über sich genommen, für uns Vergeltung zu üben, und wirklich, durch eine angenehme Fügung – wir wissen nicht recht, wie's kommt, aber unsern Feinden geht's schlecht.
Auch Wakem empfand diese gelegentliche Rachsucht gegen den unfreundlichen Müller, und nun Frau Tulliver ihm den Gedanken in den Kopf gesetzt hatte, schien es ihm ein wahres Vergnügen, grade das zu thun, was seinem Gegner die tödtlichste Kränkung sein würde, und zwar kein so simples Vergnügen, welches aus reiner Bosheit bestand, sondern noch den angenehmen Beigeschmack einer guten Handlung hatte. Einen Feind gedemüthigt zu sehen, gewährt eine gewisse Befriedigung, aber sie ist schaal und nüchtern gegen die hohe Freude, ihn durch Wohlwollen und Gunstbezeugung zu demüthigen. Diese Art Rache fällt halb in die Schale der Tugend hinüber, und Wakem war durchaus gewillt, diese immer anständig voll zu halten. Einst hatte er die Freude erlebt, einen alten Gegner in einem Armenhause der Stadt unterzubringen, zu welchem er einen großen Beitrag gab, und jetzt fand er Gelegenheit, einen andern Gegner damit zu versorgen, daß er ihn in seinen eigenen Dienst nahm. So etwas macht das Glück vollkommen und giebt dem Menschen ein so behagliches Bewußtsein, wie es jene kurzsichtige heiße Rachsucht sich nicht träumen läßt, die über ihr Ziel hinausschießt und sich selbst den Kopf einrennt. Auch gab Tulliver, wenn ihm seine rauhe Zunge erst durch das Gefühl der Verpflichtung etwas abgeschliffen wurde, gewiß einen bessern Geschäftsführer ab als so ein beliebiger Müller, der freudig jede Stelle angenommen hätte. Tulliver war als ein streng rechtlicher Mann bekannt, und Wakem hatte zuviel Scharfsinn, um nicht an Ehrlichkeit zu glauben. Er liebte es, die einzelnen Menschen zu beobachten, nicht nach allgemeinen Grundsätzen über alle abzuurtheilen, und niemand wußte besser als er, nicht alle Menschen seien wie er selbst. Ueberdies beabsichtigte er, die Bewirthschaftung der Ländereien und den Mühlenbetrieb sehr genau zu überwachen; so ein bischen Landwirthschaft machte ihm Freude. Aber auch abgesehen von jeder freundlichen Rache gegen den Müller hatte er seine guten Gründe, die rothe Mühle zu kaufen. Es war wirklich ein vorzügliches Geschäft, und Guest und Comp. wollten ja auch darauf bieten. Guest und Wakem standen soweit auf freundschaftlichem Fuße, daß sie sich gegenseitig zu Tisch luden, und der Advokat behauptete gern eine gewisse Ueberlegenheit über den Rheder und Mühlenbesitzer, der in städtischen Angelegenheiten und bei Tisch etwas vorlaut war. Wakem war nämlich kein bloßer Geschäftsmann; er galt in den höheren Kreisen der Stadt für einen angenehmen Gesellschafter, wußte beim Nachtisch gut zu unterhalten, trieb aus Liebhaberei etwas Garten- und Landwirthschaft und war unstreitig ein vortrefflicher Gatte und Vater; in der Kirche war hinter seinem Platze an der Wand das schönste marmorne Grabmal, zum ehrenden Gedächtniß seiner Frau. Die meisten Männer in seinen Verhältnissen hätten wieder geheirathet, aber es hieß, er habe für seinen verwachsenen Sohn eine zärtlichere Liebe als die meisten Leute für ihre noch so gut gewachsenen Kinder. Philipp war aber nicht sein einziger Sohn; er hatte noch andre, die etwas im Dunkeln lebten, und er sorgte für sie in gemessenem Verhältniß nach dem Abstande ihrer Geburt. In diesem Umstande lag für ihn der entscheidende Grund, die rothe Mühle zu kaufen. Während Frau Tulliver sprach, hatte er mit rascher Berechnung überlegt, in wenigen Jahren würde die Mühle eine vortreffliche Versorgung für einen Lieblingssohn zweiten Ranges abgeben, den er in der Welt gern etwas weiter bringen wollte als die andern.
So sah es im Innern des Mannes aus, den Frau Tulliver durch freundliches Zureden zu überreden gehofft hatte. Natürlich hatte ihr das mißlingen müssen. Denn nach der scharfsinnigen Bemerkung eines feinen Beobachters gelingt den Anglern die Bereitung eines verlockenden Köders oft deshalb so schlecht, weil sie mit der Individualität des betreffenden Fisches nicht gehörig vertraut sind.