Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch.
Der Sturz

Erster Abschnitt.
Was zu Hause vorgefallen war

Als der alte Tulliver zuerst erfahren hatte, er habe den Prozeß verloren und Pivart und Wakem hätten triumphirt, da meinte jeder, der ihn zufällig um die Zeit sah, für einen so siegesgewissen und heißblütigen Mann trüge er den schweren Schlag merkwürdig gut. Er selbst meinte das auch; er redete sich ein, er wolle den Leuten schon zeigen, daß Wakem ihn nicht untergekriegt habe. Zwar der Thatsache, daß die Kosten dieses langen Prozesses mehr betrügen, als er im Vermögen hatte, konnte er sich nicht verschließen; aber er glaubte über allerlei Mittel zu gebieten, durch die er das schlimmste abwehren und namentlich den Schein eines Bankerotts vermeiden könne. Die ganze Hartnäckigkeit und der Trotz seiner Natur, die so eben auf ihrem bisherigen Wege zurückgeschlagen waren, fanden nun einen Ausweg, indem er sofort Pläne machte, um aus seiner schwierigen Lage heraus zu kommen und sich nach wie vor in der Mühle zu behaupten. Und diese Pläne drängten sich in seinem Kopfe so, daß es kein Wunder war, wenn er roth und aufgeregt aussah, als er von der ersten Unterredung mit seinem Advokaten nach Hause ritt. Da war z. B. Nachbar Furley, der die Hypothek auf die Ländereien hatte – ein ganz verständiger Mann; der verstand sich gewiß auf seinen Vortheil, davon war Tulliver überzeugt, und kaufte nicht blos mit Vergnügen die ganze Besitzung mit der Mühle und dem Wohnhause, sondern nahm auch ihn selbst, Tulliver nämlich, als Pachter an und schoß Geld vor, welches dann mit guten Zinsen aus dem Ertrage des Geschäfts zurückbezahlt wurde, nach Abzug natürlich des wenigen, was Tulliver für sich und seine Familie nothwendig brauchte. Ein so vortheilhaftes Geschäft ließ sich doch gewiß keiner entgehen, am wenigsten Furley! Tulliver hatte nämlich entschieden, Furley würde sich beeilen, auf seinen Plan einzugehen, und es giebt Leute genug, denen der Kopf nicht erst durch den Verlust eines Prozesses verzweifelt heiß gemacht zu sein braucht, und die doch geneigt sind zu glauben, ihre eigenen Wünsche seien ein Motiv für andere. So hatte auch Tulliver nicht den mindesten Zweifel, Furley würde genau das thun, was er wünsche, und wenn er es that – nun, dann standen die Sachen doch noch garnicht so schlimm. Tulliver mußte sich dann nur etwas mehr einschränken, und auch das blos so lange, bis Furley's Vorschüsse aus den Erträgen des Geschäfts wieder abbezahlt waren, und das konnte so bald geschehen, daß er nachher immer noch eine gute Reihe von Jahren zu leben hatte. Es war also klar, daß er die Prozeßkosten bezahlen konnte, ohne aus seiner alten Heimath zu scheiden und vor der Welt als ein ruinirter Mann dazustehen. Freilich, bös genug sahen die Sachen aus. Er hatte eine Bürgschaft für den armen Riley übernommen, der im vergangenem April plötzlich gestorben war und seinem Freunde eine Schuld von zweihundertfunfzig Pfund auf dem Halse gelassen hatte; in Folge dessen war seine letzte Abrechnung beim Banquier weniger erfreulich gewesen, als man es in der Weihnachtszeit wünschen mag. Aber mochte es drum sein! Er war nie so ein armseliger Schlucker gewesen, einem Mitmenschen in dieser argen Welt seine helfende Hand zu versagen. Was ihn aber wirklich quälte, war etwas anderes.

Vor einigen Monaten war der Gläubiger, von dem er die fünfhundert Pfund für Tante Glegg geborgt hatte, wegen seines Geldes besorgt geworden – natürlich hatte ihn Wakem aufgehetzt – und Tulliver, der ganz sicher darauf rechnete, den Prozeß zu gewinnen, und bis dahin jene Summe von einem dritten aufzunehmen schlechterdings nicht fertig bringen konnte, hatte ohne weitere Ueberlegung eingewilligt, ihm statt des Schuldscheins eine Verschreibung seiner Möbeln und des sonstigen Inventars auszustellen. Es sei ja eigentlich ganz gleichgültig, hatte er zu sich selbst gesagt; er würde ja das Geld bald abbezahlen, und eine solche Verschreibung habe doch eigentlich nicht mehr zu sagen als jede andere. Aber jetzt zeigten sich ihm die Folgen dieser Verschreibung in einem ganz neuen Lichte, und es fiel ihm ein, daß die Zeit nahe sei, wo die Forderung eingetrieben würde, wenn nicht rasch Zahlung erfolge. Noch vor zwei Monaten hätte er strammweg erklärt, er werde niemals von den Verwandten seiner Frau eine Verpflichtung annehmen, aber jetzt war er ebenso bestimmt der Ansicht, es sei nicht mehr als billig und natürlich, daß seine Frau zu Pullet's ginge und ihnen sage, wie die Sache stände; sie würden Betty's Möbel doch gewiß nicht verkaufen lassen, und wenn Pullet das Geld vorschösse, so könnte er ja dieselbe Sicherheit bekommen wie der andre Gläubiger, so daß am Ende von einem Geschenk oder Gefallen eigentlich kaum die Rede wäre. Für sich selbst würde Tulliver ohnedies von einem so armseligen Menschen nie etwas verlangt haben, aber wenn Betty wollte, dann könne sie es ja thun.

Es sind immer grade die stolzesten und hartnäckigsten Menschen, welche am ersten Gefahr laufen, ihre Stellung zu wechseln und durch eine plötzliche Wendung mit sich in Widerspruch zu gerathen; alles andere wird ihnen leichter, als der einfachen Thatsache in's Auge zu sehen, daß sie gänzlich gescheitert sind und das Leben von vorn anfangen müssen. Und obschon nur ein Müller, war unser Tulliver so stolz und hartnäckig, als wäre er eine sehr vornehme Person gewesen, bei der eine solche Naturanlage zu einer stattlichen, weltberühmten Tragödie geführt hätte, die

»im Königsmantel auf der Bühne prunkt
und dürft'ge Chroniken erhaben macht.«

Der Stolz und Eigensinn von Müllersleuten und andern unbedeutenden Menschen, denen man täglich begegnet, ohne sie zu beachten, hat auch seine Tragödie, aber unbeweint und verborgen geht sie von Geschlecht zu Geschlecht weiter und hinterläßt keine Kunde. Das ist eine Tragödie, wie sie etwa in den Seelenkämpfen junger Menschenkinder liegt, die da hungern und dürsten nach Glück und die nun unter plötzlichen Schicksalsschlägen, unter einer traurigen Häuslichkeit leiden, wo der Tag »in seinem Lauf nicht einen Wunsch erfüllt, nicht einen!«, wo die hoffnungslose Unzufriedenheit abgehärmter, unglücklicher Eltern auf den Kindern lastet wie schwere feuchte Luft, die alle Lebensäußerungen hemmt, – oder eine Tragödie auch, wie sie in einem langsamen oder plötzlichen Tode nach einem Sturm von Leidenschaft liegt, wenn das arme Menschenherz, »dem's just passiret«, auch nur ein Armenbegräbniß findet. Es giebt gewisse Organismen, für die es ein Lebensgesetz ist, am Boden zu haften, – ein Riß und sie gedeihen nie wieder; und so giebt es auch Menschennaturen, für die es ein Lebensgesetz ist, »hervorzuragen vor andern«, – Demüthigung können sie nur so lange ertragen, als sie es fertig bringen, nicht daran zu glauben, und in ihren eigenen Augen noch ihre frühere überlegene Stellung behaupten.

Auch Tulliver sah sich noch in seiner früheren Stellung, als er auf seinem Ritte in die Nähe von St. Ogg kam. Grade vor ihm fuhr die Postkutsche in die Stadt, die aus dem Orte kam, wo seine Tochter in Pension war. Was war es doch, das ihn hinter der Kutsche hertrieb und von dem Sekretär im Büreau einen Brief an Gretchen schreiben ließ, sie solle sofort den nächsten Tag nach Hause kommen? Ihm selbst bebte die Hand zu sehr vor Aufregung, und der Brief sollte gleich morgen früh abgegeben werden. Es war eine mächtige Sehnsucht in ihm, über die er sich selbst keine Rechenschaft geben konnte: er mußte Gretchen bei sich haben – ohne Verzug –, schon am nächsten Tage sollte sie kommen.

Zu Hause, gegen seine Frau, that er, als ob der Verlust des Prozesses kein so großes Unglück sei, und schalt ihren Kummer darüber mit der ärgerlichen Versicherung nieder, es sei gar kein Grund zum Weinen. Ueber die Verschreibung der Möbeln und die Verwendung bei Pullets sagte er ihr noch nichts; er hatte sie nämlich in dieser Beziehung in vollständiger Unwissenheit gelassen, und als es ihr auffiel, daß er ein Inventar aufnehmen ließ, hatte er ihr gesagt, das hänge mit seinem Testament zusammen. Der Besitz einer Frau, die geistig bedeutend unter einem steht, hat wie andre große Vorrechte seine kleinen Unbequemlichkeiten und versetzt einen unter anderm bisweilen in die Nothwendigkeit, ein bischen zu lügen.

Am folgenden Nachmittage war Tulliver wieder zu Pferde, auf dem Wege nach dem Büreau seines Advokaten in St. Ogg; Gore sollte nämlich am Vormittage mit Furley sprechen und ihn über Tulliver's Angelegenheiten ausforschen. Aber schon halbweges begegnete ihm einer von Gore's Schreibern mit einem Briefe; ein plötzliches Geschäft, sagte dieser, habe Gore verhindert, zur bestimmten Stunde mit Tulliver zusammen zu treffen, aber morgen früh um elf Uhr würde er gewiß da sein, und inzwischen schicke er ihm hier brieflich eine wichtige Mittheilung.

Tulliver nahm den Brief, ohne ihn zu öffnen und sagte: »O, dann bestellen Sie Gore, ich würde morgen um halb elf zu ihm kommen«, und damit wandte er sein Pferd.

Dem Schreiber fiel es auf, wie aufgeregt Tulliver die Augen leuchteten; er sah ihm einige Augenblicke nach und ritt dann seines Weges. Einen Brief zu lesen, war für Tulliver nicht die Sache eines Augenblicks; Geschriebenes oder Gedrucktes begriff er nur langsam; er hatte daher den Brief in die Tasche gesteckt, um ihn zu Hause in seinem Lehnstuhl zu öffnen und mit mehr Muße zu lesen. Aber allmälich fiel ihm ein, vielleicht stände etwas darin, was seine Frau noch nicht wissen dürfe, und in diesem Falle sähe sie den Brief besser garnicht. Er hielt sein Pferd an, nahm den Brief hervor und las ihn. Es war nur ein kurzer Brief; die Hauptsache war, daß Gore aus sicherster Quelle wisse, Furley sei in letzter Zeit sehr in Geldverlegenheit gewesen und habe seine Dokumente, darunter Tulliver's Hypothek einem andern übertragen und dieser andre sei – Wakem.

Eine halbe Stunde nachher fand Tulliver's eigener Knecht seinen Herrn besinnungslos am Wege liegen, einen offenen Brief neben ihm und sein Pferd ihn unruhig beriechend. Als Gretchen, in Folge des Briefes von ihrem Vater, den Abend nach Hause kam, war er nicht mehr ohne Besinnung; ungefähr eine Stunde vorher war er zu sich gekommen, hatte mit ungewissem Blick um sich geschaut, etwas von einem Briefe gemurmelt und gleich darauf diese Nachfrage ungeduldig wiederholt. Auf den Rath des Doktor Turnbull hatte man ihm Gore's Brief gebracht und auf's Bett gelegt, und damit schien sich seine Ungeduld zu beruhigen. Eine Zeit lang lag der unglückliche Mann, die Augen auf den Brief gerichtet, als sammle er seine Gedanken. Aber sogleich schien eine neue Erinnerung in ihm aufzutauchen und die andre zu verdrängen; er blickte von dem Briefe nach der Thür, wurde unruhig, als suche er etwas zu sehen, wozu seine Augen zu trübe seien, und sagte: »das kleine Mädel!«

Diese Worte wiederholte er ungeduldig von Zeit zu Zeit, indem er von nichts anderm ein Bewußtsein zu haben schien als von diesem ungestümen Verlangen und kein Zeichen gab, daß er seine Frau oder sonst jemand kenne. Die arme Frau Tulliver, deren schwache Fassungskraft durch diese plötzliche Häufung von Unglück so gut wie vernichtet war, ging immerfort nach dem Thorwege hin und zurück, um zu sehen, ob die Kutsche noch nicht käme, obschon sie wußte, es sei noch nicht so weit.

Aber endlich kam der Wagen und brachte das arme bange Mädchen, nicht mehr die Kleine, außer für das liebende Gedächtniß ihres Vaters.

»O, Mutter, was giebt es denn?« fragte Gretchen mit blassen Lippen, als ihr die Mutter weinend entgegen kam. Daß ihr Vater krank sei, konnte sie sich nicht denken, da er den Brief an sie noch diktirt hatte.

Aber nun kam ihr der Doktor entgegen; ein Arzt ist in einem von Unglück heimgesuchten Hause wie ein guter Engel, und Gretchen lief auf den guten alten Freund, den sie schon kannte, soweit ihr Gedächtniß zurückreichte, mit einem ängstlich forschenden Blicke zu.

»Aengstigen Sie sich nicht so, liebes Kind«, sagte er, indem er sie bei der Hand nahm. »Der Vater hat einen plötzlichen Anfall gehabt und noch nicht ganz das Gedächtniß wieder. Aber er hat nach Ihnen gefragt und es wird ihm gut sein, wenn er Sie sieht. Halten Sie sich so ruhig wie möglich; legen Sie Ihre Sachen ab und kommen Sie mit mir nach oben.«

Gretchen gehorchte unter dem furchtbaren Schlagen des Herzens, bei dem das Leben nur ein schmerzliches Pulsiren scheint. Grade die Ruhe, mit der Turnbull sprach, erschreckte ihre lebhafte Einbildungskraft. Noch immer hielt ihr Vater die Augen unruhig auf die Thür geheftet, als sie eintrat und dem fremdartigen, tief sehnsüchtigen, hülflosen Blick begegnete, der sie vergebens gesucht hatte. Mit einer rasch aufflammenden Bewegung richtete er sich im Bette empor; sie stürzte auf ihn zu und umschlang ihn mit krampfhaften Küssen.

Das arme Kind! So früh schon sollte sie einen der höchsten Augenblicke erleben, wo alles, was wir gehofft haben oder was uns entzückt hat, alles was wir fürchten oder dulden können, als nichtssagend verschwindet und wie eine unbedeutende Erinnerung in der einfachen angebornen Liebe sich verliert, welche uns an die Wesen knüpft, die uns in Zeiten der Hülflosigkeit oder des Jammers am nächsten gewesen sind.

Aber dies Wiedersehen war zu viel für ihres Vaters geschwächte Kraft. Er versank wieder in erneuerte Besinnungslosigkeit und Starrheit, die viele Stunden dauerte und nur durch ein leises Aufflackern seines Bewußtseins unterbrochen wurde, wo er denn alles, was man ihm gab, ruhig hinnahm und an Gretchen's Nähe eine Art kindlicher Freude zu haben schien – eine Freude, wie sie etwa ein Kind hat, wenn es die Amme wieder auf den Schooß nimmt.

Frau Tulliver schickte nach ihren Schwestern, und als die Verwandten kamen, gab es unten in der Wohnstube viel Jammern und Händeringen; Onkel und Tanten sahen ein, Betty und ihre Familie seien so gründlich ruinirt, wie sie immer prophezeit hätten, und ein allgemeines Gefühl ging durch die Familie, über Tulliver sei ein Gericht ergangen, gegen welches zu milde zu sein gottlos wäre. Aber Gretchen hörte davon nur wenig; sie wich kaum von des Vaters Bett, wo sie ihm gegenüber saß und ihre Hand auf der seinigen hielt. Frau Tulliver wollte auch Tom nach Hause holen lassen und schien mehr an ihren Sohn zu denken als an ihren Mann, aber die Onkel und Tanten wollten es nicht zugeben; da nach Versicherung des Doktors keine unmittelbare Gefahr vorhanden sei, so bliebe Tom besser in der Schule, meinten sie. Aber am Ende des zweiten Tages, als Gretchen sich mehr an ihres Vaters Anfälle von Besinnungslosigkeit gewöhnt hatte und schon zu hoffen anfing, er werde sich ganz davon erholen, wurde der Gedanke an Tom auch bei ihr sehr mächtig, und als die Mutter des Nachts saß und weinte: »Mein armer Junge! es wäre doch nicht mehr als billig, wenn er auch nach Hause käme«, – da sagte Gretchen: »laß mich zu ihm und ihn holen, Mutter; morgen früh, wenn Vater mich nicht kennt und nicht nach mir verlangt, will ich hin. Es wäre so hart für Tom, wenn er nach Hause käme und noch von nichts wüßte.«

Und am andern Morgen, wie wir wissen, holte Gretchen ihren Bruder. Auf der Rückfahrt nach Haus unterhielten sich Bruder und Schwester in wehmüthigem, abgebrochenem Geflüster.

»Die Leute sagen, Wakem hätte eine Hypothek auf unser Land«, sagte Gretchen. »Von dem Briefe mit dieser Nachricht soll Vater so krank geworden sein.«

»Ich glaube, der Schurke hat es förmlich drauf angelegt, Vater zu ruiniren«, sagte Tom, indem er von den unbestimmtesten Eindrücken zu einem bestimmten Schlusse übersprang. »Aber er soll's fühlen, wenn ich erst ein Mann bin. Daß Du nie wieder mit Philipp sprichst – hörst Du?«

»O, Tom!« erwiderte Gretchen im Tone wehmüthiger Abwehr, aber sie hatte keinen Muth über irgend etwas zu streiten, geschweige denn, Tom durch Widerspruch zu ärgern.


 << zurück weiter >>